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Friedrich Merz' KanzlerwahlBauchklatscher mit Ansage

Anna Lehmann
Kommentar von Anna Lehmann

Nach der bitteren Niederlage am Morgen ist die Kanzlerwahl für Merz im zweiten Durchgang gerade noch mal gut gegangen – aber zu welchem Preis?

So sehen Sieger aus: Friedrich Merz nach seiner Wahl zum Bundeskanzler im zweiten Wahlgang Foto: Fabrizio Bensch/reuters

A lles war vorbereitet: Glückwünsche, Schnittchen, Urkunden. An diesem Dienstag sollte Friedrich Merz zum Kanzler gewählt werden. Und scheiterte im ersten Anlauf. Das war historisch. Genauso wie das, was darauf folgte. Um den zweiten Wahlgang am Nachmittag zu ermöglichen, brachten Union, SPD, Grüne und Linke zum ersten Mal einen gemeinsamen Geschäftsordnungsantrag ein. Im zweiten Wahlgang erhielt Merz die erforderliche absolute Mehrheit. Uff, gerade noch mal gut gegangen. Aber zu welchem Preis?

Kritisch gesagt: Um endlich an die Macht, sprich ins Kanzleramt zu gelangen, war Merz bereit, mit einem weiteren christdemokratischen Tabu zu brechen, und hat erstmals gemeinsame Sache mit der Linkspartei gemacht. Oder positiv gewendet: Damit die Brandmauer zur AfD hält, hat die Union ihre ideologische Brandmauer zur Linken kurzerhand niedergerissen, und die demokratischen Parteien haben gemeinsam einen Weg gefunden, einen Kanzler ohne rechtsextreme Stimmen zu wählen.

Genau wird man wohl nie wissen, wer Merz gewählt und wer ihm in der eigenen Koalition die Gefolgschaft verweigert hat. So oder so: Dieser Dienstag war keine Sternstunde für Merz, vielmehr ein schmerzhafter Bauchklatscher – für den Merz selbst Anlauf genommen hat.

In seiner dirigistischen Art – „Ich gucke nicht rechts, nicht links, nur geradeaus“ – hat er immer wieder vollmundige Ankündigungen in den Raum gestellt, die er anschließend kleinlaut wieder zurücknehmen musste. Ob in der Migrationspolitik, wo er ein „faktisches Einreiseverbot“ ankündigte. Oder als er eine Wirtschaftswende versprach, mit großzügigen Steuerentlastungen per Gießkanne.

Reihenweise Enttäuschungen

Zudem suggerierte er, 100 Milliarden Euro ließen sich mal eben bei Bür­ger­geld­emp­fän­ge­r:in­nen und Mi­gran­t:in­nen einsparen – den Rest regle der Markt. So mogelte sich Merz durch den Wahlkampf und an die Macht. Dabei produzierte er reihenweise Enttäuschungen bei jenen Mitgliedern und Wäh­le­r:in­nen der Union, die dem einstigen Aufsichtsrat glaubten, man müsse einfache Lösungen nur straff genug durchpauken, um erfolgreich zu sein. Seine verkorkste Wahl zum Kanzler hat gezeigt: Mehrheiten lassen sich nicht verordnen. Wer ständig polarisiert, darf nicht erwarten, dass ihn alle tragen, wenn er es braucht.

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Merz' Kanzlerschaft und seine Regierung stehen nun unter verschärfter Beobachtung: Schafft es Schwarz-Rot so zu regieren, dass wieder mehr Menschen Vertrauen in den Staat und seine Handlungsfähigkeit fassen, statt auf die Parolen der Populisten reinzufallen? Oder macht Schwarz-Rot so weiter, wie die Ampel endete: chaotisch?

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Anna Lehmann
Leiterin Parlamentsbüro
Schwerpunkte SPD und Kanzleramt sowie Innenpolitik und Bildung. Leitete bis Februar 2022 gemeinschaftlich das Inlandsressort der taz und kümmerte sich um die Linkspartei. "Zur Elite bitte hier entlang: Kaderschmieden und Eliteschulen von heute" erschien 2016.
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21 Kommentare

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  • Um Merz - und Klingbeil - einen Denkzettel zu verpassen war das letztlich eine gute Aktion. Man wusste ja, was im 2. Wahlgang geschehen wird. Ob aber Merz und Klingbeil jemals im tieferen Sinne daraus lernen werden? Beide sind in meinen Augen Egomanie Bulldozer und daraus ist auch die Wut bei den anderen entstanden.

  • Für Demokraten war das, was gestern im Bundestag aufgeführt wurde, unerträglich. Demokraten wählen nicht und die Wahl eines Regierungschefs durch eine Elite der ausgewählten Abgeordneten widerspricht demokratischen Prinzipien.

    Für AnhängerInnen der sogenannten repräsentativen Demokratie war es ein kurzer Schock. Was nur eine Formalie sein sollte, lief zunächst schief. Eigentlich hat eine sich einmal gefundene Regierungskoalition das Parlament fest im Griff; Präsidium, Regierungsbank und parlamentarische Mehrheit entscheiden mit einfacher oder absoluter Mehrheit über einfache Gesetze und damit über das Gros politischer Entscheidungen. Und dann dieser vermeintlich Fehlstart, der Zweifel an die Geschlossenheit der Regierungskoalition und die Führungsstärke ihres Spitzenpersonals aufkommen lässt. Am Ende waren sich dann alle Fraktionen einig: Ohne neue Regierung darf Deutschland nicht dastehen. Das Scheitern im ersten und der Erfolg im zweiten Wahlgang zeige, die repräsentative Demokratie funktioniert. Zweifel bleiben, ob die neue Führung stark genug ist für ein starkes Deutschland. Das zutiefst undemokratische Verlangen nach personalisierter Führung scheint ungebrochen.

  • So langsam bekomme ich den Eindruck, dass die Republik sich selbst abschafft. Diese ganzen übergroßen Egos kleiner Geister mit engem Horizont sägen den Ast ab, auf dem wir alle sitzen.



    Aber man soll ja die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht hat das ja Merz wenigstens etwas Demut gelehrt...

  • Übrigens erreichte Boris Palmer bei den letzten Wahlen (2022) 52,4 Prozent, also nach Adam Riese die absolute Mehrheit.

  • So, nu ist er Kanzler und muss beweisen aber kann. Darauf sollte dann aber auch der Fokus der Journalist*innen liegen. Auch wenn es dem einen, oder der anderen schwerfällt dieselben Schubladen zu schließen.

  • "... und die demokratischen Parteien haben gemeinsam einen Weg gefunden, einen Kanzler ohne rechtsextreme Stimmen zu wählen."

    Das wissen wir nicht. Ich will nicht ausschließen, dass es die AfD arrangiert hat, so 3-8 Ja-Stimmen abzugeben.

  • Für die Demokratie und für den gesellschaftlichen Ausgleich ist es immer gut, wenn eine Regierung nicht zu mächtig wird.

    Auch wenn die heutige Klatsche vorerst eher nur eine psychologische Grenze der künftigen Macht ist.



    Daher habe ich mich sowohl über die Zeit mit einer Minderheitsregierung gefreut - wie auch über die überraschende Eigenständigkeit des Bundestags heute, der nicht einfach als "Wahlmaschine" funktioniert.

  • Die Freibad-Saison ist eröffnet. Bauchplatscher. Mit Anlage. Blackrock-Kids at work.



    taz.de/tomkariseit...004-03-01/tom.webp

  • Das Verhalten der Abgeordneten war naiv, trotzig und politisch unprofessionell. Was hatten sie erwartet – dass plötzlich jemand anderes als Merz Kanzler wird? Oder wollten sie ihm unter dem Gelächter der AfD einfach nur einen Denkzettel verpassen?

    Genau das, was die AfD der Politik vorwirft, wurde hier sichtbar: Statt um das Land ging es den Abweichlern nur um sich selbst.

    Danke an die Linke, die sich in dieser Lage staatsmännisch zeigte und einen zweiten Wahlgang noch heute ermöglichte. So geht Professionalität!

    • @Benzo:

      Genau! Dafür, dass sich die Linke zum richtigen Zeitpunkt staatstragend zeigte, war es gut!



      16 Jahre Merkel haben das Land in einen immer gleichförmigen Schlaf gebracht, aus dem es so schnell nicht wieder aufwachen will. Demokratie ist viel lebendiger und, ja, negativ gesehen, chaotischer. Nur in einer Diktatur sind vor einer Wahl schon 90%ige Ergebnisse klar.

      • @poesietotal:

        "Nur in einer Diktatur sind vor einer Wahl schon 90%ige Ergebnisse klar."

        Richtig. Deshalb kann man die Nichtwahl Merz als funktionierenden Teil der Demokratie ansehen. Man kann es aber auch als "Affentheater" bezeichnen, wenn fünf Stunden nach der ersten Wahl die Meinung geändert wird. In den fünf Stunden werden die Abweichler nicht ein Argument gehört haben, dass sie überzeugt hat, Merz zu wählen. Also war es entweder ein Ausdruck von kindischer Aufsässigkeit oder - nachdem die Abweichler gemerkt haben "Oh, wir stärken ja die AFD mit unseren Spielchen." - pure Dummheit. Beides lässt nicht hoffen. Wenn man schon dagegen stimmt, hätte man als Abweichler standhaft bleiben müssen.

