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Faktencheck SozialausgabenDas sagenumwobene Bürgergeld

Der Sozialstaat ist zu teuer, Kürzungen beim Bürgergeld sind geboten: Die Parteien debattieren über eine Reform. Welche Mythen stimmen, welche nicht.

Über das Bürgergeld wird immer wieder debattiert Foto: Gerhard Leber/imago

Mythos 1: Der Sozialstaat ist in seiner jetzigen Form nicht mehr finanzierbar

Mit diesem Evergreen tingelt Friedrich Merz derzeit über CDU-Landesparteitage. Tatsächlich gab Deutschland im vergangenen Jahr 1,3 Billionen Euro für Sozia­les aus, ein Drittel kommt aus dem Staatshaushalt, zwei Drittel von Sozialversicherten und Arbeitgebern. Gemessen an der wirtschaftlichen Gesamtleistung, also am Bruttoinlandsprodukt, geben die Deutschen rund 30 Prozent für die soziale Fürsorge aus.

Mit dieser Quote liegt Deutschland auf einem vergleichbaren Niveau mit anderen reichen Industrieländern, wie das Institut für Makroökonomie (IMK) analysiert. Der Direktor des IMK Sebastian Dullien widerspricht daher der „Mär vom aufgeblähten Sozialstaat“. SPD-Vorsitzende Bärbel Bas sprach noch drastischer von einer „Bullshit-Debatte“.

Mythos 2: Die Sozialausgaben steigen unkontrolliert

Behauptete unter anderem AfD-Chefin Alice Weidel im Bundestag und steht damit mit der Union in Einklang. Doch ein solcher Anstieg ist nicht belegt. Dem IMK zufolge wuchsen Deutschlands Sozialausgaben in den letzten Jahrzehnten moderater als jene in anderen Industrieländern. Während die Ausgaben hierzulande um ein Viertel stiegen, expandierten sie etwa im Nachbarland Polen um 126 Prozent.

Die Ausgaben fürs Bürgergeld sind 2024 um 4 Milliarden auf 47 Milliarden angestiegen, was einem Anstieg im Jahresvergleich von rund 9 Prozent entspricht. Grund ist vor allem die inflationsbedingte Erhöhung der Regelsätze. Aktuell bekommen Alleinstehende 563 Euro, dazu werden eine „angemessene“ Miete und die Heizkosten übernommen. In diesem und im nächsten Jahr werden die Sätze nicht erhöht – für die Betroffenen faktisch eine Kürzung.

Mythos 3: Eine Reform des Bürgergelds spart viele Mil­liar­den ein

Noch im vergangenen Jahr behauptete Friedrich Merz, man werde das System vom Kopf auf die Füße stellen und damit zweistellige Milliardenbeträge einsparen. Inzwischen hat er sich korrigiert und gab in dieser Woche ein Einsparziel von 5 Mil­liarden aus. Im zuständigen Arbeits- und Sozialministerium ist man skeptisch. Dort geht man bislang von 1,5 Milliarden Euro aus, die man unter anderem einsparen will, indem man Bür­ger­geld­be­zie­he­r:in­nen schärfer sanktioniert und so zum Arbeiten drängt.

Doch der wirklich entscheidende Faktor ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Die müsse besser werden, damit die Zahl der Bür­gergeld­be­zie­he­r:in­nen signifikant sinkt. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung geht davon aus, dass 100.000 Menschen, die vom Bürgergeld in den Arbeitsmarkt wechseln, die öffentlichen Haushalte um 3 Milliarden Euro entlasten könnten. Arbeitsministerin Bas stellte am Mittwochabend 1 – 2 Milliarden Euro an Einsparungen in Aussicht, falls diese Anzahl von Menschen auf den Arbeitsmarkt käme. Doch wegen der stagnierenden Wirtschaft steigt derzeit vor allem die Zahl der Arbeitslosen, sie liegt aktuell bei 3 Millionen.

Mythos 4: Wer Arbeit verweigert, dem kann das Bürgergeld komplett gestrichen werden

In der Debatte um Einsparmöglichkeiten wird auch dieses Argument hartnäckig wiederholt, etwa von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Erstens liegt der Anteil der „Totalverweigerer“ bei lediglich 0,6 Prozent. Im Jahr 2024 verweigerten rund 23.000 Leis­tungs­emp­fän­ge­r:in­nen Jobangebote und wurden deshalb sanktioniert. Eine komplette Streichung der Leistung erfolgte in keinem Fall, obwohl die Ampelregierung im vergangenen Jahr die Möglichkeit zu zweimonatigen Komplettkürzungen geschaffen hatte.

Miete und Heizkosten zahlt der Staat jedoch weiterhin, um Obdachlosigkeit zu vermeiden. Menschen dauerhaft die staatliche Fürsorge vollständig zu entziehen, ist dagegen rechtlich nur in extremen Ausnahmefällen möglich. Der Staat ist qua Grundgesetz verpflichtet, ein menschenwürdiges Existenzminimum und ein Mindestmaß an Teilhabe zu gewährleisten.

Mythos 5: Mit dem Bürgergeld lohnt sich Arbeit nicht mehr

Diese Behauptung stellen Unionspolitiker immer wieder in den Raum, obwohl sie mehrfach widerlegt wurde. Nicht nur vom DGB, auch das Münchener Ifo-Instut hat für Alleinstehende und Familien durchgerechnet, dass Arbeit sich auszahlt. Wer zum Mindestlohn arbeitet und Miete zahlt, hat mehrere hundert Euro mehr zur Verfügung als jemand, der ausschließlich Bürgergeld bezieht.

Wirklich groß ist der Abstand zwischen Arbeit und Nichtarbeit aber nur, wenn Erwerbstätige alle ihnen zustehenden Sozialleistungen – etwa Wohngeld und Kindergeld – auch in Anspruch nehmen. Darüber hinaus gibt es 800.000 Menschen, die zwar einen Job haben, der aber nicht zum Leben reicht, und die zusätzlich Bürgergeld beantragen. Sie zählen in der Statistik als Bürgergeldempfänger:innen.

Mythos 6: Bür­ger­geld­emp­fän­ge­r:in­nen wird mehr Miete gezahlt, als normale Ar­beit­neh­me­r:in­nen sich leisten können

Noch so ein Satz von Friedrich Merz, der wohl aus dem Kosmos „Hat mir mein Fahrer erzählt“ stammt. Der Staat übernimmt die Wohnkosten in „angemessener“ Höhe; was als angemessen gilt, entscheiden die Kommunen. Laut Bürgergeld.org liegt etwa die zulässige Bruttokaltmiete (inkl. Nebenkosten, ohne Heizkosten) in Berlin für 1 Person bei 449 Euro, für 5 Personen bei 904 Euro. Doch oft findet man keine Wohnungen in diesem Preissegment. Jeder 8. Haushalt, der Bürgergeld erhält, muss für die Wohnkosten etwas vom Regelsatz drauflegen. Das geht aus einer Kleinen Anfrage der Linken im Bundestag hervor.

Mythos 7: Das Bürgergeld bekommen reihenweise Menschen, die es nicht brauchen

Diese steile These präsentiert Bayerns Ministerpräsident Markus Söder unwidersprochen im ARD-Sommerinterview. Belege, Fakten? Mit solchen lästigen Dingen hält sich der gelernte Journalist nicht auf. Und tatsächlich findet sich auch kein Beleg für diese Behauptung. Fakt ist: Wer Bürgergeld beantragt, muss nachweisen, dass sie oder er bedürftig ist, und seine gesamten Einkünfte und Ausgaben offenlegen.

Mythos 8: Das Bürgergeld ist ein bedingungsloses Grundeinkommen

Eine Unterstellung der Union, die nahelegt, dass es sich Bür­ger­geld­emp­fän­ge­r:in­nen in der sozialen Hängematte gemütlich machen. Tatsächlich haben sie aber sogenannte Mitwirkungspflichten. Sie müssen etwa erreichbar sein, Termine wahrnehmen, an Maßnahmen teilnehmen bzw. angebotene Arbeit, die ihrer Qualifikation entspricht, annehmen. Von den 5,5 Millionen Emp­fän­ge­r:in­nen können aber nur ein Drittel – 1,8 Millionen – realistisch in Arbeit vermittelt werden. Ein Drittel sind Kinder und Jugendliche, ein weiteres Drittel steht dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, weil sie etwa Angehörige pflegen, oder als Auf­sto­cke­r:in arbeiten.

Mythos 9: Das Bürgergeld ist ein Migrantengeld

Die AfD macht auf der Folie des Bürgergelds Stimmung gegen Ausländer und solche, die sie dafür hält. Der Anteil der Bür­ger­geld­emp­fän­ge­r:in­nen mit ausländischem Pass stieg seit 2022 von 37 auf 48 Prozent. Grund dafür ist, dass Deutschland über eine Million Ukrai­ne­r:in­nen aufgenommen und sie zunächst über das Bürgergeld versorgt hat.

Mythos 10: Das Bürgergeld ist schuld daran, dass so wenige Ukrai­ne­r:in­nen arbeiten

Wird Markus Söder nicht müde zu wiederholen. Das ist doppelt falsch. Fast alle EU-Länder haben Menschen, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine flüchteten, unter besonderen Schutz gestellt. Derzeit arbeiten 35 Prozent der Ukrainer:innen, Tendenz stetig steigend. Zwei Drittel beziehen Bürgergeld, Grund sind vor allem fehlende Kinderbetreuung und mangelnde Sprachkenntnisse. In Ländern wie Rumänien oder Norwegen läuft die Arbeitsmarktintegration noch schlechter.

Mythos 11: Die Vermittlung in Arbeit muss besser werden

Kein Mythos, sondern ein Ziel. Darüber sind sich Po­li­ti­ke­r:in­nen aller Parteien einig. Derzeit werden etwa 5 Prozent der arbeitssuchenden Bür­ger­geld­emp­fän­ge­r:in­nen durch die ­Jobcenter in Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt, wie die Bundesagentur für Arbeit auf Anfrage der taz mitteilte.

Allerdings sei die Erfassung unvollständig, weil sie noch analog erfolge und Vermittlung durch Onlineangebote nicht mitgezählt werde. Doch besonders schwierig ist die Vermittlung der rund 1 Million Langzeitarbeitslosen, also jenen, die schon länger als 12 Monate auf Jobsuche sind. Ein Großteil von ihnen besitzt keinen Berufsabschluss. Es gilt also, diese Menschen zu qualifizieren, damit sie eine gute Arbeit finden. Aber das kostet erst mal und spart erst mittelfristig Geld.

Mitarbeit: Marie Gogoll, Lotte Laloire

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15 Kommentare

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  • Zu Mythos 6: Am zweitstärksten haben die Mieten im Landkreis Kaiserslautern zugelegt, dort sind die Mieten seit Anfang 2022 um 41,7 Prozent gestiegen. Gleichzeitig wird von Wohnungsnot und fehlenden Kitaplätzen berichtet und die Tafeln sind an der Belastungsgrenze. Wenn man davon ausgeht, dass Kaiserslautern nicht seit Neuestem der Hot Spot für die Reichen und Schönen ist, kann das eigentlich nur daran liegen, dass die Stadt für neue Bürgergeldempfänger viel zu hohe Mieten zahlt, die dann wiederum den Mietspiegel hochtreiben.

  • Seit beim Thema "Bürgergeld" ganz vorsichtig mal an die Hyper- und Superreichen gedacht wird, schlafen die vor Angst auf den Bäumen, und Merz, Reiche usw. halten die Leiter beim Raufklettern.

  • Solche Faktenchecks sind wirklich gut und nützlich.



    Das Problem: Diejenigen, die glauben, dass BürgergeldempfängerInnen sich auf Kosten der SteuerzahlerInnen bereichern und man die sozialen Sicherungssysteme abbauen müsse, werden die Daten und Fakten vorsorglich gar nicht erst zur Kenntnis nehmen oder, wenn doch, ihre Korrektheit anzweifeln oder leugnen.

  • Ein weiteres Lügengebilde ist die Lebensarbeitszeit die ja angesichts der gestiegenen Lebenserwartung angehoben werden muss.



    So zumindest die neoliberale Koalition aus CDU und SPD, nicht wahr ?

    Wahr indes ist, dass die Produktivität jedes einzelnen Arbeitsnehmers (also die ausbeutbare Arbeitskraft) sehr viel stärker gestiegen ist als die Lebenserwartung.

    Und das wissen unsere lieben NeoLibs natürlich sehr genau und führen uns somit ganz gezielt um die Fichte.

  • Jede Sozialausgabe muss finanziert werden.



    Die Belastung gerade kleiner und Mittlerer Einkommen durch Sozialabgaben (inkl. Gesundheit / Pflege) ist sehr hoch.



    Es fehlt manachmal ein wenig die Sicht auf den sozialen Aspekt von moderaten Sozialabgaben (nämlich für diejenigen, die sie zu bezahlen haben). Der Staat muss mit dem Geld, welches er den Bürgern aus guten Gründen abnimmt, sinnvoll und sparsam umgehen.

  • Mythos 12: Bei den Bürgergeldempfängern handelt es sich um voll leistungsfähige Menschen, die in der „Blüte ihres Lebens“ stehen und dabei faul auf dem Sofa liegen.







    Tatsache ist, dass viele de facto nicht (mehr) für den Arbeitsmarkt geeignet sind. Aus Gründen des Datenschutzes und der politischen Korrektheit werden Daten dazu nicht erhoben und es wird auch nicht darüber gesprochen.







    Neben der fehlenden oder mangelnden Ausbildung (oft auch kaum Deutschkenntnisse) gehören gesundheitliche Gründe (psychisch und physisch) zu den typischen Vermittlungshemmnissen. Sie reichen nicht für eine Erwerbsminderungsrente, sind aber für Arbeitgeber de facto nicht tragbar: Fatigue nach schwerer Erkrankung (z.B. Krebs), Depression, Alkohol- und Drogensucht, Diabetes, Adipositas, Rückenleiden, häufig: Angstzustände bis hin zu Panikattacken beim Verlassen des Hauses, Minderwertigkeitsthematiken, Folgen von Traumata, starke Schlafstörungen, auch Alter. In der Regel summieren sich mehre Faktoren.

    Was Herr Merz vor hat, ist an Bösartigkeit nicht zu überbieten. Das gesparte Geld fließt ja indirekt an Shareholder. Und es schafft eine Drohkulisse für Lohnsenkungen. Es dient jedenfalls nicht dem Volk.

  • Der Satz "Bürgergeld bekommen massenhaft Menschen, die es nicht brauchen" sagt nicht, dass diese Leute finanziell gut ausgestattet sind.

    Sondern er sagt, dss es an Menschen fließt, die durchaus in der Lage wären, eine Arbeit zu leisten. Wenn man sich anschaut, wo überall offene Stellen angeboten werden, wer in Hotels oder Restaurants die Arbeit macht, dann fragt man sich wirklich, warum so wenig Einheimische und so viele Leute aus zum Beispiel Rumänien dort anzutreffen sind.

    Der Sozialstaat soll nicht gewährleisten, dass man so lange von anderen sein Leben finanzieren lässt, bis man etwas gefunden hat, was in die eigene Lebensplanung passt, sondern es soll die absichern, die nicht in der Lage sind, ihr Leben selbst zu finanzieren.

  • Sehr guter Faktencheck von Anna Lehmann! 👍

    Die deutsche Bundesregierung unter Merz steht nicht nur Sozialabbau, Unternehmenssubventionen und Aufrüstung, sondern als Begleitpropaganda auch entsprechende Fake News in einer Unverschämtheit, die der eines Donald Trump in nichts nachsteht.

    Man kann das auch regelmäßig in der Bundespressekonferenz begutachten, wenn man die dort an den Tag gelegten Frechheiten denn ertragen möchte:

    Hier die neueste Ausgabe von gestern:



    www.youtube.com/watch?v=P0n0-QlfZYc

  • M2: Dieser Vergleich ist komplett nichtssagend. Es geht hier um relative Werte. Polen kommt von einem sehr niedrigen Niveau und steigt deshalb stärker. Wir können daraus nichts über die Größe unseres Sozialsystems sagen. Es ist dann immer eine Frage der Perspektive. Und das die Ausgaben massiv steigen ist ja ein Fakt.

    M5: Das ist kein Mythos sondern stimmt. Durch den Wegfall von Kinderzuschlag bzw Wohngeld hat man im Endeffekt einen Stundenlohn von 1€. Und der Unterschied zwischen Bürgergeld und Mindestlohn ohne ergänzende Sozialleistungen (die eben nicht alle kriegen) ist für eine 40h Woche ein Witz. (Also ja, Löhne müssen rauf).

    M6: Nein das stimmt. Es gibt Karenzzeiten, und wenn sie es nachweisen das sie nix finden auch darüber hinaus. Dazu gibt es im freien Markt eigentlich keine bezahlbaren Wohnungen wenn man nicht im Besitz eine WBS ist. Und selbst wenn, konkurriert man mit anderen die das doppelte und mehr verdienen.

    M8: Naja, mit dem "faktischen" Abschaffen von Sanktionen von der Ampel war es das schon.

    M9: Sie sind trotzdem immer deutlich überrepräsentiert.

    M10: Ja, warum schaffen es dann die Dänen und Holländer viel mehr von ihnen in Arbeit zu bringen?

    • @Duplozug:

      Das sind durchaus bedenkenswerte Einwände. Ich würde noch hinzufügen:



      M1: Dass D mit seiner Quote von Sozialleistungen auf vergleichbaren Niveau mit anderen Industrieländern liegt, widerlegt in keiner Weise M1. Abgesehen davon dass andere Länder etwas andere Voraussetzungen haben, geht es auch um die Frage der Finanzierbarkeit in der Zukunft, und da haben viele der als Vergleich herangezogenen Länder ähnliche Probleme: alternde Bevölkerungen, Schuldenberge, schwächelndes Wirtschaftswachstum, so dass auch in manch anderem Land sich die Frage stellt, ob das Niveau der Sozialleistungen gehalten werden kann. Zum Ende des kalten Krieges betrug Deutschlands Quote der Sozialleistungen 25% vom BIP, Ausgaben für Militär über 2,5%, Staatsverschuldung knapp 40% BIP. Heute Staatsverschuldung 62,5% vom BIP, obwohl für Militär ein viertel Jahrhundert lang weniger als 1,5% ausgegeben wurden, und auch in Infrastruktur zu wenig. Da ist es naheliegend anzunehmen, dass die 30% Quote an Sozialleistungen zu einem bedeutenden Teil überhaupt erst dadurch erreicht werden konnte, indem man Schulden angehäuft, beim Militär gespart und Investitionen versäumt hatte.

  • Sozialausgaben sind Bestandteil einer Strategie des sozialen Ausgleichs, ohne den demokratische Mitbestimmung weiterhin eine Illusion bleibt.

    Der Klassismus ist längst nicht überwunden worden. Auch wenn z.B. feudale Hierarchien abgeschafft wurden und die ökonomischen Zuwächse vergangener Jahrzehnte auch niederen Klassen einen besseren Lebensstandard bescherten, kulturelle Liberalisierung Klassengrenzen verwischt hat, die hierarchische Sozialdifferenzierung nimmt seit den 1990ern wieder zu. Das zeigt sich z.B. an neuen privaten Bildungsangeboten, aber vor allem an zunehmender Ungleichheit bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen. Steuern, Sozialhilfen und solidarische Versicherungssysteme bieten Möglichkeiten sozialer Redistribution, die helfen können, den gesellschaftlichen Reichtum umzuverteilen und Menschen der niederen Klassen mehr Teilhabe in allen Belangen des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen.

    Unabhängig davon, wie man zum sozialen, ökonomischen und politischen System Bundesrepublik steht, sollte man daran denken, dass eine Zunahme der sozialen Spannungen Deutschland disruptiv (und, von manchen erwünscht, wahrscheinlich nach rechts) verändern könnte.

  • "Während die Ausgaben hierzulande um ein Viertel stiegen, expandierten sie etwa im Nachbarland Polen um 126 Prozent."

    Es ist etwas ungeschickt mit relativen Zahlen zu arbeiten, wenn mensch bedenkt, dass Polen von einem ganz anderen Niveau kommt. Für einen Faktencheck wären hier absolute Zahlen besser, oder wenn es doch relative sein sollen, dann eher mit einem Land wie Frankreich vergleichen.

    Abgesehen davon, danke für den aufklärerischen Artikel.

  • Leider fehlen ganz gewichtige Punkte:

    1) Die Krankenkassenbeiträge von Bürgergeldempfängern werden allein aus den Beiträgen der Arbeitgeber/Arbeitnehmer gezahlt. Hierfür gibt es keinen ersichtlichen Grund.

    2) Neben dem Bürgergeld gibt es weitere Sozialleistungen: Asylbewerberleitsungsgesetz, Unterbringung und Grundrente. Und genau dort gibt es erhebliche Steigerungen.

    Letzten Endes ist doch nur wichtig, dass die Quote der Summe der Sozialleistungen an den Gesamtstaatsausgaben nicht weiter steigen und keine Steuern erhöht werden.

  • "Florian Köbler, der Bundesvorsitzende der Deutschen Steuergewerkschaft, bestätigte MDR AKTUELL auf Anfrage, Steuerhinterziehung verursache jährlich einen wesentlich größeren finanziellen Schaden als Leistungsmissbrauch beim Bürgergeld."



    Noch mehr Geld geht dem Staat m.E. aber durch die sogenannte "Steuergestaltung" der Superreichen verloren. Und auch um die Schwarzarbeit sollte sich der Staat mehr kümmern.



    Bei der ganzen Debatte ums Bürgergeld geht es doch nur darum, eine falsche Fährte zu legen. Indem man mit dem Finger auf die Menschen deutet, die ganz unten stehen, versucht man die Wut derjenigen, die jeden Tag malochen gehen, von der Regierung und den Mächtigen weg auf eine Minderheit umzuleiten, die noch ohnmächtiger als man selbst ist. Pfui, schämt euch!

  • Danke, danke, danke! Ich wollte, das würden die BürgerInnen deutschlandweit mal lesen!



    Zwei Sachen möchte ich aber ergänzen:

    Zu Mythos 11: die Vermittlung der Arbeitslosen scheitert auch daran, dass es (sehr nach unten geschönt) etwas über 3 Millionen Arbeitslose gibt, aber nur etwas mehr als 600.000 freie Stellen. Wer den Elefanten in die Konservendose zwängen will, wird scheitern. Eine Strategie wäre, Arbeitsplätze zu schaffen. Und das wäre durch Investitionen möglich, durch Steigerung der Kaufkraft durch einen Mietendeckel und Anhebung von Mindestlohn und Bürgergeld, aber sicher nicht durch Steuergeschenke an Reiche (von Reiche).

    Die Einstellung ist falsch, auch hier wieder. "Wir geben 30% für Sozialausgaben ab" und das wird negativ geframt. Warum machen wir daraus nicht, was es ist: eine Erfolgsstory? Es ist doch gut, dass wir soviel dafür ausgeben. Die Sozialausgaben kommen uns allen zu Gute, was soll schlecht daran sein? Die Geschenke an Reiche kommen nur denen zu Gute. Jegliche Daseinsvorsorge, die ach so viel Geld kostet (immer noch weniger als man jetzt der Rüstungsindustrie schenken möchte), ist für uns, das Volk!