Fortschrittsinfluencer über Zuversicht: „Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“
Angus Harvey sendet stets 40 gute Meldungen mit dem Newsletter „Fix The News“. Linke und Umweltschützer müssten mehr von Effizienz und Fortschritt reden.
Die schlechten Nachrichten in diesem Jahr häuften sich. Optimismus, so hieß es lange gern im Scherz, sei nur ein Mangel an Information. Mit Blick auf das Klima etwa erscheint das vielen heute geradezu unbestreitbar. Die Zukunft erscheint vielen bedrohlich, manche erwarten gar den Kollaps. Doch es gibt Menschen, bei denen ist es umgekehrt: Sie weisen auf empirische Entwicklungen hin, die menschlichen Fortschritt zeigen und Gründe zur Zuversicht geben. In einem Text für die wochentaz hat taz-Redakteur Christian Jakob beschrieben, was sie dem oft fatalistischen Zeitgeist entgegenhalten. Für diese Interviewreihe haben wir ausführlich mit ihnen darüber gesprochen, ob der bisherige menschliche Fortschritt auch all die neuen Krisen übersteht.
taz: Herr Harvey, Sie sagen, dass die Medien dabei versagen, uns die Wahrheit über die Welt zu berichten. Warum?
Angus Harvey: Sie berichten überwiegend von Dingen, die schief laufen. Was gut läuft bekommt einen viel geringeren Anteil an unserer Aufmerksamkeit. Und das Verhältnis ist ungefähr – und ich übertreibe hier nicht – 1.000 zu 1.
Der Ökonom und Journalist aus Sydney ist eine Art Fortschritts-Influencer. Seit über 10 Jahren sendet er seinen „Fix the News“-Newsletter an mittlerweile rund 55.000 Abonnent:innen in der ganzen Welt. Jede Woche sind darin Geschichten vom Fortschritt zu lesen, die nur verblüffen kann, wer seine Informationen normalerweise aus den gängigen Nachrichtenquellen bezieht.
taz: Es ist die Aufgabe der Medien, auf Risiken und Fehlentwicklungen hinzuweisen. Das soll politischen und öffentlichen Druck auslösen, um eine Gesellschaft zur Korrektur zu befähigen.
Harvey: Da ist etwas Wahres dran. Die ursprüngliche Aufgabe des Journalismus war, in die dunklen Ecken zu leuchten. Aber die meisten Menschen, glauben, dass die Medien ihnen ein genaues Abbild vermitteln, was in der Welt vor sich geht. Aber die Nachrichten erzählen nur einen sehr, sehr kleinen Teil dessen, was in der Welt passiert. Sie teilen nicht mit, was in der Welt richtig läuft. Sie wollen provozieren, um Aufmerksamkeit zu erregen, um Licht in die dunklen Ecken zu bringen. Das Ergebnis ist eine völlig verzerrte Wahrnehmung.
taz: Warum, glauben Sie, ist das so?
Harvey: Es gibt kommerzielle Gründe. ‚When it bleeds it leads‘, heißt es. Blutige Schlagzeilen werden geklickt. Das gilt nicht nur für Boulevardmedien. Es ist eine starke evolutionäre Wahrheit, die im Herzen des modernen Medienökosystems liegt. Soziale Medien haben dieses Problem beschleunigt. Für eine Studie werteten Forscher 47 Millionen Schlagzeilen in vorwiegend englischsprachigen Zeitungen zwischen 2000 und 2019 aus. Schlagzeilen, die negative Emotionen wie Angst, Wut oder Ekel ausdrücken, nahmen in dieser Zeit um das Dreifache zu. Schlagzeilen, die positive Gefühle wie Freude, Fortschritt oder Verbundenheit ausdrücken, gingen um etwa die Hälfte zurück. Wir haben also heute sechsmal mehr negative Schlagzeilen als noch vor 20 Jahren.
taz: Wie ist das passiert?
Harvey: Diese Beschleunigung entstand, als um 2009/2010 die Social-Media-Plattformen den chronologischen Feed der Nachrichten durch algorithmische Sortierung ersetzten. Was am häufigsten angeklickt wird, steht seither oben im Newsfeed. Das war der Beginn einer wahren Explosion von Negativität und Angst in den Medien.
taz: Welche Folgen hat das?