    • @Benzo:

      dito.

    • @Benzo:

      Tax the what? das vollkommene Versagen der Linken ! wieviel Sie wohl dafür bekommen haben??? Tax the left !!!

  • Und ausgerechnet einer, den Merz sicher nicht gerne zitiere will, hatte mehr Fortune und einen sicheren Rückhalt bei der Wahl zum Kanzler:



    "Herr Präsident, ich nehme die Wahl an" - an jenem Dienstag im Oktober, einem wolkigen Tag mit viel Regen, erlebt Gerhard Schröder seinen größten Triumph. Bei seiner Wahl zum Bundeskanzler bekommt der damals 54-Jährige 351 Ja-Stimmen, sieben mehr als die beiden neuen Regierungsparteien Rot-Grün im Parlament haben. Es ist das erste und bislang einzige Mal, dass ein deutscher Bundeskanzler mit Stimmen der Opposition gewählt wird."



    Bei ndr.de

  • Hätte März mehr Anstand als Machtstreben, hätte er das Kanzleramt jemand Fähigerem überlassen - wenns denn CDU sein muss: Daniel Günther z.B. oder Hendrik Wüst

  • Am Ende haben wir alle verloren. Nun kann die AFD darauf zeigen, das die Union bereit ist, mit den Linken zusammen zu arbeiten und so wird der immer wieder von der AFD gerufene "Links-Drift" der Union weiter zementiert, unabhängig ob wahr oder nicht.

    Auch wenn die Abgeordneten wählen dürfen wie sie wollen, hätten die sich fragen sollen "Wie beschädigt wird DE sein, wenn er nicht gewählt wird. Wie gestärkt würde eine AFD mit einen schwachen Unionskanzer sein?"

  • Ja, zu welchem Preis ist es bei der zweiten Wahl gut gegangen? Möglicherweise löst sich die Regierung in 2 Monaten auf. Möglicherweise ist aber in ein paar Tagen wieder alles vergessen.

  • Linke und Grüne haben mit ihrer Zustimmung zum vorgezogenen 2. Wahlgang mehr Demokratieverständnis bewiesen, als Merz im vielen Fällen zuvor.

  • Klar war es die Person Merz. Er alleine ist verantwortlich für seine Beliebtheit oder Unbeliebtheit. Mit letzteren kennt er sich ja aus. Er ist halt auch nur ein "Dealmaker".

  • Alle Parlamentarier haben heute für einen zweiten Wahlgang abgestimmt.



    Das sagt alles aus !



    Einfach nur als Erschütterung für unsere Demokratie zu werten !



    Vorgeschobene Argumente sollten dem Volk suggerieren es wäre Eile geboten, schnell schnell müsse es jetzt gehen. Die Welt schaut auf Deutschland - dabei - die Welt schaut schon Jahrzehnte auf Deutschland & eine geschäftsführende Regierung unter Scholz hatten wir ja.



    Wahre politische Verantwortung sieht anders aus. Die als rechtsextremistisch eingestufte AfD gehört eesteimal vorrangig aus dem Parlament entfernt, erst dann sind wieder souveräne Wahlen möglich.



    Hier geht es um Glaubwürdigkeit der Volksvertreter. Geht die berechtigten Anliegen der Bevölkerung an, also wieder mehr Lebensqualität für die Mehrheit der Wähler schaffen, nicht auf Kosten der Arbeitnehmer die Vermögen einiger weniger Eliten vergrößern. Erst dann ist unsere soziale Sicherheit wieder geschützt.

  • Was mir noch mehr Angst macht als die AfD sind Politiker, die offenbar der Bevölkerung nicht trauen. Ich halte dieses Land durch und durch für viel resilienter als manche Politiker offenbar glauben. Die Demokratie zu demontieren, um sie zu retten, ist kein Rezept für Stabilität.

    Wenn die Fraktionsvorsitzende der Grünen sagt "Neuwahlen wären das Schlimmste was passieren könnte", dann wird mir schlecht. Was ist das für ein Demokratieverständnis, wenn man Angst vor Wahlen hat?

    Und ich habe wahrlich keine Sympathien für die AfD, aber manchmal muss man sich echt fragen, ob da die Sorge um das Land größer ist oder schlicht die Angst um die eigene Macht. Das ist nicht demokratiefördernd und so kriegt man die AfD auch nicht klein, ganz im Gegenteil.