Flüchtlingspolitik im Bundesrat: Kretschmanns Alleingang
Im Bundesrat könnten die Grünen die Ausweitung der „sicheren Herkunftsstaaten“ blockieren. Doch Winfried Kretschmann dealt mit der Kanzlerin.
Was er nicht sagt, ist, dass der mächtige Grüne offenbar schon länger einen Kompromiss mit Angela Merkels Regierung aushandeln will. Der taz liegen jetzt Belege vor, dass Kretschmann sein Ja im Bundesrat anbietet, wenn er dafür Gegenleistungen bekommt. Er prüft also nicht nur, er sondiert schon längst. Er hat Peter Altmaier, dem Chef des Bundeskanzleramtes und Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, sogar konkrete Wünsche übermittelt.
Nun sind Kuhhandel in der Länderkammer keineswegs unüblich, sondern eher die Regel. Doch Kretschmanns Deal birgt einige Brisanz. Er verstieße gegen die Parteilinie, schließlich hat ein Grünen-Parteitag das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten erst im November für „falsch“ erklärt. Wichtiger aber ist, dass Kretschmann mit den Absprachen einen Alleingang unter den Grünen hinlegt. Er agiert an seinen in acht anderen Bundesländern mitregierenden Parteifreunden vorbei.
Viele wichtige Grüne sind angesichts des Solos fassungslos. „Was Kretsch da abzieht, ist unmöglich“, schimpft ein gut vernetzter Landespolitiker. „Sein Egoismus schadet anderen Grünen, die sich ebenfalls im Wahlkampf befinden.“ Das Verhalten des Baden-Württembergers verstoße gegen alle Verabredungen, wütet eine andere Parteistrategin. Was ist da los? Eine Spurensuche, die einiges über Kretschmann und seine Partei erklärt.
Zustimmung gegen Klarheit bei Altfällen
Alles beginnt mit einer Idee der Koalition, über die vermutlich noch Montagabend entschieden wird. Warum nicht den Bundesrat schon vor den wichtigen Landtagswahlen am 13. März über die sicheren Herkunftsstaaten abstimmen lassen? Vor allem die wahlkämpfenden CDU-Landesverbände in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz würden davon profitieren.
Die meisten BürgerInnen finden es nämlich richtig, Menschen schnell in die nordafrikanischen Staaten abzuschieben – gerade nach der sexualisierten Gewalt in der Kölner Silvesternacht. Die CDU könnte sich durch einen schnellen Beschluss als Hüterin der Sicherheit aufspielen und die zögerlichen Grünen in den Senkel stellen.
Dass Kretschmann ein solches Szenario mit aller Macht vermeiden will, ist nachzuvollziehen. Er ließ offenbar schon vor einigen Tagen im Kanzleramt vorfühlen, ob nicht ein Kompromiss möglich sei. Sein Ja – gegen eine gesichtswahrende Zusage der Koalition. Zwei Punkte will Kretschmann verhandeln: eine Vereinfachung in asylrechtlichen Eilverfahren und eine Altfallregelung für seit Jahren in Deutschland lebende Flüchtlinge.
Beides präzisiert ein am 11. Februar verfasster, interner Forderungskatalog. Verfasst hat ihn Volker Ratzmann, Chef der politischen Abteilung der Landesvertretung Baden-Württembergs in Berlin, ein enger Vertrauter Kretschmanns und sein wichtigster Mann in der Hauptstadt. Besonders die Altfallregelung ist ein grünes Herzensanliegen. Ratzmann schlägt in dem Papier eine Stichtagsregelung vor. Alle Ausländer, die vor dem 31. Dezember 2013 eingereist sind und nur eine Duldung haben, bekämen eine Aufenthaltserlaubnis. Dies beträfe weniger als 20.000 Menschen, schreibt Kretschmanns Vertrauter, „eine überschaubare, aber dennoch relevant entlastende Größenordnung“.
Ob das viel ist oder nicht, ist eine Frage der Sichtweise – beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stauen sich im Moment rund eine Million Verfahren. Die Kretschmann-Forderungen gingen ans Kanzleramt, die Grünen in Hessen signalisierten dem Vernehmen nach, im Zweifel mit zu ziehen. Für die Bundesregierung wäre das ein extrem wichtiges Signal: Wenn Baden-Württemberg und Hessen zustimmen, hätte Merkels Gesetzentwurf im Bundesrat die nötige Mehrheit.
Protest aus Rheinland-Pfalz
Die Grünen, die in den sieben anderen Bundesländern mitregieren, erfuhren erst später von dem angedachten Deal, nämlich am Wochenende. Am Samstag telefonierten Kretschmann und die grünen Vizeregierungschefs der anderen Länder. Eine Telefonkonferenz des „G-Kamins“ war anberaumt. So heißt bei den Grünen die Runde der Grünen-Länder, die maßgeblich die Geschicke im Bundesrat mitbestimmt und regelmäßig gemeinsame Strategien abspricht.
Als die Schalte stand, warb Kretschmann für seine Asylofferte an Merkel. Der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir, der in einer schwarz-grünen Koalition regiert und ebenfalls zugeschaltet war, zeigte sich offen. Beide argumentierten intern immer wieder, in der Flüchtlingspolitik müsse man auch auf die Ängste in der Bevölkerung achten. Die anderen Teilnehmer der Telefonschalte äußerten sich skeptisch. Grüne aus Schleswig-Holstein und Hamburg gaben zu Protokoll, dass sich die Basis zunehmend klare Kante Wünsche.
Die Rheinland-Pfälzerin Eveline Lemke protestierte am entschiedensten. Die Grünen in Rheinland-Pfalz befinden sich wie Kretschmann im Wahlkampf. Für Kretschmann wäre ein Ja zu den sicheren Herkunftsstaaten eine Entlastung, weil er der CDU in seinem konservativ grundierten Bundesland den Wind aus den Segeln nehmen könnte.
Doch für die Rheinland-Pfälzer wäre ein solcher Deal ein Gau. Die dortige Grünen-Basis ist klar gegen mehr sichere Herkunftsstaaten, die Grünen-Führung hätte plötzlich ein massives Mobilisierungsproblem. Daniel Köbler, Fraktionschef in Rheinland-Pfalz, sagt: „Es ist unverantwortlich, ein Land wie Marokko als sicher zu deklarieren – und möglicherweise sogar verfassungswidrig.“
Es wäre interessant zu wissen, was Kretschmann oder Al-Wazir zu solchen Widersprüchen ihrer Strategie sagen. Die taz bat am Montag beide um Stellungnahmen. Kretschmanns Sprecher Rudi Hoogvliet sagte, die Landesregierung stehe in Sachen Flüchtlingspolitik „in regelmäßigem Kontakt“ mit der Bundesregierung und dem Koordinator für Flüchtlingsfragen, Peter Altmaier. „Dies sind jedoch vertrauliche Gespräche über deren Inhalt wir keine Auskunft geben.“ Al-Wazir ließ über seinen Sprecher nur einen knappen Satz ausrichten: „Das Wesen von internen Telefonkonferenzen ist, dass sie intern sind.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten