Gewalt im Gazastreifen: Gangster-Miliz von Netanjahus Gnaden
Bewaffnete Palästinenser sollen Hilfslieferungen in Gaza plündern und auf die eigenen Leute schießen. Israel hat sie aufgerüstet. Nur warum?

Sie nennen sich selbst „Volkskräfte“, bekannt auch unter dem Namen ihres Anführers als Yasser Abu Shabab, als Abu-Shabab-Bande. Rein militärisch eher unbedeutend, wird diese Miliz auf 300 Mann geschätzt. Sie operiert ausschließlich in Gebieten im Süden des Gazastreifens, die direkt von der israelischen Armee kontrolliert werden.
Angeführt wird diese Miliz von Yasser Abu Shabab, einem Mann in den Dreißigern, der eine prominenten Beduinenfamilie angehört. Unter der Hamas-Herrschaft saß er wohl als Drogendealer im Gefängnis, bevor er bei der israelischen Offensive nach dem Massaker des 7. Oktober 2023 freikam. Die Truppe, die er um sich scharte – oft mit einer ähnlichen Biografie, wie der seinen –, machte sich in den letzten Monaten einen Namen als Plünderer von Hilfslieferungen.
Auch beim neuen Verteilungssystem für Nahrungsmittel der amerikanisch-israelischen Gaza Humanitarian Foundation (GHF) spielt diese Miliz eine Rolle. Sie tauchte diese Woche scheinbar immer wieder rund um die neuen Ausgabestellen der GHF auf. Palästinensische Augenzeugen bezichtigen sie, Schüsse auf Menschen abgefeuert zu haben, die dort um Essen anstanden. Am Montag berichteten sie erstmals, dass neben der israelischen Armee auch bewaffnete Palästinenser auf sie geschossen hätten, die mit der Armee zusammengearbeitet hätten. Ein Augenzeuge berichtete gegenüber dem arabischen Dienst der BBC, dass er bei einer der GHF-Ausgabestellen in Tel Sultan in Rafah eine Gruppe in Zivil mit vermummten Gesichtern gesehen hätte. „Erst dachten wir, dass sind ein paar palästinensische Jugendliche, die gekommen sind, um bei der Ausgabe zu helfen. Aber dann begannen sie auf uns zu schießen“, berichtete Hisham Saeed Salem. „Selbst auf jene, die es geschafft haben eine Kiste mit Nahrungsmitteln zu ergattern, wurde geschossen. Wir wissen nicht, wer die Angreifer genau sind, aber sie haben uns alles weggenommen“, erzählt er. „Vorher hat immer die israelische Armee geschossen, aber nun sind wir geschockt über die Anwesenheit von Banden und Milizen“, erzählt auch Mohammad Sakout, ein anderer Augenzeuge.
Diebstahl von Hilfsgütern unter den Augen des Militärs
Die Milizen scheinen auch Vorrang bei der Essenausgabe zu bekommen. Laut Muhammad Shadada, der für das European Council on Foreign Relations die Lage in Gaza analysiert, werden „vor Sonnenaufgang von der israelischen Armee und dem GHF zunächst Kollaborateure, Bandenmitglieder und Subcontractors vorgelassen, die sich die wertvollsten Dinge, wie Speiseöl, sichern, um sie dann auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen“.
Die Bande ist seit Monaten dafür bekannt, Hilfslieferungen rauben. „Israel hat öffentlich behauptet, dass die UN- und NGO-Hilfe von der Hamas abgezweigt wird. Aber das hält einer Überprüfung nicht stand. Der eigentliche Diebstahl von Hilfe seit Beginn des Krieges wurde von kriminellen Banden unter der Aufsicht israelischer Streitkräfte verübt, und sie durften in der Nähe des Grenzübergangs Kerem Shalom nach Gaza operieren“, so Jonathan Whittall, Leiter des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in den besetzten palästinensischen Gebieten am 28. Mai.
Endgültig ins Rampenlicht geriet die Miliz am 5. Juni, als ihre Existenz erstmals öffentlich in Israel debattiert wurde. Der ehemalige Verteidigungsminister Avigdor Lieberman beschuldigte den israelischen Premier Benjamin Netanjahu im staatlichen israelischen Fernsehen, „einer Gruppe von Kriminellen und Schwerverbrechern“ unter der Führung von Abu Shabab, der sogar eine Nähe zur Terrorgruppe „Islamischer Staat“ nachgesagt werde, Waffen zu geben. Er kritisierte, dass Netanjahu ohne Zustimmung des Sicherheitskabinetts diese Milizen in Gaza bewaffnet habe, und charakterisierte das Ganze als „völligen Wahnsinn“.
