Familienmodell der Frühgeschichte: Archäologisches Traumpaar
Archäologische Beschreibungen frühzeitlicher Gemeinschaften sind oft nur Klischees. Die Geschlechterrollen werden zunehmend infrage gestellt.
Fernsehdokumentationen und Populärliteratur über frühe Formen menschlichen Zusammenlebens greifen immer wieder auf das Stereotyp des jagenden Mannes und der sammelnden Frau zurück. Man sieht zum Beispiel eine Horde starker Männer zusammen einem Großwild hinterherjagen. Während die Stimme im Off einen der männlichen Protagonisten vorstellt, schwenkt die Kamera auf eine junge Frau an einer Feuerstelle, die ein Kleinkind in ihren Armen hält. Im Kommentar wird sie als seine Frau mit ihrem ersten gemeinsamen Baby präsentiert. Er erscheint dabei als Haupternährer, während sie mit ein paar Beeren zum Menü beiträgt.
Ähnlich klischeebehaftet sind oft auch archäologische Beschreibungen prähistorischer Formen menschlicher Gemeinschaften. So analysierte eine Studie der Universität Basel aus dem Jahre 2009 (pdf-Datei), wie frühgeschichtliche Familien in archäologischen Publikationen dargestellt werden: Fast immer wurden sie als biologisch verwandte Gruppe beschrieben, in deren Zentrum ein heterosexuelles, monogames Paar mit seinen Kindern, Eltern oder anderen Verwandten stand.
Auch wenn das Thema Familie in den meisten Publikationen nur am Rand auftauchte, war es im Verborgenen immer präsent: in der selbstverständlichen Annahme, dass das Familienmodell der Frühgeschichte dem Familienideal der bürgerlichen Gesellschaft entspricht.
Die Schweizer Forscher nannten diese Formation die „archäologische Familie“, weil die Darstellung nicht so sehr auf Forschungsergebnissen basierte, sondern das Ergebnis der Rückprojektion der bürgerlichen Kleinfamilie des 19. Jahrhunderts in die Vergangenheit war. Dies hat bis heute zu einer Randständigkeit der Geschlechterforschung in den Curricula der Altertumswissenschaften geführt. Denn wo Geschlechterverhältnisse stillschweigend als bekannt vorausgesetzt werden, gibt es auch keinen Forschungsbedarf.
Anderseits haben sich durch die Fortschritte der Prähistorischen Anthropologie, insbesondere der Molekulargenetik, in den letzten 20 Jahren geschlechtsspezifische Zuschreibungen aufgelöst. In manchem Kriegergrab wurde eine Kriegerin gefunden, Keltenfürsten entpuppten sich als Fürstinnen und auch ganz ohne DNA-Analyse hat ein geschlechterpolitisch geschärfter Blick manch frühes Epos nachträglich als Werk einer Autorin enttarnt.
Dürftige Quellenlage
Weder für das Jäger-Sammlerinnen-Modell noch für spezifische Formen des Zusammenlebens lassen sich in den 2,5 Millionen Jahren Altsteinzeit und der anschließenden Jungsteinzeit jedoch eindeutige archäologische Befunde finden. Für die Urgeschichte ist die Quellenlage besonders dürftig. Die Skelettfunde sind meistens unvollständig und lassen aufgrund des Alters keine Geschlechtsbestimmung zu.
Auch materielle Artefakte sagen letzten Endes wenig über das Geschlecht ihrer Benutzer*innen aus. Niemand kann mit Sicherheit wissen, ob ein Mann oder eine Frau ein Beil oder einen Faustkeil in den Händen hielt. Frühe Menschen könnten also eine Vielzahl von Tätigkeiten ausgeführt und in den unterschiedlichsten Beziehungs- und Gemeinschaftsformen gelebt haben.
Zwar lassen sich etwa ab dem 27. Jahrhundert vor unserer Zeit in Europa und Westasien biologische Kernfamilien nachweisen. Ob sie jedoch dem Familienmodell der bürgerlichen Moderne entsprachen, darf mit Recht bezweifelt werden. „Familien“ im Vorderen Orient hatten eher die Struktur einer Haushaltsgemeinschaft, in der auch Diener und Sklaven lebten. Im Athen der klassischen Antike waren für die Oberschicht zwar Heirat und Familie vorgesehen, dienten aber vor allem der Besitzerhaltung und familiären Reproduktion. Romantik, Sex und Leidenschaft wurden von den männlichen Athenern jedoch im Einklang mit den gesellschaftlichen Normen in der Knabenliebe und im Umgang mit Hetären ausgelebt.
