Gewalt an Silvester: Brennpunkt Berlin

Nach den Silvester-Krawallen spricht ganz Deutschland mal wieder über Neukölln. Was sagen die Menschen im Kiez?

Straße mit ausgebranntem Bus, darüber Rußspuren an einem Wohnhaus

Hotspot: Ein an Silvester ausgebrannter Bus in der High-Deck-Siedlung in Berlin-Neukölln Foto: Markus Schreiber/ap

BERLIN taz | Seit Silvester steht ein ausgebrannter Reisebus in Neukölln. Dach, Heck und Stühle sind verkohlt, ein rot-weißes Absperrband ist um das Gerippe des Buses gewickelt. Über der Straße steht ein Wohnhaus, die Fassade ist schwarz vor Ruß. Eine Papiermülltonne wurde abgefackelt, es riecht nach geschmolzenem Plastik. Zwei Tage nach Silvester katert Neukölln immer noch aus.

Am ausgebrannten Bus bleiben immer noch Pas­san­t:in­nen und Rad­fah­re­r:in­nen stehen, um Fotos zu knipsen. Ein Mann filmt mit Selfie-Stick das verkohlte Innere des Buses. Ein Fernsehteam ist auch da. Die Republik redet über Neukölln – mal wieder. Weil auch hier an Silvester Po­li­zis­t:in­nen und Feuerwehrleute angegriffen wurden. Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) kündigte einen Gipfel gegen ­Jugendgewalt an, CDU-Chef Friedrich Merz bezeichnete Berlin im Münchner Merkur als „Chaos-Stadt“. Es geht um Schreckschusspistolen und Böller, aber auch um Gewalt und Migration.

Uwe Feindt arbeitet im Nachbarschaftstreff „Mittendrin“, nur ein paar Meter vom verbrannten Reisebus entfernt. Ihn nervt das einseitige Bild. „Mit den Leuten, die hier wohnen, habe ich einen sehr freundlichen Umgang.“ In seinem engen Büro stapelt sich Papier, er kramt nach einem Flyer. Im Flachbau organisiert der Nachbarschaftstreff Teestunden, Kochkurse, Bingo-Abende und Mieterberatungen.

„Wir versuchen für die Leute das Beste rauszuholen. Ob es Deutsche, Araber, Türken oder Griechen sind, sollte egal sein. Wir leben in einer Großstadt.“ Ihn stört die Vorverurteilung, man wisse noch viel zu wenig über die Silvesternacht. Seit einem halben Jahr ist er jetzt hier, düst mit seinem grünen Renault zur Arbeit. „Der wurde in Tempelhof und in Pankow zerkratzt, hier nicht.“

Wie im Bürgerkrieg

Rund 330.000 Menschen wohnen in Neukölln, knapp die Hälfte hat Migrationshintergrund – die Be­woh­ne­r:in­nen stammen aus 155 Ländern. Neukölln kennt man nicht nur in Berlin: der Kiez, wo 4-Blocks gedreht wurde; der Kiez, über den alle immer reden, wenn es um Kriminalität und Ausländer geht. Jetzt also Silvester. Nach Angaben der Polizei wurden in der Silvesternacht in ganz Berlin 145 Menschen festgenommen, 45 Deutsche, 27 Afghanen, 21 Syrer.

Silvester sei viel schlimmer gewesen als in den letzten Jahren, erzählt eine Anwohnerin. Sie sei deshalb in ihrer Wohnung geblieben. Die 56-jährige Frau trägt ein schwarz-lila Kopftuch und zieht einen Einkaufstrolley hinter sich her. Sie stammt aus dem Libanon und lebt seit 1991 in Deutschland, erzählt sie. In der Silvesternacht musste sie an den libanesischen Bürgerkrieg 1990 denken. Sie hatte Angst. „Bis fünf Uhr. Bum, bum, bum.“ Vielen Menschen, glaubt sie, fehlt der Respekt vor der Polizei.

Seit 12 Jahren wohnt sie in Neukölln. Während des Gesprächs winkt sie einer Nachbarin. Man kennt sich hier in der „High-Deck-Siedlung“, einem Komplex aus mehreren Gebäuden im Osten von Neukölln. Aber viele der Menschen, die in der Silvesternacht hier waren, hat sie noch nie gesehen. Sie glaubt, sie seien ­extra zum Feiern gekommen. Der ganze Boden ist mit leeren Schreckschusspatronen übersät. Auch zwei Tage nach Silvester knallt immer wieder ein Böller in der Siedlung. Der Hall verliert sich zwischen den Häusern. Die Siedlung wurde in den 70ern und 80ern gebaut. Sozia­ler Wohnungsbau. Hier leben rund 8.000 Menschen. Hochgelagerte Pflasterwege durchziehen die Siedlung – daher der Name. Brücken, Treppen und Rampen verbinden die Straßen mit diesen Fußgängerwegen und den gelblich-weißen Häusern.

„Wenn man sich hier nicht auskennt, ist es wie ein Labyrinth“, sagt Enes Erol. Der 27-Jährige ist in der High-Deck-Siedlung groß geworden. „Man kann relativ schnell abhauen von der Polizei.“ Erol hat Wirtschaftsingenieurwesen studiert. Er und seine Familie betreiben einen Späti und eine Bäckerei gleich beim High-Deck. Sie sind bekannt für ihre Zimtschnecken.

„Unterste Schublade“

In der Silvesternacht war er auf dem High-Deck. Letztes Jahr wurden hier die Scheiben von einem Imbiss eingeschmissen, erzählt Erol, deshalb sind er und sein Bruder dieses Jahr um Mitternacht in die Bäckerei, haben das Licht angemacht und auf den Laden aufgepasst. „Da war hier Action. Hier sind gut Böller geplatzt. Obwohl ich waschechter Neuköllner bin, hab ich das so noch nie gehört. Ich bin überrascht, dass unsere Scheiben nicht geplatzt sind.“ Böse wirkt Erol dabei nicht. Wie auch? Viele der Jungs kennt er. Halloween und Silvester seien Ausnahmesituationen, aber die Krawalle heißt er nicht gut. Angriffe auf Polizei und Feuerwehr, sagt er, sind „unterste Schublade“.

Er sagt: „Die Leute werden über einen Kamm geschoren. Es gibt genug Leute, die hart schuften, die probieren, sich was Vernünftiges aufzubauen. Und da wird dann gesagt: ‚Die Migranten bauen, auf gut Deutsch, Kacke.‘“ Deshalb spricht er mit Jour­na­­lis­t:in­nen in seiner Bäckerei, Erol bietet Kaffee an. Er will für Neukölln werben. „Wie man’s besser machen kann, weiß ich nicht“, sagt Erol. „Bildung! Das Problem ist, die Jungs besuchen hier oft Oberschulen, da sind die Lehrer überlastet. Dann haben die Schüler so nach zwei Stunden Schluss und dann lungern die halt hier rum und beschäftigen sich selbst.“

An der Bushaltestelle vor Erols Bäckerei steigen kurz vor dem Gespräch drei Jungs aus, schwarze Jacken, schwarze Caps. Am Boden finden sie einen Böller, mit einem Feuerzeug versuchen sie abwechselnd, ihn anzuzünden. Aber der Böller explodiert nicht. Jetzt bleibt es still in Neukölln.

Schon lange vor Silvester ging das mit der Knallerei los, erzählt eine Rentnerin, die im Haus wohnt, vor dem der Bus gebrannt hat. Sie ist gegen das Böllern, auch wegen der Umwelt. „Das muss nicht sein.“ Seit drei Jahren wohnt sie hier, und ihr gefällt’s im Kiez. Die Diskussion über Mi­gran­t:in­nen und Gewalt findet sie unfair. „Ich glaube, man schmeißt alle Migranten in einen Topf. Und das ist nicht richtig.“ An Silvester selbst hat sie nicht viel mitbekommen – sie hat geschlafen.

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