Expertenrat kritisiert Ampel: Staugefahr beim Klimaziel
Deutschlands Klima-Expert:innen stellen der Bundesregierung ein schlechtes Zeugnis aus: Zu viele Autos auf den Straßen und zu viele fossile Heizungen.
Der Expertenrat für Klimafragen ist ein wichtiger Teil des deutschen Klimaschutzgesetzes. Seine Ergebnisse entscheiden darüber, ob die Regierung verpflichtet ist, zusätzliche Maßnahmen einzuleiten. Er überprüft die daraus resultierenden Programme zudem auf ihre Tauglichkeit. Die Mitglieder des Gremiums sind führende Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen. Die Bundesregierung beruft sie selbst für eine Dauer von fünf Jahren. Im Falle der aktuellen Besetzung war das noch die Große Koalition im Jahr 2020.
Der aktuelle Bericht ruft besonders Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP), Bundesbauministerin Klara Geywitz und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) in die Pflicht. „Die Sektoren Gebäude und Verkehr haben ihre jeweiligen Zielwerte für das Jahr 2022 überschritten“, sagte der Physiker Hans-Martin Henning, der dem Expertenrat vorsitzt, am Montagmorgen in Berlin. „Damit sind sie verpflichtet, ein Sofortprogramm vorzulegen.“
Lücken aus 2022 ausgleichen
Drei Monate haben die zuständigen Ministerien dafür Zeit, also das Verkehrsministerium für den Verkehr, Bau- und Wirtschaftsministerium gemeinsam für die Gebäude. Ihre Aufgabe ist groß: Die neuen Maßnahmen müssen die Lücke aus dem Jahr 2022 ausgleichen, aber auch verhindern, dass auf dem Weg zum Klimaziel für 2030 neue Lücken entstehen.
Für den Gebäudesektor ist es das dritte Jahr in Folge, dass die Emissionen gesetzeswidrig hoch liegen. Das liegt vor allem am Heizen: Deutschland hält seine Gebäude überwiegend mit fossilen Brennstoffen warm. Etwa die Hälfte der Wohnungen heizt mit Gas, ein Viertel mit Öl.
Ein weiteres Siebtel bekommt Fernwärme, die zu mehr als zwei Dritteln mit Gas und Kohle erzeugt wird. Zu den übrigen kleinen Posten gehört bisher auch die Wärmepumpe, die mithilfe von Strom Umgebungswärme nutzbar macht und als klimafreundlich gilt. Um das künftig zu ändern, hat die Bundesregierung kürzlich schon einen Plan vorgelegt. Ab dem kommenden Jahr will sie den Einbau neuer Öl- und Gasheizungen in den meisten Fällen verbieten.
Verfälscht durch Corona
Auch der Verkehr ist zum zweiten Mal in Folge zu klimaschädlich. Ohne die eingeschränkte Mobilität im Coronajahr 2020 wäre es allerdings auch damals schon so weit gewesen, wie das damalige Gutachten des Expertenrats für Klimafragen ergeben hatte. Das Jahr 2022 hat aber einen besonderen Tiefpunkt mit sich gebracht: Die Emissionen, die vor allem durch den Straßenverkehr anfallen, sind gegenüber dem Vorjahr sogar wieder angestiegen.
Gewisse Fortschritte, etwa ein zunehmendes Interesse an E-Autos, schlagen sich in der Klimabilanz kaum nieder. Einen positiven Effekt hätte das schließlich nur, wenn gleichzeitig die Autos mit Verbrennungsmotor stillgelegt würden, wenn also weniger Benzin und Diesel verbrannt würde. Das bleibt aber bisher aus. Dass der Verkehrssektor sein Klimaziel für 2030 erreicht, kann Physiker Henning zufolge deshalb als „besonders unwahrscheinlich qualifiziert werden“.
Die Bundesregierung will das Klimaschutzgesetz reformieren. Künftig soll die Zuständigkeit der einzelnen Ministerien für den Klimaschutz in ihren Bereichen wegfallen. „Die Einhaltung der Klimaschutzziele soll zukünftig anhand einer sektorübergreifenden und mehrjährigen Gesamtrechnung überprüft werden“, heißt es im Beschluss des Koalitionsausschusses, der im März gefallen ist. Diesem Plan stehen die Expert:innen zumindest skeptisch gegenüber.
Sorgfältige Prüfung gefällig
Die Physikerin Brigitte Knopf will sie noch nicht abschließend bewerten – zu viele Punkte seien noch unklar. Grundsätzlich hat sie aber Zweifel. „Das ist ein bisschen so, als wenn man am Anfang des Jahres sagt: Ich will fitter werden, dienstags gehe ich joggen, donnerstags schwimmen und am Wochenende mache ich noch einen Rundlauf um den See. Und jetzt ist es so, dass die Regierung im April feststellt: Na ja, vielleicht sag ich einfach nur, ich will fitter werden. Da ist die Frage, wie glaubwürdig das ist und wie weit man damit kommt“, sagte sie am Montag.
Auch ihr Kollege Henning äußerte sich zurückhaltend kritisch: „Wir empfehlen dem Gesetzgeber, die geplanten Änderungen sehr sorgfältig auf Vor- und Nachteile zu überprüfen.“ Klimaschützer:innen sehen sich in ihrer Kritik an der Bundesregierung bestätigt. „Olaf Scholz wird seinem eigenen Anspruch, Klimakanzler zu sein, nicht gerecht“, sagte Stefanie Langkamp von der Klima-Allianz. „Als Kanzler nimmt er zurzeit offen in Kauf, dass die Bundesregierung ihre Klimaziele jetzt und absehbar verfehlt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass