Gesine Schwan über Kevin Kühnert: „Einer der wenigen mit Format“
Die SPD-Größe Gesine Schwan sieht den Juso-Chef inzwischen als den „eigentlichen Strategen“ der Partei. Machtpolitisch agiere Kühnert rücksichtslos.
taz: Frau Schwan, im Gegensatz zu einem Großteil des Parteiestablishments hatten Sie keine Wahlempfehlung zugunsten eines der beiden Duos für den SPD-Vorsitz abgegeben. Verraten Sie uns, wen Sie gewählt haben?
Gesine Schwan: Das verrate ich nicht. Nur so viel: Die Entscheidung ist mir schwergefallen. Ich habe ja aus guten Gründen keine Wahlempfehlung abgegeben. Denn mich haben weder die einen noch die anderen überzeugt.
Meine Skepsis beruht darauf, dass ich weder bei Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken noch bei Olaf Scholz und Klara Geywitz eine plausible Strategie habe erkennen können, wie wir uns wieder einen gemeinsamen Überzeugungskern der Sozialdemokratie erarbeiten können, für den sich vereint streiten lässt. Da braucht man sowohl die Kenntnisse der Tradition als auch ein Verständnis für die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft. Wie begründen wir eigentlich in dieser Welt unsere Grundwerte? Darum muss es gehen.
Das klingt reichlich abstrakt.
Das mag auf den ersten Blick sehr theoretisch-philosophisch abstrakt klingen, ist aber enorm wichtig. Ich glaube, dass die SPD erst dann wieder eine Chance hat, wenn sie sich auf der Höhe der geistigen Debatten unserer Zeit befindet. In den sechziger und siebziger Jahren war sie das. Im Moment ist sie das nicht.
Man kann sich nicht nur mit politischem Handwerk befassen. Es reicht nicht, ein Investitionsprogramm,12 Euro Mindestlohn oder ein besseres Klimapaket zu fordern. Das ist ja alles richtig, aber eben nicht ausreichend. Ich wünsche mir eine Parteiführung, die in der Lage ist, gut argumentierend und mit weitem Horizont zu sagen, wohin sie diese Partei führen will.
76 Jahre, ist Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission. Seit 1972 SPD-Mitglied, nominierte ihre Partei die habilitierte Politikwissenschaftlerin 2004 und 2009 für das Bundespräsidentenamt. Beim Mitgliederentscheid um den SPD-Vorsitz kandidierte sie gemeinsam mit Partei-Vize Ralf Stegner, schied jedoch in der ersten Runde aus.
Das trauen Sie Walter-Borjans und Esken nicht zu?
Das muss sich zeigen. Ihre Wahl war ein Votum gegen ein „Weiter so“, ganz klar. Es ging um ein Zeichen der Erneuerung. Die hat eine Mehrheit der SPD-Mitglieder Olaf Scholz nicht zugetraut. Bei ihm war tatsächlich nicht erkennbar, dass er einen Neuanfang will. Wer meint, immer recht zu haben, der ist nicht fähig, sich auch mal selbstkritisch zu hinterfragen. Dann kann er aber auch nicht eine Partei zusammenführen.
Viele haben gesagt: Wir wissen nicht, ob Walter-Borjans und Esken das bringen. Aber da ist immerhin eine Chance. So deute ich das Ergebnis der Mitgliederbefragung. Da muss dann jetzt aber auch etwas von den beiden kommen.
Von der Bundestagsfraktion über die Bundesminister bis hin zu diversen Ministerpräsidenten hat sich fast das gesamte Führungspersonal der SPD gegen sie ausgesprochen. Welchen Spielraum werden die beiden überhaupt haben?
Ich glaube, dass sie keinen sehr großen Spielraum haben werden. Viel wird von Kevin Kühnert abhängen. Er ist nicht nur der Königsmacher, sondern auch der eigentliche Stratege und die eigentliche Autorität.
Welche Rolle wird Kevin Kühnert künftig spielen?
Das hat sich ja schon in dieser Woche angedeutet. Mit seinen öffentlichen Äußerungen zum Fortbestand der Großen Koalition hat er all jene beruhigt, die in der Groko bleiben wollen. Kühnert galt ja als Wortführer des NoGroko-Lagers. Das war schon sehr geschickt.
Er geht allerdings das Risiko ein, dass er damit die Autorität der designierten Vorsitzenden tendenziell dementiert. Denn ihnen bleibt doch jetzt gar nichts anderes mehr übrig, als seiner Linie zu folgen. Das ist für mich ein Indiz dafür, dass Kühnert derjenige ist, der die eigentliche Autorität im Moment hat. Was selbstverständlich auch heißt, dass er viel Verantwortung auf sich lädt – und zwar für alle in der Partei und nicht nur für den eigenen Flügel. Man muss schauen, wie er damit umgeht.
Haben Sie Zweifel, dass er damit umgehen kann?
Kevin Kühnert ist ein sehr großes politisches Talent. Allerdings habe ich in den vergangenen Monaten dazugelernt, dass er komplexer ist, als ich gedacht habe. Das habe ich vorher nicht so angenommen.
Was meinen Sie damit?
Ich meine das in dem Sinne, dass er auch ohne allzu viel Rücksicht vorgeht, wenn es sich um Macht handelt. Viele finden es ja richtig, dass Politik so sein muss. Ich finde das nicht. Denn es sät Misstrauen, wenn der Eindruck entsteht, dass es nicht in erster Linie um Argumente geht, sondern um Machtstrategien.
Der Spiegel orakelt bereits, Kühnert werde die SPD „schreddern“.
Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Ich halte Kevin Kühnert nicht für einen Schredderer. Er ist nicht destruktiv. Kühnert denkt gut nach und kann auch gut argumentieren. Aber er ist natürlich noch sehr jung. Viele Gebiete der Politik hat er bisher nicht wirklich bearbeiten können. Da wird man einfach sehen müssen, wie er sich entwickelt.
Was erwarten Sie von dem Parteitag am Wochenende?
Parteitage haben immer ihre eigene Dynamik. Gleichwohl ist immer auch viel vorbestimmt und sehr viel unter Kontrolle. Organisieren konnte die SPD ja immer schon gut. Nach meiner Beobachtung sind die Bemühungen groß, dass das auch bei diesem Parteitag der Fall sein wird. Mir scheinen alle Weichen erst mal so gestellt, dass alles glatt geht und es keine problematischen Überraschungen gibt.
Möglich ist, dass es einen Dissens bei den stellvertretenden Vorsitzenden gibt. Da könnten sich manche sagen, ihnen wird es etwas zu viel mit Kevin Kühnert, jetzt sollte er mal wieder ein bisschen leisetreten. Aber ich glaube, dass er es schon schaffen wird. Schließlich lässt sich schwer bestreiten, dass er einer der ganz wenigen ist, die Format haben.
Und was wird aus der Groko?
Ich glaube nicht, dass das Ende der Großen Koalition bevorsteht. Denn das wäre einfach analytisch derzeit sehr unsinnig. Aus meiner Sicht ist das keine Prinzipien-, sondern eine Abwägungsfrage. Ich glaube auch, dass die CDU das momentan nicht will. Die ist ja auch in einem ziemlich desparaten Zustand. Deswegen werden wir wohl erst mal mit dieser Koalition weitermachen.
Aber haben nicht Walter-Borjans und Esken in ihrem innerparteilichen Wahlkampf versprochen, aus der Groko auszusteigen, falls die Union nicht zu weitreichenden Korrekturen bereit ist?
Nun ja, zum einen ist schon während ihres Wahlkampfs deutlich geworden, dass die beiden sich da nicht so ganz einig sind. Zum anderen sind sie in ihren Äußerungen immer vorsichtiger geworden, je näher der Stichwahltermin rückte. Rote Linien aufzustellen ist immer eine Versuchung, aber eine ganz gefährliche. Denn was ist, wenn die Bedingungen nicht erfüllt werden?
Es ist nicht gut, gewählt zu werden und kurz darauf die erste Niederlage zu kassieren. Dass sie das Risiko nicht eingehen wollen, kann ich gut verstehen. Die nun gefundenen Formulierungen im Leitantrag für den Parteitag sind sorgsam gewählt.
Das heißt, es geht doch alles so weiter wie bisher?
Nein, davon gehe ich nicht aus. Für die SPD kommt es nun zum einen darauf an, vernünftige weitere Projekte durchzubekommen. Zum anderen muss sie die Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode nutzen, die Vorstellung von einem sozialdemokratisch geführten progressiven Bündnis diesseits der Union wirkungsmächtig werden zu lassen. Das ist die große Chance, die die neue Parteiführung hat, denn sie ist unabhängig vom Kabinett.
Es geht um eine kluge politische Balance: Distanz von der Regierung, aber gegenseitige Loyalität mit den sozialdemokratischen Kabinettsmitgliedern. Wenn wir nicht umgehend mit der Arbeit beginnen, die SPD wieder auf Vordermann zu bringen, wird es ganz trübe.
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