Daraufhin veröffentlichte Netanjahu in den sozialen Medien ein Video, in dem er zugab, dass Israel auf Anraten von „Sicherheitsbeamten“ einige palästinensische Clans in Gaza „aktiviert“ habe. Er fragte: „Was ist daran schlimm? Es ist eine gute Sache und rettet das Leben unserer Soldaten.“ Ein nicht namentlich genannter israelischer Sicherheitsbeamter erläuterte gegenüber dem israelischen Nachrichtenportal Ynet, dass die Bewaffnung der Abu-Shabab-Milizen vom israelischen Inlandsgeheimdienst Schin Beth „geplant und gesteuert“ sei – mit dem Ziel, die Verluste der eigenen Armee zu reduzieren und die Hamas durch die Förderung rivalisierender Kräfte systematisch zu untergraben. Der israelische Fernsehsender Channel 12 zitierte eine andere israelische Sicherheitsquelle, laut der dies „erst der Anfang ist“. Die israelische Armee erwäge dieses Experiment auf weitere Gebiete auszuweiten, nach den „Erfolgen des Pilotprojekts in Rafah“.
Wer ist der Tarabin-Clan?
Erstmals in Erscheinung traten diese Gangs im Mai letzten Jahres, als die Verteilung der Hilfsgüter noch ausschließlich von der UNO geleitet wurde. Im Dezember häuften sich die Meldungen, dass ein Großteil der Hilfslieferungen direkt hinter dem israelischen Grenzübergang von kriminellen Banden ausgeraubt und die Hilfsgüter dann auf dem freien Markt in Gaza verkauft würden. Die Washington Post zitierte damals aus einem internen UN-Memo. Dort hieß es, dass die kriminellen Banden direkt oder indirekt vom Wohlwollen der israelischen Armee profitierten und sogar von ihr beschützt würden. Danach gebe es sogar eine Art militärisches Lager der Banden, „in einem Gebiet mit eingeschränktem Zugang, kontrolliert und patrouilliert von der israelischen Armee“. Die israelische Armee stritt damals jegliches Wissen darüber ab. Wer genau hinter den Banden steckte, blieb damals nebulös. Aber schon damals wurden einige beduinische Familien des Tarabin-Stammes genannt, denen schon zuvor kriminelle Aktivitäten nachgesagt wurden.
Nun hat das Ganze mit Yasser Abu Shabab einen Namen und ein Gesicht bekommen. Dessen Clan, der dem prominenten Tarabin-Stamm angehört, der sowohl in Gaza als auch im Norden des Sinai in Ägypten zu Hause ist, hat sich inzwischen von ihm distanziert und fordert dessen Blut. „Wir bekräftigen, dass wir Yassers Rückkehr in die Familie nicht akzeptieren werden. Wir haben keinen Einwand dagegen, dass ihn die Menschen in seinem Umfeld sofort liquidieren, und wir sagen ihnen, dass sein Blut verwirkt ist“, heißt es in dessen Erklärung.
Die Hamas bezeichnet Abu Shabab als Verräter: „Wir geloben vor Gott, weiterhin die Verstecke dieses Kriminellen und seiner Bande zu bekämpfen, egal welche Opfer wir bringen müssen.“ Yassers Bruder wurde bereits von der Hamas getötet. Yasser selbst überlebte bislang mindestens zwei Mordversuche. Es existiert eine eigene Hamas-Einheit namens „Sahm“, zu Deutsch „Pfeil“, deren selbsternannte Aufgabe es ist, als Kollaborateure gebrandmarkte Menschen zu exekutieren. Diese Woche kam es erstmals zu einem Schusswechsel zwischen der Abu-Shabab-Miliz und Sahm, bei dem die Abu-Shabab-Miliz nach eigenen Aussagen einen Hinterhalt gelegt und sechs Mitglieder der Sahm getötet haben soll.
Die Gruppierung selbst bestreitet, ein Werkzeug der israelischen Besatzung zu sein. In den sozialen Medien präsentiert sich Abu Shabab als „die Stimme des Volkes, das des Chaos, des Terrorismus und der Spaltung überdrüssig ist“. Gegenüber dem US-Fernsehsender CNN beschrieb Yasser Abu Shabab seine Miliz als „eine Gruppe von Bürgern“, die sich freiwillig gemeldet habe, um humanitäre Hilfe vor Plünderungen und Korruption zu schützen.
Wer soll die Kontrolle über Gaza übernehmen?
Was Israels mit dem Aufbaus der Miliz bezwecken will, scheint klar: Sie soll langfristig als Mittler zwischen der Bevölkerung in Gaza und der israelischen Armee aufgebaut werden. Doch bisher ist ihr strategischer Wert gering und ihr Operationsgebiet und Größe sind begrenzt. Es stellt sich aber die Frage, wer langfristig die Verwaltung des Gazastreifens von der Hamas übernehmen soll. Israels Premier Netanjahu will auf jeden Fall verhindern, dass die Palästinensische Autonomiebehörde oder irgendeine andere politische Gruppierung hier eine Rolle bekommt.
Der große Vorteil der Gangster-Milizen für Netanjahu: Sie überleben wohl nur mit israelischen Waffen und Gefälligkeiten. Sie stellen keine politische Bedrohung, die eine Zweistaatenlösung und einen palästinensischen Staat fordert, dar. Sie dienen lediglich als verlängerter Arm der israelischen Besatzung.
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