Fahren ohne Fahrschein: Städte verhängen mildere Strafen
7.000 müssen jährlich in Haft, weil sie ohne Ticket erwischt wurden. Der Bund will das Delikt entkriminalisieren. Einige Orte sind schon weiter.
Das hat der Kölner Stadtrat im Dezember 2023 beschlossen. Bisher konnten die Kölner Verkehrsbetriebe KVB Strafanzeige erstatten, wenn ihre Kontrolleur:innen eine Person dreimal innerhalb eines Jahres oder viermal binnen zwei Jahren ohne Fahrschein erwischt haben. Laut Paragraf 265a des Strafgesetzbuches gilt Fahren ohne Fahrschein als „Beförderungserschleichung“ und damit als Straftat – seit 1935, Nazis haben den Straftatbestand eingeführt.
Den Antrag zum Verzicht auf Strafanzeigen brachten die Kölner FDP gemeinsam mit den Grünen, der SPD, der Linken und Volt in die Ratssitzung ein. Schöppen habe das Thema in ihrem Kreisverband angestoßen, schreibt der Referent ihrer Fraktion. Die FDP-Politikerin arbeitet als Strafverteidigerin und sitzt im Anstaltsbeirat der Justizvollzugsanstalt Köln. „Da habe ich Erfahrungen damit gemacht, wie problematisch das System der Ersatzfreiheitsstrafe für Menschen in prekären Lebenslagen ist“, sagt sie.
4.400 Menschen waren zum Stichtag 30. Juni 2022 laut Statistischem Bundesamt hinter Gittern, weil sie eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen mussten. Davon war jede vierte Person wegen Fahrens ohne gültigen Fahrausweis inhaftiert, zeigt eine kriminologische Studie der Uni Köln. Für Passagier:innen, die ohne Ticket erwischt werden, fällt ohnehin ein erhöhtes Beförderungsentgelt an. Das sind meist rund 60 Euro, je nach Verkehrsverbund, erklärt Schöppen.
Wenn die Verkehrsbetriebe darüber hinaus einen Strafantrag stellen, drohen zusätzliche Geldstrafen. Wer die nicht zahlen kann, landet schlimmstenfalls hinter Gittern. Dabei sind laut der Studie die meisten derjenigen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen, von Armut betroffen: Drei Viertel sind Langzeitarbeitslose, jede fünfte Person hat keinen festen Wohnsitz.
Fahren ohne Fahrschein wird zur Ordnungswidrigkeit
Fahren ohne Fahrschein soll entkriminalisiert werden und nicht mehr als Straftat, sondern als Ordnungswidrigkeit gelten – wie Falschparken zum Beispiel. So plant es Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) bei seiner Modernisierung des Strafrechts, deren Eckpunkte er im November vorstellte. Danach bleibt das erhöhte Beförderungsentgelt bestehen, ein Bußgeld für die Ordnungswidrigkeit könnte obendrauf kommen.
„Eine ungerechte Doppelbestrafung“, schreibt die Initiative Freiheitsfonds in einem Post auf Instagram. Mit Spenden befreit der Freiheitsfonds Menschen, die ohne Ticket unterwegs waren und nach einer Anzeige eingesperrt wurden. Dass das Ministerium die Entkriminalisierung angeht, sei gut. Aber: „Auch nicht bezahlte Ordnungswidrigkeiten können zu Haft führen – zu Erzwingungshaft“, heißt es in dem Post.
Tatsächlich will die KVB weiterhin schon den „Anspruch auf ein erhöhtes Beförderungsentgelt gegebenenfalls auf zivilrechtlichem Weg geltend machen“, wie ein Sprecher auf Anfrage der taz betont. Die KVB nehme den Beschluss des Stadtrates ernst und warte nun darauf, dass die Politik den Konzernvorstand offiziell zur Umsetzung anweist. So richtig glücklich über die Neuerung ist der Verkehrsbetreiber aber nicht: „Wenn wir in Zukunft auf Anzeigen verzichten, befürchten wir eine negative Signalwirkung, die die Quote der Fahrgäste ohne gültigen Fahrausweis deutlich erhöhen könnte“, so der Sprecher. Die Strafbarkeit habe grundsätzlich „eine abschreckende Wirkung“.
Mit diesem Argument warteten auch die Kritiker:innen in der Kölner Politik auf, erzählt Catherine Schöppen. Die FDP-Ratsfrau findet, Gefängnis für dieses Vergehen sei unverhältnismäßig, 60 Euro erhöhtes Beförderungsentgelt seien Abschreckung genug. Ob nun nach der Reform des Strafrechts auf Bundesebene jede Fahrt ohne Fahrschein zusätzlich mit einem Bußgeld bestraft wird, steht noch nicht fest. Wann die Novelle in Kraft treten wird, ist auch noch unklar, wie das Bundesjustizministerium mitteilte.
Städte verzichten auf Paragraf 265a
Nicht nur Köln will schon vorher auf Strafanträge verzichten: In Düsseldorf müssen Fahrgäste bereits seit Juni 2023 keine Anzeigen mehr fürchten. Die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden fällte im November 2023 eine entsprechende Entscheidung, Münster folgte im Dezember. Ebenfalls im Dezember stellte die Linke in Halle an der Saale einen Antrag, der aktuell in den Ausschüssen des Stadtrates diskutiert wird.
„Es ist gut, dass die Städte die Initiative ergreifen“, sagt Arne Semsrott, Gründer und Vorstand des Freiheitsfonds. Das zeige umso mehr die Absurdität des Paragrafen 265a: Wenn Städte per Beschluss auf Strafanträge verzichten, obwohl das Gesetz Strafanträge möglich macht, habe der Straftatbestand in diesem Fall offensichtlich keinen Sinn, so Semsrott.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut