Hausbesuch bei Georgine Kellermann: Katholisch, konservativ, woke
Georgine Kellermann blickt zurück auf eine erfolgreiche Karriere als Journalistin. Auch im Ruhestand ist sie alles andere als still. Ein Besuch.
Georgine Kellermann hat auf die meisten Fragen eine Antwort, und das schnell. Das lässt sich in sozialen Medien beobachten, wo sie auch als trans Aktivistin auftritt. Genauso schlagfertig ist Kellermann jedoch im Interview über ihre andere Rolle: Als Journalistin mit einer langen und erfolgreichen Karriere. Nachdem die Grande Dame des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sich im September 2023 nach Jahrzehnten beim WDR in den Ruhestand verabschiedet hat, treffen wir sie in ihrem Haus in Ratingen bei Düsseldorf zum Interview. Kellermann empfängt gastfreundlich zu Kaffee und Kuchen. Wir setzen uns an einen Holztisch im Wohnzimmer, an den Wänden leuchten Lichterketten.
Obwohl sie im Ruhestand ist, ist es nicht leicht, Kellermann zu Hause zu erwischen. Sie sei bis nächsten Herbst ausgebucht, werde viel reisen. „Ich liebe diese Welt, ich liebe es, mit anderen Menschen zu kommunizieren.“ Dafür lerne sie gerade Portugiesisch – und wenn sie das könne, sei Italienisch dran.
In Ratingen ist die 1957 geborene Kellermann aufgewachsen, hier hat ihre Karriere als Journalistin Ende der Siebziger bei der örtlichen Redaktion der Rheinischen Post begonnen. Der unmittelbare Kontakt mit den Menschen, über die sie dort berichtet hat, habe ihr eine besondere Sorgfaltspflicht aufgezwungen: „Wenn ich bei der Zeitung den Namen vom Schützenchef falsch geschrieben habe, dann stand er noch am selben Tag, an dem der Artikel erschienen ist, in der Redaktion und hat gesagt: Was hast du denn da gemacht?“
Als Reporterin für den WDR blieb Kellermann ab 1983 bis Ende des Jahrzehnts in Nordrhein-Westfalen, wo Arbeitskämpfe in der untergehenden Stahlindustrie zu einem ihrer zentralen Themen wurden. 1992 wechselte sie auf die nationale Bühne zum frisch gegründeten ARD Morgenmagazin und wurde Ende der Neunziger zwei Jahre lang ARD-Auslandskorrespondentin in Washington, bevor sie ab 2002 fünf Jahre lang aus Paris berichtete.
Geprägt von Genauigkeit
Auch diese Arbeit blieb geprägt von der Genauigkeit, die Kellermann bei der Rheinischen Post gelernt hat: „Wenn ich aus Paris erzähle, dass Jaques Chirac zum Frühstück drei Baguette isst und eigentlich isst er nur eins, dann kontrolliert das keiner. Hab ich natürlich nicht gemacht.“
Für die letzten Jahrzehnte ihrer beruflichen Laufbahn ist Kellermann wieder in den Regionaljournalismus zurückgekehrt: Sie hat verschiedene Studios des WDR geleitet, unter anderem in Bonn und zuletzt in Essen. Ihre Zeit als Studioleiterin in Essen ab 2019 erfüllt sie immer noch sichtlich mit Stolz. Die Geschichten, die sie im Interview erzählt, spielen häufiger im nahen Essen oder Duisburg als in der weiten Welt von Washington oder Paris.
Spricht sie über die Arbeit mit ihren ehemaligen Kolleg:innen beim Nachrichtenmagazin Lokalzeit Ruhr, fällt sie ganz selbstverständlich ins „wir“: „In unserem Sprengel kennen mehr Menschen die Désirée Rösch, eine unserer Moderatorinnen, als Claus Kleber oder Caren Miosga.“ Diese Reichweite hält Kellermann auch für ein wichtiges Mittel gegen Desinformation und Populismus. „Ich glaube, qualitativ guter regionaler Journalismus kann ganz viel dazu beitragen, eine Gesellschaft aufgeklärt zu halten.“
Im September 2019 änderte sich Georgine Kellermanns öffentliches Leben grundlegend. Geplant hatte sie, sich erst an ihrem letzten Arbeitstag als trans Frau zu outen. Nach der Begegnung mit einer Kollegin aber, die Kellermann zufällig am Düsseldorfer Hauptbahnhof in Ballerinas und mit lackierten Fingernägeln sah, outete sich Kellermann spontan schon früher. Sie selbst nennt es ihre „Offenbarung“.
Einsatz und Arbeit
Aus ihrem Arbeitsumfeld im WDR berichtet sie von überwältigend positiven Reaktionen. Auf einer Kommode stehen die Trophäen des Pride Award der Hamburg Pride und des CSD Award Ruhr und erinnern daran, wie viel Wertschätzung Georgine Kellermann nach ihrem Outing als trans Frau auch in der Öffentlichkeit begegnet ist – in den sozialen Medien schlägt Kellermann allerdings auch Hass entgegen.