Harvey: Dieses Problem ist heute schlimmer als je zuvor zu meinen Lebzeiten. Es ist wie bei einem Kind, das aus der Schule ein Zeugnis mit guten und schlechten Noten bringt. Die Medien sind wie Eltern, die nur auf die schlechten Noten zeigen. Wir zeigen immer nur auf die Fünfen, nie auf die Einsen oder Zweien, die die Menschheit schafft. Wenn wir so auf das Zeugnis schauen, bekommen wir kein genaues Bild davon, wie die Welt vorankommt. Die Einsen oder Zweien sind unsichtbar. 99 Prozent der Menschen auf diesem Planeten sind sich der Fortschritte, die die Menschheit macht, überhaupt nicht bewusst. Diese Voreingenommenheit für schlechte Nachrichten führt dazu, dass die meisten gebildeten, medienkonsumierenden Menschen ein völlig verzerrtes Bild von den Geschehnissen haben.
taz: Ihr Newsletter „Fix the News“ handelt von den Einsen und Zweien, um in Ihrem Bild zu bleiben. Welche Reaktionen bekommen Sie darauf?
Harvey: Viele Menschen reagieren sehr emotional und sehr intuitiv auf gute Nachrichten, weil es so wenig davon gibt. Wir bekommen Hunderte von E-Mails und Brief: ‚Oh mein Gott, ich danke Ihnen.‘ ‚Ich hatte keine Ahnung, dass so etwas passiert.‘ ‚Sie haben meine geistige Gesundheit gerettet.‘ ‚Wir verwenden diese Inhalte in den Schulen.‘ ‚Das ist mein einziger Lichtblick im Wahnsinn der Negativität.‘
taz: Es ist beliebt, Medien eine Mitschuld daran zu geben, dass man an der Welt verzweifeln. Tatsächlich klicken Menschen aber mit großer Vorliebe auf die schlimmen Nachrichten.
Harvey: Wir wurden darauf trainiert, diese Art von Nachrichten zu konsumieren. Und Journalisten sind sehr gut darin geworden, über diese Art von Geschichten zu berichten. Das fällt ihnen leicht. Jede Journalisten Generation kopiert, was vor ihr war. Und es gibt eine lange Kulturgeschichte von Berichten über Schlimmes, Beängstigendes. Tod, Katastrophe und Spaltung – das sind die drei Hauptkategorien von Nachrichten.
taz: Es gibt heute Konstruktivem Journalismus. Ist der besser?
Harvey: Der ist leider ebenfalls schrecklich. Wer „gute Nachrichten“ googelt, findet Geschichten über Kaninchen, die gerettet werden, oder über eine Gemeinde, die einer Oma Geld spendet. Es sind meist kleine, alberne Sachen. Fernsehsender bringen Nachrichtenbeiträge, die ganze Welt bricht darin zusammen. Und am Ende sagen sie: „Hier ist eine gute Nachricht für Sie: ein Hund auf einem Surfbrett.“ Das trägt kaum dazu bei, dass sich die Menschen in der Welt besser fühlen. Und es vermittelt ihnen auch kein genaueres Bild. Sie fühlen sich schlechter, weil sie denken: „20 Geschichten darüber, wie die Welt zusammenbricht, und die einzige Geschichte über Fortschritt, die sie finden konnten, ist ein Hund auf einem Surfbrett.“ Das ist die eine der beiden schlechten Arten, heute gute Nachrichten zu verbreiten.
taz: Und die andere?
Harvey: Die andere Art wird uns in Form von Daten präsentiert. Viele glauben, dass wir den Menschen nur Beweise für Dinge liefern müssen. Wir müssen sagen, dass Millionen von Menschen aus der Armut befreit wurden oder dass die Zahl der Aids-Toten zurückgeht oder was auch immer. Wenn Menschen diese Daten ansehen, dann werden sie verstehen, dass die Welt nicht so schlecht ist, wie sie denken. Aber die meisten Menschen erschließen sich die Welt nicht durch Daten, sondern durch Erzählungen. Aber es gibt kaum Reporter, die versuchen, fesselnde, dramatische, erzählerisch interessante Geschichten über etwas zu schreiben, das in der Welt richtig läuft.
taz: Doch, die gibt’s …
Harvey: … kaum. Ein klassisches Beispiel dafür ist der Malaria-Impfstoff. 50 Jahre lang hat die Welt darauf gewartet. Jetzt haben wir einen. Das ist erstaunlich. Und es ist eine sehr interessante Geschichte über wissenschaftliche Entdeckungen, über Korruption, geheime Absprachen in den Korridoren der Macht. Es ließe sich eine wirklich tolle, dramatische, interessante Geschichte darüber erzählen: Es gibt politische Vorgänge im Hintergrund, unerschrockene Abenteurer, Gruppen, die gegeneinander kämpfen. Der springende Punkt an der Story ist, dass es um die Chance geht, Abermillionen von Leben zu retten. Aber leider sind Journalisten nicht dafür ausgebildet, diese Art von Geschichten aufzuspüren und zu erzählen.
taz: In der Medienbranche gilt es als völlig legitim, die Dinge ein wenig zuzuspitzen, etwas zu übertreiben, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ist das ein Problem in einem Umfeld, in dem die Krisen sich überlagern und die Realität schlimmer geworden ist?
Harvey: Die uralte Praxis der Sensationsgier. Das ist wie ein Junge, der dauend schreit, dass ein Wolf kommt. Wenn er wirklich da ist, glaubt ihm keiner mehr und er wird gefressen. Jetzt also, wo wir wirklich in einer Krise stecken, schreiben die Medien weiter sensationalistisch – meinen Sie das?
taz: Genau.
Harvey: Ich glaube nicht, dass die Medien zu sensationslüstern sind. Ich würde sagen, in den englischsprachigen Medien ist es fast umgekehrt: Den Leute sind die alten Medien nicht sensationslüstern genug. Sie machen die Inhalte nicht interessant genug, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen.
taz: Das ist ein origineller Befund.
Harvey: Aber deshalb haben die sozialen Medien und neue Medienformen wie Podcasts oder YouTube oder Streaming so großen Erfolg und können so viel Aufmerksamkeit erregen.
taz: Ein Beispiel: 2023 gab es eine Studie, laut der sich die Weltmeere seit der Jahrtausendwende um rund 0,075 Grad erwärmt haben. Die Schlagzeile dazu lautete: „3,6 Milliarden Atombomben ins Meer“. Man hatte die zusätzliche Wärmeenergie beziffert und in Äquivalente von Hiroshima-Bomben umgerechnet. Die Leugner der Klimakrise bestärken solche Schlagzeilen und jene, die an Klimaangst leiden, versetzt sowas in Panik.
Harvey: Das ist extrem schädlich. Und das zieht sich durch unsere gesamte Klimaberichterstattung. Die war wirklich schrecklich ungenau. Wissenschaftler warnen seit 30 Jahren, ohne dass etwas passiert ist. Jetzt haben wir Wissenschaftler und Journalisten, die immer weiter eskalieren, um zu versuchen, die Aufmerksamkeit zu gewinnen.
taz: Bringt das etwas?
Harvey: Nein. Studien zum Medienkonsum zeigen, dass das Schreien und die beängstigenden Schlagzeilen über die globale Erwärmung, die die Welt zerstören wird, sehr gut dazu sind, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen. Die meisten Menschen wissen jetzt, dass es so etwas gibt.
taz: Es wirkt nicht so.
Harvey: Nein, denn auf einer Liste von 10 Dingen, die man tun kann, um die Menschen zum Handeln zu bewegen, steht die Angstmacherei auf Platz 9 oder 10.
taz: 10 ist dabei das Schlimmste?
Harvey: Ja, 10 ist das Schlimmste. Es ist also ganz unten auf der Liste. Eine beängstigende Schlagzeile erregt Aufmerksamkeit, bewegt aber nicht zum Handeln und ändert keine Überzeugungen. Die heutige Situation ist das Ergebnis von 50 Jahren Untätigkeit. Und Wissenschaftler und Journalisten denken, dass sie nun lauter schreien müssen, damit die Leute endlich zuhören. Und hinzu kommt noch der „Bad News Bias“
taz: Was ist das?