Nur eine Fiktion
Es ist also keinesfalls die empirische Evidenz, die für das Jäger-Sammlerinnen-Modell und das damit verbundene Familienbild spricht. Dass es trotzdem als der Prototyp für die Geschlechterorganisation früher Gesellschaften gilt, hat andere Gründe. Es ist nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil es angesichts immer unübersichtlicher werdender Beziehungs-, Geschlechter- und Familienformen die Fiktion eines unveränderbaren Ur- und Naturzustandes birgt.
Gegen die mit dem gesellschaftlichen Wandel einhergehenden Verunsicherungen werden, wie die Basler Archäologieprofessorin Brigitte Röder feststellt, Jäger und Sammlerin mit ihren gemeinsamen Kindern zu Projektionen eines „Traumpaars“, das mit dem „Blick zurück in die Vergangenheit Orientierung und festen Boden unter den Füßen verschafft.“
Gleichzeitig werden damit auch die traditionellen Geschlechterrollen legitimiert. Wie Julia Katharina Koch vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Uni Kiel nachweist, hatte bereits die beginnende archäologische Forschung im 19. Jahrhundert die Frauenbewegung mit dem Verweis auf naturgegebene, immer schon bestehende Geschlechterrollen zu desavouieren versucht. So hatte zum Beispiel Gustaf Kossinna, der die erste Professur für prähistorische Archäologie an der Universität Berlin innehielt, als Antwort auf weibliche Gleichheitsbestrebungen „streng getrennte Wirkungskreise für Mann und Frau in der Vorgeschichte “ postuliert.
Kossinna war nicht nur Antifeminist, sondern auch Antisemit und Propagandist völkischer Ideen. Sein Hauptforschungsinteresse galt dem Germanenkult und dem Nachweis der Überlegenheit der „Weißen Rasse“. Dass die Kombination von Rassismus und Antifeminismus auch heute noch funktioniert, lässt sich an den Programmen rechter Parteien ablesen. Ihr Geschäftsmodell ist die Bezugnahme aufs Primordiale als eines unveränderbaren Urzustands, den sie gegen die Zumutungen der Moderne in Anschlag bringen. Ähnlich der Vorstellung eines immer schon bestehenden nationalen Kollektivs ist auch die Fiktion eines seit Urzeiten existierenden und deshalb natürlichen Geschlechterantagonismus für die politische Rechte konstitutiv.
Konstruiertes Geschlecht
Durch die von den Schriften Judith Butlers ausgelöste Diskussion, die nicht nur das soziale, sondern auch das biologische Geschlecht als konstruiert begreift und die Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellt, fühlen sich neurechte Strömungen daher aufs Äußerste bedroht. Sie werden als Angriff auf die natürliche Geschlechterordnung verstanden und als „Genderwahn“ diskreditiert.
Zum Glück können Archäologie und Prähistorische Anthropologie zur Destruktion solcher Geschlechterbilder beitragen. Obwohl im akademischen Diskurs oft vergessen oder ignoriert, verfügen sie über einen Fundus an Wissen, das traditionelle Geschlechtervorstellungen konterkariert. Man kann – um nur ein paar Beispiele zu nennen – in der Ur- und Frühgeschichte Bogenschützinnen und Kriegerinnen, Männer am Webstuhl und Frauen im Bergwerk finden.Es gab neolithische Siedlungen, die Verwandtschaftsverhältnisse komplett ignorierten, und Frauengemeinschaften, die über großen Reichtum verfügten. Man kann Zeugnisse von Menschen entdecken, die nicht in ihrem Geburtsgeschlecht lebten und homosexuelle Paare, die die Zeichen ihrer Zuneigung für ewig in ihren Grabkammern festhielten.
Dieses Wissen zu bergen und an die Öffentlichkeit zu bringen ist angesichts regressiver gesellschaftlicher Diskurse auch eine politische Notwendigkeit.
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