Ihren Einsatz für Toleranz und queeres Leben trennt Kellermann jedoch sorgfältig von ihrer Arbeit als Journalistin. Nach ihrer „Offenbarung“ habe sie keine trans Themen auf die Agenda gesetzt. Das gehöre sich so. „Es hat Tage gegeben, da habe ich mittags den Ablauf der Sendung gesehen – und da war ein trans Thema drin, davon wusste ich nichts.“
Trotz ihrer Zurückhaltung mit Themen, die sie selbst betreffen, ist Kellermann davon überzeugt, dass Repräsentation wichtig ist, um gesellschaftliche Realitäten abzubilden. Gleichzeitig sollten marginalisierte Menschen nicht nur über Themen sprechen müssen, die sie in ihrer Identität betreffen, sondern auch zu allen anderen Themen eingeladen werden: „Es muss doch auch eine Steuerberaterin mit türkischen Wurzeln geben!“ Die öffentlich-rechtlichen Sender seien an dieser Repräsentation interessiert, sagt Kellermann. „Das ist auch das Schöne am öffentlich-rechtlichen System, dass es woke ist – weil wir alle mitnehmen, uns um alle kümmern wollen und nicht ausgrenzen.“
Georgine Kellermann sagt unerwartete Sätze mit großer Nonchalance. „Woke“ ist in ihrem Wohnzimmer nicht mehr der Kampfbegriff von rechts gegen die Öffentlich-Rechtlichen, zu dem das Wort in den letzten Jahren geworden ist. „Die eigentliche Idee des Wokeseins“ sei für sie ein positiver Auftrag.
Das bisher Erreichte
Sie selbst bezeichnet sich im Gespräch als konservativ, in einem breiten, nicht parteipolitischen Sinn. Konservative wollen für sie Gutes bewahren und sind sich historischer Verantwortung bewusst. Kellermann sieht sich damit in der Tradition einer katholisch geprägten Familie. Mit spürbarer Wärme zeigt sie Fotos und Gemälde ihrer Vorfahren. Gleichzeitig sieht sie die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen ist, klar und kritisch: In der Nachkriegszeit, der „Käse-Igel-Gesellschaft“, wie sie sagt, sei Hildegard Knef bei ihren Eltern auf Missfallen getroffen. Dabei habe Knef für eine gesellschaftliche Revolution gestanden, ein neues, selbstbewusstes Frauenbild: „‚Für mich soll’s rote Rosen regnen‘, das singe ich mir manchmal selbst. Sensationelle Frau.“
Die Aktivistin Georgine Kellermann schaut zurzeit intensiv zurück auf ihr Leben – eine Autobiografie ist in der Korrekturphase. Sie überblickt eine Zeit, in der mehrere gesellschaftliche Umwälzungen nötig waren, um ihr heutiges öffentliches Leben als Frau zu ermöglichen. Auch Alice Schwarzer steht für Kellermann für eine solche Revolution: „Sie ist dann irgendwann falsch abgebogen, aber Alice Schwarzer hat für mich und Menschen wie mich unendlich viel getan, weil sie nämlich für eine Liberalisierung der Gesellschaft gesorgt hat.“
„Irgendwann falsch abgebogen“ ist wieder so ein nonchalanter Kommentar für die höchst umstrittenen Aussagen Schwarzers zu den Rechten von trans Menschen. Kellermann hält sich im Gespräch damit nicht auf. Sie konzentriert sich auf das bisher Erreichte: In der Ehe ihrer Eltern hätte ihr Vater noch das Recht gehabt, ihrer Mutter das Arbeiten zu verbieten – heute undenkbar.
„Deswegen ist meine Hoffnung: Weil wir so weit gekommen sind, wird der Backlash möglicherweise so dramatisch nicht sein.“ Also sieht Kellermann einen Backlash kommen, die Aushöhlung der Demokratie, weniger Rechte für Minderheiten? Sie antwortet vorsichtig, hofft, dass es dazu nicht kommt. „Und trotzdem gehen mir Gedanken durch den Kopf: Wirst du für den Rest deines Lebens noch froh in diesem Lande?“
Aufklärung durch Berichterstattung
Während die Journalistin Georgine Kellermann auch im Ruhestand überzeugt ist von ihrer Arbeit und der aufklärerischen Kraft von Berichterstattung, wirkt die Aktivistin Georgine Kellermann weniger sicher. Hier bricht die Lässigkeit. Besonders auf X, ehemals Twitter, wo Kellermann über vierzigtausend Accounts folgen, wird sie angefeindet. Dass andere sie vor diesen Angriffen schützen, sei selten, sagt sie.
Zwar bekam etwa ihr Abschiedsfoto mit der orangefarbenen Maus vor dem WDR-Gebäude Tausende Likes, die Interaktionen mit Posts, in denen sie über die Hassbotschaften, die sie erreichen, berichtet, sind deutlich geringer. „Das hat was damit zu tun, dass die Leute zu bequem sind, Couch-Potatoes. Sie sind einfach zu lethargisch.“
Eine einfache Lösung, wie demokratiefeindliche Tendenzen gestoppt werden können, sieht Kellermann nicht. Das erste Mal in diesem Gespräch scheint sie tatsächlich nicht weiterzuwissen. „Eigentlich müssten wir jeden Tag auf die Straße gehen. Eigentlich müssten wir jeden Tag zum Brandenburger Tor rennen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Unwetterkatastrophe in Spanien
Vorbote auf Schlimmeres
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los
Orbán und Schröder in Wien
Gäste zum Gruseln
Jaywalking in New York nun legal
Grün heißt gehen, rot auch
Steinmeiers Griechenland-Reise
Deutscher Starrsinn
Schließung der iranischen Konsulate
Die Bundesregierung fängt endlich an zu verstehen