Harvey: Damit sind algorithmisch gesteuerte Medien gemeint, deren Erfolg nach der Anzahl der Klicks beurteilt wird. Wenn also der Guardian oder der Spiegel oder CNN Schlagzeilen textet, dann machen sie nicht eine, sondern mindestens zwei. Dann testen sie parallel, welche die meisten Klicks bekommt. Die Schlagzeile bleibt dann stehen. Wenn Sie nun eine Schlagzeile haben, die besagt, dass die Wahrscheinlichkeit 0,1 Prozent beträgt, dass der Golfstrom in den nächsten 100 Jahren zusammenbricht, dann wird die nicht so oft angeklickt wie eine Schlagzeile, die sagt, dass wir dann alle erfrieren würden. Viele dieser sensationslüsternen Schlagzeilen werden von algorithmischen Medien gesteuert.
taz: Die neuen Erkenntnisse sind objektiv besorgniserregend.
Harvey: Sie sind beängstigend, aber nicht so, wie die meisten in der Öffentlichkeit glauben. Als wir 2015 das Pariser Abkommen schufen, war die Welt auf dem Weg zu einer Erwärmung von etwa plus 4,5 Grad Celsius bis zum Jahr 2100. Aber durch den raschen Zubau von Einführung von Solar- und Windenergie bezieht etwa Deutschland heute etwa zwei Drittel seiner Energie aus sauberen Quellen. Das ist sehr schnell passiert. Auch infolgedessen sind wir jetzt wahrscheinlich auf dem Weg zu plus 2,7°C.
taz: Auch das wäre ausgesprochen dramatisch.
Harvey: Aber es ist wahrscheinlich, dass wir am Ende irgendwo bei plus 1,9 oder 2 Grad landen werden. Das Worst-Case-Szenario von vor fünf Jahren liegt nicht mehr auf dem Tisch. Und was den Zubau sauberer Energien angeht, so läuft es besser, als je erwartet wurde. 2024 könnte es zum ersten Rückgang der weltweiten Kohlenstoffemissionen kommen. Diese Geschichte wird nicht Seite an Seite mit der Geschichte des Untergangs und der Klimazerstörung erzählt. Es gibt nur sehr wenige Klimajournalisten, die die Geschichte erzählen, wie wir die Kurve drücken. Die meisten von ihnen erzählen immer nur die Geschichte, wie alles zusammenbricht.
taz: Die allermeisten Menschen sind nicht bereit, irgendwelche Einschränkungen des Lebensstils zu akzeptieren.
Harvey: Man sollte mehr darüber sprechen, welche Vorteile der Übergang zu sauberer Energie mit sich bringt, darüber, dass es billiger wird, dass wir nicht so viel Energie brauchen, wenn wir diesen Übergang vollziehen, dass zwei Drittel der fossilen Energie schon bei der Erzeugung verschwendet werden. Es muss eine Geschichte der Industrialisierung sein. Deutschland fällt heute als industrielle Führungsnation zurück. Also muss diese Geschichte als Geschichte des Nicht-Zurückfallens verkauft werden. Man muss an den Sinn der Menschen für wirtschaftliche Möglichkeiten, Effizienz und Fortschritt appellieren. Die Linke und die Umweltschützer sind sehr schlecht darin, diese Art von Geschichte zu erzählen. Viele sagen das glatte Gegenteil. Das ist ein großes Kommunikationsproblem der Linken. Menschen gelangen zu ihren Überzeugungen durch eine Kombination aus Gemeinschaft, Kultur, Religion, Ort, Geografie und vor allem durch Erzählungen und Geschichten. Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat.
taz: Meinen Sie das, was man heute gern Tribalismus nennt?
Harvey: Das als Stammesdenken zu sehen ist zu einfach, weil die Menschen zu vielen verschiedenen Arten von Stämmen gehören können, um in dem Bild zu bleiben. Ich könnte jemand sein, der Trump wählt, und gleichzeitig ein Umweltschützer ist, der glaubt, dass Palästina ein Opfer ist und dass meine Tochter das Recht auf Abtreibung haben sollte. Das Problem mit der Tribalismus-Vorstellung ist, dass wir Menschen einer Gruppe zuordnen und glauben, dass alle aus dieser Gruppe ähnlich wählen und denken. Aber echte Menschen sind viel komplexer.
taz: Was heißt das für die Frage, wie man dem Fatalismus entgegentreten kann?
Harvey: Menschen, die an die liberale Demokratie glauben oder sich selbst als fortschrittlich oder links sehen, müssen lernen, bessere Geschichten darüber zu erzählen, was das Ziel ihres Projekts in der heutigen Welt ist. Eine Geschichte über Moral reicht dafür nicht, eine über Identität auch nicht. Es reicht auch nicht, nur zu erzählen, was fair ist und was nicht.
taz: Ok, was dann?
Harvey: Es muss eine Geschichte darüber sein, was die Interessen der Menschen anspricht, die die Menschen dort abholt, wo sie sind. Es muss ihnen erklären, warum eine bestimmte Politik oder ein Bündel von Maßnahmen ihnen auf lange Sicht wahrscheinlich zugute kommt. Progressive können das nicht gut.
taz: Das tut die Linke die ganze Zeit.
Harvey: Nein. Ein gutes Beispiel dafür ist die Dekarbonisierung Deutschlands, der fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, die sehr stark industriell geprägt ist. Anders als die meisten Volkswirtschaften in Europa und dem Rest der Welt bezieht Deutschland heute etwa zwei Drittel seines Stroms aus sauberen Quellen. Vor sieben Jahren waren es noch 38 Prozent. Die Dekarbonisierung ist viel schneller vonstatten gegangen, als vor 5 Jahren gedacht. Eine sehr gute Nachricht, die sehr unterschätzt wird.
taz: Es ist eher so, dass der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck sehr viel Hass abkriegt, weil viele davon überzeugt sind, dass er die deutsche Energieversorgung ruiniert hat und die Industrie deshalb das Land verlässt. Allerdings erklärt er selber durchaus, warum die Energiewende sinnvoll ist.
Harvey: Die Grünen oder die Linken waren offenkundig nicht in der Lage, die Geschichte der Dekarbonisierung so zu erzählen, dass sie viele überzeugt. Sie haben einfach die Arbeit gemacht und dann gesagt: „Schaut euch die Daten an.“ Aber die Leute schauen sich die Daten nicht an. Und wenn es eine Lücke in der Erzählung gibt, stürzen sich andere darauf, diese Lücke zu füllen.
taz: Auch viele Medien weisen durchaus auf positive Entwicklungen etwa bei den Erneuerbaren in Deutschland hin. Das Misstrauen ihnen gegenüber ist aber gewachsen. Viele trauen etablierten Medien nicht mehr. Wie sollen sie da diese Geschichten erzählen?
Harvey: Nach der Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert dauerte es etwa 30 Jahre, bis die Menschen verstanden, dass sie nun alles, was sie wollen, auf ein Flugblatt drucken und an Zehntausende verteilen können. Es kam dann zu einer Entwicklung, die der heutigen sehr ähnlich ist.
taz: Damals wurden dann vor allem apokalyptische Pamphlete gedruckt.
Harvey: Ja, apokalyptische, aber auch andere Formen von Fake News mit denen die Verfasser ihre Interesse verfolgten. Es dauerte noch etwa 150 Jahre, bis man davon wegkam. Dann wurden Institutionen geschaffen, in denen Informationen zentralisiert wurden, so dass Menschen Vertrauen in diese Informationen haben können. Das ist die Grundlage der modernen Praktiken des Journalismus, die diesem Glaubwürdigkeit verleihen: Die Überprüfbarkeit von Quellen, Zitierfähigkeit, die Idee, dass man als Nachrichtenorganisation einen Ruf hat und dass dieser Ruf auch wieder verspielt werden kann.
Das Internet führte an einen Punkt, an dem Kulturunternehmer verstehen, dass sie alles schreiben können, was sie wollen, und dass der Gewinner die beste Geschichte ist – nicht die Person mit den genauesten Fakten. Es wird wahrscheinlich noch etwa eine Generation dauern, bis es im Netz wieder vertrauenswürdige vertrauenswürdige Zentren journalistischer Exzellenz gibt. Aber bis dahin, in den nächsten 20 oder 30 Jahren werden wir eine interessante Ära erleben, in der nicht die beste Information, sondern die beste Geschichte gewinnt.
taz: Was macht Sie so optimistisch, dass sich die Dinge innerhalb einer Generation so entwickeln werden? Warum glauben Sie, dass die politischen, technologischen und wirtschaftlichen Bedingungen es erlauben werden, in einen solchen Zustand wiederherzustellen?
Harvey: Weil die Autoritären zu einfache Antworten auf das haben, was in der Welt falsch läuft. Sie sagen, das Problem sei eine bestimmte Gruppe von Menschen. Aber so ist nicht. Die Welt ist hochkomplex. Und wenn sie genug Zeit haben, werden die Menschen verstehen, dass die Geschichten, die diese Kulturunternehmer ihnen verkaufen, nicht wahr sind. Aber wir sind noch sehr früh in dieser Phase.
taz: Soziale Kämpfe und Technologie haben sich bislang zu einer Periode des allgemeinen Fortschritts akkumuliert. Nun kommen Autoritarismus, eine dysfunktionale öffentliche Kommunikation, Ultralibertäre wie Milei, die den Staat zerstören wollen, Kleptokraten wie Viktor Orbán. Untergräbt das nicht die Voraussetzungen für die bisherigen Entwicklungen, die Wohlstand und Bürgerrechte wachsen ließen?
Harvey: Ich bin nicht überzeugt, dass der bisherige Trend anhält. Aber wir werden in vielen Bereichen weiterhin Fortschritte sehen: Einen Anstieg des Lebensstandards weltweit, wie werden weiterhin einen Rückgang der Armut sehen, unglaubliche Fortschritte im Bereich der globalen Gesundheit, wir werden größtenteils weitere Fortschritte bei den Menschenrechten sehen.
taz: Warum glauben Sie das?
Harvey: In vielen Ländern werden die Rechte der Frauen liberalisiert, die Homo-Ehe wird in immer mehr Ländern eingeführt, die Todesstrafe in immer mehr Ländern abgeschafft. Auf einer grundlegenden Ebene sehen wir also eine Ausweitung der Rechte und der Toleranz. Das sind wichtige Nachrichten in Bezug auf den menschlichen Fortschritt. Die Krise der biologischen Vielfalt aber verschlimmert sich. Es sieht nicht so aus, als würden wir dieses Problem lösen. Und auch wenn wir beginnen, die CO2-Emissionskurve zu drücken, werden wir immer noch dramatische Klimaauswirkungen erleben, Migrationsprobleme. Vielleicht setzt Russland seine Aggressionen in Europa fort, vielleicht kommt es zu Konflikten im Osten rund um Taiwan, vielleicht bricht im Südchinesischen Meer ein Konflikt aus. Es ist eine Zeit großer Unsicherheit. Ich weiß nicht, ob wir eine einzige Geschichte des Fortschritts sehen. Aber wir werden weiterhin Elemente des Fortschritts während der kommenden, wahrscheinlich sehr turbulenten 20 oder 30 Jahre sehen.
taz: Und danach?
Harvey: Dann werden wir mehr darüber wissen, ob es die Geschichte des Zusammenbruchs oder die Geschichte der Erneuerung war. Wenn es die Geschichte der Erneuerung und des Fortschritts sein soll, brauchen wir mehr Menschen, die darüber sprechen. Um auf die Metapher mit dem Zeugnis zurückzukommen: Wir könnten eine ganze Reihe von Einsen bekommen, aber wenn niemand auf diese Einsen hinweist, ist es unwahrscheinlicher, dass wir sie in Zukunft weiter bekommen.
taz: Bekommen Sie Reaktionen von Leuten, die sagen, dass das, was Sie tun, angesichts der offensichtlich katastrophalen Nachrichtenlage verrückt ist?
Harvey: Wir beschreiben in jedem Newsletter 40 bedeutende Fortschritte. Es ist sehr schwierig, jede Woche 40 solcher Artikel zu erhalten und dann zu sagen dass alles schrecklich ist. Es mögen schreckliche Dinge in der Welt passieren, aber nicht alles, was passiert, ist schrecklich.
taz: Sind die Menschen nicht irritiert?
Harvey: Sie sind nur erleichtert, nicht verärgert. Sehen Sie sich an, dass Malaria in Ägypten ausgerottet wurde. In Ägypten leben 100 Millionen Menschen, und Malaria ist in Ägypten seit 8000 v. Chr. endemisch. Es gibt Aufzeichnungen über Malaria, die so weit zurückreichen, dass Schätzungen zufolge zeitweise bis zu 70 Prozent der ägyptischen Bevölkerung an Malaria starben. Die Krankheit hat die Menschheit an einem der Orte begleitet hat, an dem sie am längsten lebt. Nun wurde sie im Oktober 2024 in Ägypten ausgerottet. Das ist vielleicht eine der größten Geschichten, die es je gab, und ich kann mir keine größere Geschichte vorstellen als diese. Und doch gab es in den Mainstream-Medien fast nichts, fast gar keine Berichterstattung.
taz: Die taz hat darüber geschrieben.
Harvey: Es gab nichts in der New York Times, es gab eine Erwähnung in der BBC, nichts im Guardian, nichts in der Washington Post, nichts in der Daily Mail. Das sind die meistgelesenen englischsprachigen Nachrichtenseiten. Bei Al Jazeera wurde es einmal erwähnt. Und es gibt mehr solcher Beispiel: Jordanien hat Lepra eliminiert – als erstes Land der Welt. Vietnam, Pakistan und Indien eliminierten Trachoma, die weltweit wichtigste Ursache für vermeidbare Erblindung. Allein in Indien leben 1,4 Milliarden Menschen, Trachoma war die Hauptursache für infektiöse Blindheit dort. Timor-Leste hat die Elefantiasis eliminiert, Brasilien auch. Die Liste ließe sich fortsetzen. Es handelt sich um Krankheiten, die Hunderte von Millionen von Menschen betroffen haben und seit Hunderten von Generationen Leid verursachen. All das geschah in der jüngsten Vergangenheit. Es ist schwierig, sich das anzusehen und dann zu sagen, dass alles zusammenbricht, dass die Welt so schlimm ist wie nie zuvor.
taz: Ihr Beruf ist, auf positive Entwicklungen zu schauen. Wenn Sie Nachrichten über Gaza, die Ukraine, den Sudan, Trump lesen – fühlen Sie sich durch Ihre Arbeit widerstandsfähiger dagegen?
Harvey: Nein, es berührt mich. Ich rege mich wirklich darüber auf. Wenn ich die Berichte über die humanitäre Krise im Sudan lese, finde ich das absolut verheerend. Ich lese, was in Gaza passiert. Ich kann nicht glauben, wie die Welt darauf reagiert. Aber meine Arbeit erlaubt es mir, diese Nachrichten zu betrachten und nicht zu verzweifeln. Denn gleichzeitig lese ich, dass wir im letzten Jahr 150.000 Menschen vor Tuberkulose gerettet haben, und ich lese, dass 160 Millionen Schulkinder auf der ganzen Welt jetzt mit Schulspeisungen versorgt werden, und das ist ein Anstieg gegenüber 100 Millionen vor einem Jahr. Für jede herzzerreißende, erschütternde Geschichte gibt es eine Geschichte, die genauso oder noch viel kraftvoller ist. Ich versuche, der Geschichte vom Zusammenbruch und der von der Erneuerung in meinem Kopf gleich viel Gewicht haben.
taz: Gibt es Dinge, die Sie grundsätzlich an Ihrem positiven Weltbild zweifeln lassen?
Harvey: Ich habe große Zweifel. Ich dachte zum Beispiel immer, die liberale Demokratie sei eine Geschichte, die sich von selbst durchsetzt. Es scheint mir so offensichtlich zu sein, dass dies die richtige Regierungsform ist. Daher bin ich wirklich schockiert, dass die liberale Demokratie gerade einfach nicht gewinnt. Ich finde das verwirrend. Mein Weltbild wird also ständig erschüttert, ich bin oft verzweifelt, zuletzt bei der Wahl von Trump. Ich kann nicht begreifen, warum 75 Millionen Menschen für so jemanden stimmen konnten. Es erschüttert meine moralischen Grundlagen erschüttert. Aber es gibt gleichzeitig so viele Menschen, die sich dafür einsetzen, dass die Dinge besser werden. Und wenn ich meine Aufmerksamkeit auf diese Menschen richte, dann ist das ein Ort, zu dem ich immer zurückkehren kann, wenn mein Weltbild einen Schlag ins Gesicht bekommt.
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