Georgine Kellermann über Coming-out: „Ich vermisse Georg nicht“
Georgine Kellermann machte Karriere bei der ARD – unter einem Männernamen. Vor zwei Jahren hatte sie ihr öffentliches Coming-out als Frau.
taz am wochenende: Frau Kellermann, vor zwei Jahren haben Sie öffentlich gemacht, dass Sie eine Frau sind. Wie hat sich Ihr Leben seitdem verändert?
Georgine Kellermann: Es ist einfacher geworden. Und viel weniger anstrengend.
Sie haben bis dahin ein Doppelleben geführt: Im Privaten waren Sie out, im Job nicht.
Mir ist die Anstrengung nicht deutlich geworden, während ich das so gelebt habe. Aber in der Rückschau hat mich das wahnsinnig viel Kraft gekostet. Zu Hause habe ich Damensachen getragen, aber rausgegangen bin ich damit ganz, ganz selten. Und wenn, dann immer mit der Sorge: Guckt da jemand, lacht da jemand, wie nehmen die Menschen dich wahr? Eigentlich habe ich mich versteckt.
Sie sind Fernsehjournalistin und haben bei der ARD Karriere gemacht. Wie war es bei der Arbeit?
Da habe ich die männliche Rolle durchgehalten. Aber ich habe zum Beispiel schon seit Jahren keine Herrensachen mehr gekauft. Ich hatte genau einen Anzug, dunkelblau. Und ansonsten hatte ich nur Blusen. Manche Blusen werden wie Hemden geknöpft, dann fällt das nicht so auf. Die Slipper, die ich trug, waren aus der Damenabteilung. Am Ende hatte ich die Pumps sogar bis in die Tiefgarage an, bevor ich ins Studio bin. Ich hatte immer Sorge, dass ich mal vergesse, die auszuziehen.
Wie kam es dazu, dass Sie sich vor zwei Jahren getraut haben, sich zu outen?
63, wurde in Ratingen in Nordrhein-Westfalen geboren. Sie war Korrespondentin für die ARD in Washington und Paris und führte das ARD-Studio in Bonn. Im Juni 2019 übernahm sie die Leitung des WDR-Studios in Essen. Im September 2019 hatte sie ihr Coming-out.
Letztlich war es Zufall. Ich hatte eigentlich den Plan, irgendwann in den Vorruhestand zu gehen. Für den letzten Arbeitstag hatte ich mir ein schwarzes Kostüm gekauft. Das wollte ich tragen, wenn die ganzen Reden gehalten werden, und sagen: Leute, ich habe viele Jahre hier gearbeitet. Ich habe euch eins nicht gesagt. Aber das seht ihr jetzt.
Der große Auftritt.
Ja. Aber dann hatte ich mir zum Geburtstag eine Reise nach San Francisco geschenkt. Teil des Geschenks war, als Georgine über die Golden Gate Brücke zu laufen. Ich finde diese Brücke einfach faszinierend. Ich kam also mit meinen zwei Koffern die Rolltreppe am Düsseldorfer Bahnhof hoch, um zum Flughafen zu fahren, und oben steht eine Kollegin. Ich war sehr feminin gekleidet, Dreivierteljeans, Ballerinas, Fingernägel lackiert. Privat war das weit fortgeschritten. Ich sehe also, wie die Kollegin mich anblinzelt. Und weiß genau, die fragt sich jetzt: Ist das der Kellermann?
Wie haben Sie reagiert?
Ein paar Jahre eher wäre ich in Grund und Boden versunken. In dem Moment bin ich auf sie zugegangen, habe sie begrüßt, und sie sagt: Herr Kellermann, sind Sie das? Ich sage ja. Und sie: Sind Sie verkleidet? Da habe ich gesagt: Nein, ich bin eine Frau. Dann war eine Sekunde Pause, und dann hat sie gesagt: Cool. Und da dachte ich, okay. Jetzt ist es in der Welt, und jetzt machst du es auch.
Was haben Sie gemacht?
Ich bin in den Zug gestiegen und hatte eine Stunde Zeit. Ich hatte keinen Zweifel mehr, dass ich genau das wollte. Ich habe mir eine neue Facebookseite zugelegt und ein schönes Foto von mir vorm Weißen Haus rausgesucht. Der Zug fährt in den Frankfurter Flughafenbahnhof ein, ich drücke auf „Veröffentlichen“ – und dann war es in der Welt. Als ich dann im Flugzeug saß, habe ich beobachtet, wie die ersten Likes kamen, die ersten Kommentare. Und seitdem geht es mir besser.
Seit wann haben Sie das trans Sein im Privaten gelebt?
Das ging in der Schule schon los, ich war eigentlich immer lieber bei den Mädchen. Aber ich wollte nicht ausgeschlossen werden, ich wollte dazugehören. Wir trafen uns immer bei Eduscho. Da war ein Wortführer, dem ich gefallen wollte. Und wie gefällt man als Junge einem Wortführer? Man benimmt sich wie ein Junge. Ich war also laut und habe den Clown gegeben.
Wussten Sie damals überhaupt, was trans ist?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Nein. Es hieß damals eher, dass „Männer zu Frauen“ wurden. Die ganzen Fachwörter, die es heute gibt, waren noch weitgehend der Wissenschaft vorbehalten. Manchmal stand etwas in der Zeitung, wenn jemand diesen Schritt gewagt hatte. Ich habe alle Informationen verschlungen, die ich finden konnte, jede Zeitung gekauft, in der etwas stand. Später war das Internet natürlich ein Segen für Menschen wie mich.
Wusste Ihre Familie Bescheid?
Meine Mutter, ja. Ich habe immer mal ihre Sachen getragen, das hat sie gemerkt. Anfangs war ihr das nicht recht, später hat sie mich um meine Beine beneidet. Auch meine Geschwister wussten früh Bescheid. Aber das ist nicht thematisiert worden, das war halt so. Nur mein Vater wollte das alles überhaupt nicht.
Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?
Später, ja. Er hatte Geburtstag, wir sind essen gegangen, zu zweit, schön am Rhein. Da habe ich ihm das erzählt.
Wissen Sie noch, was Sie gesagt haben?
Nein. Ich habe vielleicht etwas vorgefühlt, wie weit ich gehen kann. Und er: Das habe ich mir gedacht. Die Mutter mache immer so komische Andeutungen. Damit war das Gespräch darüber auch beendet. Er hat mich dann mal besucht. Einen Rock habe ich nicht angezogen, aber Jeans und Damenschuhe. Und er: Los, zieh mal die Schuhe aus. Das hat mich richtig traurig gemacht. Ich bin ins Schlafzimmer gegangen, habe mich auf die Bettkante gesetzt und geweint.
Und dann?
Dann habe ich die Schuhe ausgezogen und bin wieder rübergegangen.
Sie haben mal gesagt, Sie wüssten, dass Sie den Menschen in Ihrem Umfeld viel zumuten. Worin besteht die Zumutung?
Ich meine Zumutung gar nicht negativ. Ich mute Menschen etwas zu. Dazu muss ich mir auch sicher sein, dass sie damit umgehen können. Ich beziehe mich dabei aber vor allem auf die berufliche Situation. Ich habe im Juni 2019 das Studio Essen übernommen, da bekamen die Leute mit mir also einen neuen Chef. Und nicht einmal drei Monate später kommt der Chef und sagt, hört mal, ich bin eigentlich eure Chefin. Das ist schon eine Zumutung. Ich habe sie ja vorher nicht gefragt, ich habe das einfach gemacht.
Warum hatten Sie Ihr Coming-out nicht früher?
Ich bin für mein Leben gern Journalistin. Pilotin wäre mein Traum gewesen, aber dafür waren meine Augen zu schlecht. Danach kommt sofort Reporterin. Ich liebe es, andere Kulturen und Länder kennenzulernen, Geschichten zu erzählen. Dafür bin ich wie geschaffen. Meine Sorge war einfach: Wenn du in dieser Gesellschaft deinen Status änderst, dann werden sie dich als Journalistin nicht mehr ernst nehmen.
Eine berechtigte Sorge.
Davon bin ich überzeugt. Schon Homosexuelle haben sich in den 80er Jahren zweimal überlegt, ob sie das sagen sollten. Trans Personen gingen bis in die 2000er hinein besser nicht damit hausieren. Und das war ja kein erfolgloses Leben, das ich geführt habe. Ich war viel in Afrika, in Bosnien, ein paar mal in Hongkong. 1997 ging ich als Korrespondent nach Washington, das ist ein Meilenstein in dem Job. Aber das waren alles keine Orte, wo ich gesagt hätte, da kannst du jetzt offen und ehrlich mit umgehen. Mit einem ehemaligen Chef habe ich das sogar mal besprochen.
Worum genau ging es?
Ich habe ihm erzählt, dass ich mich operieren lassen will. Ich hatte die ganze Literatur zu Hause, zig Bücher über Hormone und Operationen. Aber wir waren beide der Meinung, dass das keine gute Idee ist. Ich wurde gerade als Reporter erfolgreich, wir waren der Sender der Menschen. Das Transsexuellengesetz schrieb vor, dass man sich scheiden lassen musste, wenn man auch nur den Personenstand ändern wollte. Man konnte damals nicht plötzlich auftreten und sagen, da ist was anders, als ihr denkt.
Bedauern Sie das?
Ich mache niemandem einen Vorwurf. Ich glaube auch, dass mein WDR mitgegangen wäre. Es gab natürlich auch immer mal Gerüchte, die Leute redeten über mich. Das war in Ordnung. Aber die Gesellschaft hätte das nicht getragen. Und ein Unternehmen, das so in der Öffentlichkeit steht wie der WDR, muss darauf achten, wie es wahrgenommen wird.
Wie haben die Menschen schließlich auf Ihr Outing reagiert?
Wunderbar. Menschen, von denen ich gar nicht gedacht hätte, dass sie schreiben würden, haben mir gratuliert. Als ich zurückkam, wollte ich natürlich persönlich mit den Kolleginnen und Kollegen reden. Der Konferenzraum war noch nie so voll. Alle haben geklatscht, ein ganz warmherziges Klatschen. Ich habe gleich gemerkt, wie sehr die Leute mich tragen.
Wie war der erste Auftritt vor der Kamera als Georgine?
Als Studioleiterin komme ich ja nicht mehr so häufig ins Fernsehen. Aber wenn mal jemand ausfällt, springe ich ein. Das ist immer eine kleine Perle für mich. Die erste Liveschalte war im Winter bei der Feuerwehr in Bochum – ausgerechnet. Eine sehr männliche Kultur. Und ich kann nur sagen, ich wurde sehr wertschätzend behandelt. Ich selbst habe seit dem Outing alles weggegeben, was mich zu einem Mann gemacht hat.
Was meinen Sie?
Na ja, den Anzug zum Beispiel.
Und das Immaterielle?
In der Rückschau muss ich sagen: Dieser Georg ist mir nicht immer sympathisch. Der hat gemacht, was die Gesellschaft von ihm erwartete, und er hat natürlich auch seine männliche Rolle ausgelebt. Da ging es um Macht, auch um Neid. Ich war neidisch auf Frauen, weil sie Frauen sein durften. Meiner damaligen Lebensgefährtin habe ich deshalb mal richtig den Geburtstagsabend verdorben. Ich wäre einfach so gern als ihre Partnerin mitgegangen.
Sie vermissen gar nichts daran, Mann zu sein?
Das ist eine Frage, die ich mir auch gerne stelle. Ich fahre viel versöhnlicher Auto heute. Ich bin geduldiger. Nein! Ich vermisse Georg überhaupt nicht. Ich bekomme sogar kleine Panikattacken, wenn ich mir vorstelle, ich müsste wieder zurück.
Verhalten Sie sich heute anders im Alltag?
Ich übe, anders zu gehen. Ich hatte früher einen argen Seemannsgang, da arbeite ich dran. Bauch rein, Brust raus, und immer auf einer Linie! Vor Corona hatte ich mir einen High-Heel-Walking-Kurs spendiert, der kam dann leider nicht zustande. Für Stimmtraining hatte ich noch keine Zeit, aber ich habe sehr großen Spaß daran, mich zu schminken und gut anzuziehen. Ich liebe das. Christine Lagarde ist eine Ikone für mich. Manchmal schaue ich in den Spiegel und denke, ja, das bist einfach du.
Hat das damit zu tun, wie Sie angezogen und geschminkt sind?
Nein. Mit Kleidung und Schminke kaschiere ich nur die falsche Verpackung. Die bayerische Landtagsabgeordnete und trans Frau Tessa Ganserer hat mal gesagt: Und wenn ich mit einem Drei-Tage-Bart herumlaufe – ich bin immer noch eine Frau. Das gilt auch für mich.
Sie haben als Mann Karriere gemacht, waren Korrespondent in Paris und Washington, sind als Mann Studioleiter geworden. Sogenannte transexklusive radikale Feministinnen werfen Ihnen vor, ein älterer weißer Mann zu sein, der vom Patriarchat profitiert hat. Was ist da dran?
Ich habe nicht als Mann Karriere gemacht, ich war immer eine Frau. Außerdem hat der WDR Frauen früh gefördert. Mir kann niemand vorwerfen, dass ich Erfolg gehabt habe, den ich als cis Frau nicht gehabt hätte. Ich habe Erfolg gehabt, den ich als geoutete trans Frau nicht gehabt hätte. Aber trotz allem: Ja, ich kann nachvollziehen, warum diese Feministinnen so denken.
Warum?
Sie finden, weibliche Schutzräume sollten cis Frauen vorbehalten werden. Da geht es zum Beispiel um Umkleiden. Aber diese Schutzräume sind auch meine Schutzräume.
Sie nutzen die Frauenumkleide?
Die Frage, ob ich mich operieren lasse, stelle ich mir jeden Tag. Jeden Tag habe ich andere Antworten darauf. Letztlich habe ich einfach Angst vor Schmerzen und Blut. Ich kann verstehen, dass eine Frau sagt, wenn du in eine Umkleide für Ladys kommst, dann habe ich Angst vor dir. Dann würde ich sagen, sprich mit mir darüber, dann gehe ich so lange raus. Und wenn ich in der Umkleide bin und du kommst rein, dann gehst du solange raus. Vielleicht finden wir ja solche Kompromisse, mit denen wir alle leben können. Aber mich auszuschließen und zu sagen, sieh zu, wo du bleibst, das kann ich nicht akzeptieren.
Machen diese Ausschlüsse etwas mit Ihnen?
Die, die gegen mich sind, schreien viel lauter als die, die mich unterstützen. Aber die Unterstützung ist in der Menge sehr viel größer.
Auf Twitter haben Sie mehr als 30.000 Follower. Neben den Likes schlägt Ihnen auch ziemlich viel Hetze entgegen.
Ich habe ein recht dickes Fell. Bei den Trollen stelle ich mir immer vor, wie sie allein zu Hause sitzen und diesen Hass entwickeln, der sich letztlich doch nur gegen sie selbst richtet. Und bei den radikalen Feministinnen erlebe ich ja nur, dass sie sich einer Auseinandersetzung mit dem Thema verweigern. Ich finde, wir müssen das ausdiskutieren. Wo es Positionen gibt, gibt es auch Gegenpositionen. Aber die wollen nicht lernen. Dagegen kann ich nichts tun.
Wie ist das im analogen Leben?
Natürlich werde ich mal schräg angeschaut. Aber ich sehe das nicht mehr. Und ich erlebe viel eher das Gegenteil. Wildfremde Menschen auf der Straße sprechen mich an und sagen mir, welchen Respekt sie vor mir haben. Das ist wahnsinnig wertvoll für mich. Heute morgen hat eine trans Person ein unbearbeitetes Bild von sich getwittert und dazu geschrieben, dass dieses Bild nicht entstanden wäre, wenn sie mich nicht kennen würde. Das ist doch toll, wenn ich andere unterstützen und ihnen Mut machen kann.
Ist das ein Antrieb, so öffentlich zu sein, wie Sie es mittlerweile sind?
Ja. Die Öffentlichkeit war aber kein Plan, die ist so gewachsen. Ich bin sicher, dass in den nächsten Jahren noch viele interessante Menschen auftauchen werden. Manche sagen ja, trans zu sein sei eine Mode. Ich sage: Jetzt wird offenbar, was schon immer da war. Etwa 0,6 Prozent der Bevölkerung sind trans, heißt es. Das wären in Deutschland 480.000 Menschen. Wir sind eine Großstadt! Und nach und nach kommen wir alle raus.
Verstehen Sie sich als Aktivistin?
Ich will Sichtbarkeit schaffen und Normalität. Ich bekomme Einladungen zu Tagungen, in Schulen. Ich finde das enorm wichtig. Die jungen Leute sind total aufgeschlossen, das ist ganz irre. Was ich mache, trägt alles dazu bei, dass ich am Ende doch hoffentlich sagen kann, das war ein geiles Leben. Und nicht nur, weil ich mir das genommen habe, sondern auch, weil ihr mir das gegeben habt. Das ist ja gerade so.
Sind Sie angekommen?
Ja. Ich bin ich. Der Druck ist weg. Mein Leben ist ein begeistertes Leben geworden. Und ich habe dieses unendliche Gefühl der Freiheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Die Wahrheit
Der erste Schnee