Fridays for Future streikt am 24. April: Von der Straße ins Netz
Line Niedeggen sitzt zu Hause und organisiert einen Streik, den es so nicht geben wird. Über den Versuch einer Bewegung, sich ins Netz zu verlegen.
U m das Klima sorgt sich Line Niedeggen schon lange. Kein anderes Thema hat sie im letzten Jahr so sehr beschäftigt und beansprucht wie der Kampf gegen diese Krise. Und dennoch – mit Corona kommt ihr plötzlich eine ganz andere Krise in die Quere, und das hautnah. Abstrakte Sorgen, die um die Zukunft kreisen, weichen greifbaren Ängsten. Und nur in einem Punkt fühlen sich beide Krisen genau gleich an: Niedeggen fühlt sich unfähig, irgendetwas dagegen zu tun.
„Für das Klima konnte ich ja schon ‚nur‘ auf die Straße gehen“, sagt die Physikstudentin. Aber jetzt in der Coronakrise sei es besonders schwierig, sich der Situation nicht ausgeliefert zu fühlen. Line Niedeggen sitzt auf der Terrasse ihrer Achter-WG in Heidelberg. Es ist bereits ihr drittes Onlinemeeting über Zoom, eben noch hat sie ein Webseminar moderiert, ein Onlineseminar auf YouTube. Zwischendurch läuft ein Mitbewohner durch den Bildschirm, dann klingelt ihr Handy, „Entschuldigung, da muss ich kurz rangehen“. Routiniert schaltet die Dreiundzwanzigjährige das Mikrofon ihres Laptops aus, stumm bewegen sich ihre Lippen, konzentriert blicken ihre Augen hinter der großen Brille. Auflegen, Mikro an, „Was war die Frage?“ – ein ganz normaler Aktivist:innen-Arbeitstag im Homeoffice.
Seit über einem Monat versucht Fridays for Future nun schon, seinen Aktivismus „virtuell umzusetzen“, wie Niedeggen das nennt. Während manche andere Gruppen, zum Beispiel solche gegen die Flüchtlingspolitik der EU, immer noch versuchen, ihren Protest auf der Straße auszudrücken, verlagert sich der Klimaprotest weitestgehend ins Netz. Und das sehr schnell: Unter dem Hashtag #NetzstreikFürsKlima“ posten Demonstrant:innen Fotos, auf denen sie Schilder hochhalten, oder erinnern mit Aufnahmen an vergangene Proteste. Bereits am 18. März begann die Webseminarreihe unter dem Motto „Wir bilden Zukunft“.
Die größte Herausforderung jedoch dürfte der nächste globale Klimastreik am 24. April werden, an diesem Freitag. Seit Fridays for Future zu Beginn des Jahres nicht mehr wöchentlich auf den Straßen demonstriert, sind diese groß angelegten Streiktage noch wichtiger für die Protestbewegung geworden. Was als energischer Frühlingsstreik, als Motivationsschub für das Klimazieljahr 2020 gedacht war, wird nun zu einer Beweisprobe für eine Bewegung, die ohnehin in einer Findungsphase war.
Menschenmassen sind out, der Protest wird virtuell
Statt Menschenmassen, die sich laut und sichtbar über die wichtigsten Verkehrsadern der Städte schieben, gibt es nun eine interaktive „Streikkarte“, wobei im eigentlichen Sinn gar nicht gestreikt werden kann. Hier können sich Menschen eintragen und Interessierte über lokale Aktionen informieren. Denn nur online protestieren will man dann irgendwie doch nicht – zumindest nicht am 24. April.
In endlosen Telefonkonferenzen diskutierten Bundes- und Ortsgruppen über mögliche Formate. Wie das Thema Klimawandel weiter in den Köpfen halten, ohne der Coronakrise ihre Dringlichkeit abzusprechen? Wie als Bewegung zusammenhalten in diesen seltsamen, einsamen Zeiten?
Bis zu dreißig Stunden pro Woche sitzt Line Niedeggen in Heidelberg nun vor dem Bildschirm. Auch die taz konnte sie dort nur auf elektronischem Weg erreichen – das Coronavirus und seine Folgen verhinderte wie auch bei allen anderen für diesen Text befragten Personen eine persönliche Begegnung. Seit Niedeggen den ganzen Tag zu Hause ist, hat sie das Gefühl, nahezu unbegrenzt Zeit zu haben. „Dadurch halst man sich auch mehr Arbeit auf“, sagt die Studentin.
Ihre Ortsgruppe plant für Freitag, zumindest mit einem Beatbike, einem mit Lautsprechern ausgestatteten Fahrrad, durch Heidelbergs Straßen zu fahren, um auf den Streiktag aufmerksam zu machen. Zur Debatte standen außerdem Kreidemalereien und Kunstinstallationen, Online-Tutorials für aktivistisches Basteln sowie die Idee, zu einer bestimmten Uhrzeit aus geöffneten Fenstern ein Lied zu spielen, um auf diese Weise ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl zu schaffen.
Line Niedeggen, Physikstudentin
„Wir wollen zeigen, dass wir immer noch da sind“, sagt Niedeggen. Auch wenn die Klimakrise gerade in den Hintergrund treten müsse. „Aber klar war der Protest auf der Straße mitreißender. Das Gefühl, als Gemeinschaft etwas zu bewegen, stellt sich online nur zögerlich ein.“ Außerdem bespiele man nur seine eigene Blase, während alle anderen abgelenkt seien.
Philipp Knopp forscht an der Universität Wien über digitale Infrastrukturen der Partizipation und ist Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin. Fridays for Future ist eine der Bewegungen, die er untersucht – jetzt, unter Coronabedingungen, beschäftigt er sich noch mehr als ohnehin schon mit ihrem Social-Media-Auftritt. „Für die Vernetzung und Koordinierung haben die sozialen Medien schon immer eine große Rolle gespielt“, sagt Knopp. „Aber auf einmal wird das Netz auch zum Ort des Protests.“
Dabei gehe das Wichtigste verloren: körperlich beisammen zu sein. Laut dem Protestforscher sei es für die Demonstrant:innen jedoch wichtig, ihren Körper aufs Spiel zu setzen, um Solidarität aufzubauen. Das gelte noch mehr für Aktionen zivilen Ungehorsams wie Blockaden oder Besetzungen, derer sich radikalere Protestgruppen wie EndeGelände oder Extinction Rebellion bedienen.
Bei dem Onlinestreik von Fridays for Future an diesem Freitag geht es nach Meinung von Knopp deshalb vor allem um eines: sogenannte „Throwback-Momente“ zu schaffen, Erinnerungen an Demonstrationen wieder aufleben zu lassen, etwa an die vom 20. September, bei der allein in Deutschland Hunderttausende auf die Straße gingen. „Das kann zur Überbrückung dienen“, meint Knopp, „aber nicht den gemeinsamen Protest auf der Straße auf Dauer ablösen.“
Marlon Philipp, Uni-Mitarbeiter
Die Aktivist:innen stehen diesem Urteil zweigeteilt gegenüber. Während sich die meisten Ortsgruppen um eine optimistische Stimmung bemühen und den Netzstreik als Weiterentwicklung sehen, hört man hier und da auch Zweifel heraus. Vor allem die Enttäuschung über die Absage des globalen Klimastreiktags ist deutlich spürbar. „Das ist schon ein großer Dämpfer gewesen“, sagt Marlon Philipp aus Dortmund. „Wir hatten diesmal früher mit der Planung für den 24. April begonnen, hatten auch schon Plakate und Flyer gedruckt. Wenn dann die ganze Arbeit ins Wasser fällt, ist es echt demotivierend.“
Die Onlineproteste findet er „nur begrenzt cool“. „Vielleicht bin ich auch zu alt für so was“, sagt der 27-Jährige, der von Anfang an bei der Dortmunder Ortsgruppe dabei ist und mittlerweile als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Techniksoziologie an der Technischen Universität arbeitet. „Das Schwierige ist jetzt, die Begeisterung aufrechtzuerhalten“, sagt er mit Blick auf die kommenden Monate. „Das Erlebnis auf der Demo hat die Leute in unser Plenum gespült. Jetzt fehlt der frische Wind.“ Damit sie wenigstens die Plakate nicht wegwerfen müssen, wollen die Dortmunder Aktivist:innen sie am Freitag auf die Briefkästen verteilen mit der Bitte, sie in die Fenster zu hängen – ähnlich wie in Aachen, wo die gelben Plakate mit dem Kleeblattsymbol als Aufruf zur Stilllegung des Atomkraftwerks im belgischen Tihange lange das Stadtbild prägten.
Tayyab Mohammad aus Offenbach ist ebenso wenig begeistert von dem Netzstreik. „Onlineproteste sehen hübsch aus, bringen uns aber nicht voran“, sagt er. „Das ist eher eine Beschäftigungsmaßnahme.“ Der Neunzehnjährige hat gerade sein schriftliches Abitur abgelegt, nun wartet er auf die mündlichen Prüfungen und darauf, arbeiten zu dürfen, um ein bisschen Geld für das Studium sparen zu können. „Ich gehe ein bisschen ein zu Hause“, sagt er, während er fahrig von einem Zimmer ins nächste läuft.
Mohammads Ansicht nach hat Fridays for Future „den Dreh noch nicht raus“. Auf Bundesebene gebe es die nötige Struktur, da gehe es schnell, sich auf die Coronakrise umzustellen. In den einzelnen Städten gehe jedoch viel verloren. „Der lokale Protest verschwindet“, sagt der Abiturient, der sich außer bei Fridays for Future seit Jahren in der Landesschülervertretung und der Bundesschülerkonferenz engagiert. Das treffe Städte wie Offenbach besonders hart, wo die Ortsgruppe in guten Zeiten aus zehn Leuten bestehe und wo, wie Mohammad sagt, viele Leute es sich ohnehin nicht zutrauen würden, politisch etwas zu bewirken.
Sie hätten sich deshalb darauf geeinigt, eine Pause einzulegen und stattdessen ihre Ressourcen sinnvoller einzusetzen, in der Nachbarschaftshilfe etwa. Das sollte auch der Rest der Klimaprotestbewegung tun: „Endlich mal Strukturen überarbeiten und Abstimmungen transparenter machen – gestärkt aus der Krise herausgehen, statt sich nur am Leben zu halten“, wünscht sich der Offenbacher. Er befürchtet, dass Fridays for Future in der Versenkung verschwindet, wenn Corona weiterhin so viel Raum einnimmt.
Das Risiko, vergessen zu werden
„Das größte Risiko für jede Bewegung ist es, vergessen zu werden“, sagt auch Philipp Knopp von der Universität Wien. Laut einer Forsa-Umfrage von Anfang April interessieren sich derzeit nur noch wenige Prozent der deutschen Bevölkerung für den Klimaschutz. „Corona ist deshalb ein Existenzproblem.“ Sein Eindruck sei aber, dass Fridays for Future sehr schlau mit der neuen Situation umgehe. Der Slogan „Jede Krise muss als solche behandelt werden“ zum Beispiel oder die Perspektive, dass Seuchen durch den Klimawandel zunehmen, setze die beiden Krisen in einen Zusammenhang.
Zudem beobachtet Knopp, dass sich Fridays for Future nun verstärkt mit anderen Gruppen solidarisiere. Die soziale Frage sei unter dem Stichwort „Klimagerechtigkeit“ zwar schon länger Thema gewesen, wenn die Bewegung jetzt aber konkrete Forderungen stelle und sich mit anderen Gruppen vernetze, könnte sie das stärken. In diesen Zeiten, in denen an wirtschaftlichen Stellschrauben schnell und unbürokratisch gedreht wird, müsse sich die Klimabewegung noch breiter aufstellen. „Das erfordert viel Arbeit, aber falls es gelingt, könnte Fridays for Future eine Art Krisengewinner werden.“
Solidarität – der Begriff fällt in jedem Gespräch, fast wie ein Ersatzmantra. Line Niedeggen aus Heidelberg hat ebenfalls bemerkt, dass nun Gruppen zusammenarbeiten, die einander vorher gemieden hätten. In ihrer Stadt haben sie als Ortsgruppe mit den Jugendparteien und dem Stadtjugendring das Bündnis „Heidelberg solidarisch“ gegründet, eine Vermittlungsplattform für Nachbarschaftshilfe. Außerdem solidarisieren sich viele Ortsgruppen mit der „Leave no one behind“-Aktion der Seebrücke für Flüchtlingshilfe.
Auch in Leipzig vernetzt man sich stärker untereinander. Für Lisa Allisat und Matti Lehmann aus der Leipziger Ortsgruppe von Fridays for Future ist das eine von mehreren Veränderungen, die gerade auf die Bewegung zukommen. Die 17 Jahre alte Literaturstudentin und der 18 Jahre alte Abiturient sitzen räumlich getrennt voneinander vor ihren Bildschirmen – Lisa am Rande von Leipzig im Haus ihrer Eltern, Matti rund dreißig Kilometer entfernt im ländlichen Wurzen. Seit einigen Wochen wohnt er in der ehemaligen Wohnung seiner Großeltern, aus Rücksicht auf Risikogruppen in seiner Familie. Er sitzt an einem Campingtisch, an der kargen Wand hinter ihm hängt eine einzelne Pflanzenzeichnung.
Kein Zurück zur Normalität
„Es ist eine kritische Zeit, in der wir viele Hebel bewegen können“, sagt Lisa Allisat. „Wir müssen aber vor allem verstehen, dass es kein Zurück zur Normalität gibt. Nach der Coronakrise kommt die Wirtschaftskrise – und wenn wir dann nicht richtig vorgehen, steht die Klimakrise vor der Tür.“ Dass sie in dieser entscheidenden Zeit auf das Netz beschränkt sind, sehen die beiden gelassen. „Wir sind ohnehin an einem Punkt angekommen, an dem uns die Kameras auf den Straßen nicht mehr hinterherlaufen“, sagt Allisat. Ihre Arbeit hätten sie auch schon vor Corona Stück für Stück in weniger sichtbare Rahmen verlagert. Matti Lehmann stimmt ihr zu: „Der Onlineprotest ist nicht perfekt – er nimmt etwas von der Magie weg. Aber genauso, wie wir vor einem Jahr lernen mussten, eine Demo zu organisieren und Pressemitteilungen zu schreiben, müssen wir eben jetzt lernen, wie man online Klimaprotest macht.“
In der Leipziger Ortsgruppe wollen sie dennoch auch auf der Straße sichtbar bleiben. Wie genau das am 24. April aussehen wird, das hängt auch davon ab, was gerade erlaubt ist. „Wir versuchen gerade alle, herauszufinden, was geht und was nicht“, sagt Lisa Allisat. Die Studentin sieht sich schlecht informiert. „Ich muss als Bürgerin wissen: Was darf ich? Und was passiert, wenn ich gegen die Vorgabe verstoße?“ Auch wenn viele Maßnahmen gegen die Pandemie sinnvoll seien – die Auflösung von Demonstrationen in Frankfurt oder Hannover trotz Einhaltung des Abstandsgebots empfindet sie als unverhältnismäßig.
Während sich Klimaprotest und staatliche Maßnahmen an dieser Stelle ausschließen, kommen sie sich an anderer Stelle entgegen: Denn infolge der vielen Einschränkungen wird Deutschland sein Klimaziel für das Jahr 2020 voraussichtlich erreichen. Ein starkes Signal für die Klimabewegung? Nein, findet Protestforscher Philipp Knopp. „Natürlich sieht man jetzt, wie viel Schadstoffe man durch seine alltäglichen Aktivitäten in die Luft bläst. Aber es kann nicht im Interesse von Fridays for Future sein, dass die derzeitigen teils autoritären Maßnahmen in Verbindung mit dem Klimakampf gebracht werden“, warnt er.
Marlon Philipp kann sich über das Erreichen der Klimaziele auch nicht recht freuen. „Das ist die Ironie des Schicksals in einer Sondersituation“, findet er. „Aber es ist nicht der Alltag.“ Welchen Platz auf der Rangliste der Weltthemen das Klima im Alltag der Zukunft, in jener veränderten Normalität haben wird, hängt auch davon ab, wie lange die Coronakrise die Aufmerksamkeit noch fesseln wird. Für Protestforscher Knopp steht jedoch fest: Ohne Bewegungen wie Fridays for Future werden andere Themen auf der Tagesordnung dominieren. „Von allein kommt das Thema nicht zurück“, sagt er.
Line Niedeggen aus Heidelberg blickt optimistisch auf das kommende Jahr – vielleicht auch weil sie selbst schon so manches in ihrem Leben hinter dem Klimaschutz zurückgestellt hat. Sie ist beeindruckt, wie viele Menschen gerade dabeibleiben, und deshalb überzeugt: „Die Leute werden nicht aufhören, sich für das Klima zu engagieren“ – ob auf der Straße oder im Netz, im Stuhlkreis oder auf Zoom, ob bei Fridays for Future oder einer anderen Bewegung. Und auch Matti Lehmann, der allein im sächsischen Wurzen sitzt und die Magie vermisst, bleibt zuversichtlich. „Auch wenn wir uns gerade nicht bewegen“, sagt er, „im Kopf sind wir immer noch sehr bewegt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen