Experte über Bosnien und Herzegowina: „Es macht sich Kriegsangst breit“

Der starke Mann der serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, stürzt Bosnien und Herzegowina in die Krise. Daran trägt der Westen Mitschuld.

eine Frau geht mit ihrem Hund an einem Wandgemälde mit einem salutierenden Kiregsverbrecher Ratko Mladic vorbei

Wandgemälde des früheren Militärchefs Ratko Mladić in Belgrad Foto: Darko Vojinovic/ap/dpa

taz am wochenende: Herr Weber, nächste Woche will die Führung der serbischen Teilrepublik Srpska Entscheidungen im Parlament durchsetzen, die Bosnien und Herzegowina weiter auseinanderreißen würden. Manche sprachen sogar von einer Kriegsgefahr. Was ist da wirklich los?

Bodo Weber: Wir haben es mit der tiefsten Krise seit Ende des Bosnienkrieges zu tun. Der starke Mann der serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, versucht eine faktische Sezession ohne formelle Ausrufung durchzusetzen. Es droht die Desintegration des Staates, die auf keinen Fall gewaltfrei sein wird. Das Daytoner Abkommen von 1995 war ein Friedensvertrag, der den Bosnienkrieg beendete, schuf zugleich aber eine Verfassungsordnung für das Land.

Mithilfe der internationalen Institutionen wurde in den folgenden Jahren der Staat schrittweise in eine halbwegs funktionale institutionelle Ordnung verwandelt. Dodiks angekündigter, verfassungswidriger Schritt würde 26 Jahre internationaler Bemühungen einschließlich demokratischer und rechtsstaatlicher Reformen zunichtemachen und das Land zurück ins Chaos stürzen.

Was ist der Grund für Dodiks Revolte?

Dodik ist nicht allein, er hat Partner auf der kroatischen Seite. Hauptverantwortlich sind aber die EU und die USA.

Der Mensch

Bodo Weber ist Senior Associate und Vorstandsmitglied des Democratization Policy Council e. V. (DPC), eines transatlantischen Thinktanks mit Sitz in Berlin. Er gehört zu den führenden westlichen Experten zum Westbalkan.

Davor hat er Angst

„Mir macht die Krise des Westens und das kollektive Wegducken vor politischen Grundsatzdebatten, gerade in Deutschland, auch Angst.“

Das gibt ihm Hoffnung

„Hoffnung macht mir, dass am Ende des Tages kaum jemand wirklich in autoritären Systemen leben will.“

Warum das denn?

Die Krise des Westens, der Verlust des Vertrauens in die liberale Weltordnung infolge des Irakkriegs hat zu einem schrittweisen Rückzug der USA von der Weltbühne geführt. Das spiegelt sich seit 15 Jahren in Bosnien. Ab 2005 haben die Vereinigten Staaten die Führung an die EU abgetreten. Das hatte einen Strategiewechsel zur Folge: von einer Statebuilding- und Demokratisierungspolitik, also der Schaffung eines funktionalen Staates, hin zu einer Übertragung der Macht an die lokalen Eliten.

Man hat den ethnonationalistischen Eliten also die Verantwortung für das Land quasi über Nacht vor die Füße gekippt. Die Eliten, allen voran Dodik, nutzen das aber seitdem, um interethnische Spannungen zu schüren. Der fehlende Wille von EU und USA zu einer politischen Korrektur, das Fehlen einer strategischen Politik, nähren seit 15 Jahren diese destruktive Dynamik.

Kann man aber Dodik von der Schuld an der jetzigen Krise freisprechen?

Natürlich nicht. Dodik hat als Erster erspürt, welche Chancen sich für ihn ergeben. Er ist ein klassischer Machiavellist und hat sich vom Reformkommunisten 1990 zum Zigarettenschmuggler im bosnischen Krieg, dann vom sozialdemokratischen Hoffnungsträger des Westens in der Teilrepublik Srpska nach dem Krieg zum serbischen Nationalisten entwickelt. Seit 15 Jahren testet er die roten Linien des Westens mit dutzendfachen Sezessionsdrohungen.

Hat er Komplizen?

Ja, gemeinsam mit dem kroatischen Nationalisten Dragan Čović und der größten bosniakischen Partei hat er in den vergangenen 10 Jahren international geförderte demokratische und rechtsstaatliche Reformen weitgehend rückgebaut. Mit Čović betreibt er zugleich die schrittweise ethnoterritoriale Redefinierung der staatlichen Ordnung. Wenn aber die Macht von serbischen und kroatischen Mehrheitsgebieten ausgeht, führt das zwangsläufig zur Auflösung des Staates Bosnien und Herzegowina.

Schon lange fordern die Minderheiten der Juden und Roma Gleichberechtigung. 2009 gab der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg ihnen recht. Das hätte doch den Verhandlern von EU und USA vor Ort zu denken geben müssen.

Hat es aber nicht. Leider ist die Politikschwäche von EU und USA in Bosnien und dem weiteren Westbalkan nach den Krisenjahren 2015 und 2016 – Stichwort Flüchtlingskrise, Brexit und Trumps Wahlsieg – in offene Kollaboration mit den nationalistischen Eliten umgekippt. Diplomaten und Botschafter der EU-Staaten und der USA haben aufgrund des Fehlens einer strategischen Politik in den westlichen Hauptstädten begonnen, sich mit ihrem nationalistischen Gegenüber in der Region zu arrangieren und „Deals“ zu organisieren.

Das hat sich 2020 auch in der Stadt Mostar gezeigt, die seit Jahren ethnisch gespalten ist.

Ja, die lokalen EU- und US-Vertreter haben vergangenes Jahr die politische Krise „gelöst“, indem sie zur faktischen ethnoterritorialen Teilung der Stadt in einen westlich-kroatischen und einen östlich-muslimischen Teil beigetragen haben. Als Teil dieses Abkommens wird seit Februar eine sogenannte Wahlrechtsreform in Bosnien und Herzegowina verhandelt, die Dragan Čović entgegenkommt. Letztlich wird so die Spaltung des Landes vertieft.

Seit 1995 gibt es den Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft, derzeit ist das der frühere deutsche Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt. Er soll die Umsetzung des Abkommens von Dayton überwachen, kann Gesetze erlassen. Ist er machtlos?

Das Amt ist von westlicher Seite selbst geschwächt worden. Seit 15 Jahren wird die Macht des Hohen Repräsentanten zur Freude der Nationalisten systematisch unterhöhlt. Vor allem Deutschland war bis 2014 führend daran beteiligt. Schmidts Vorgänger, Valentin Inzko, bekam keine Unterstützung, die Unterhändler der EU und der USA haben ihn zur Seite geschoben. Mit dem von ihm erlassenen Gesetz, die Verherrlichung von Kriegsverbrechen und die Leugnung des Genozids unter Strafe zu stellen, hat er kurz vor Ende seiner Amtszeit ein moralisches Zeichen gegen die westliche Politik gesetzt, das nicht abgesprochen war.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Sein Nachfolger, Christian Schmidt, hat das gleiche Problem. Seine Nominierung ausgerechnet durch Angela Merkel erfolgte ohne klare politische Strategie Berlins und hat weiter zur politischen Eskalation und Radikalisierung von Dodik geführt. Der nutzte die Gelegenheit, die Abschaffung des Amts zu fordern, und konnte dabei mit der Rückendeckung aus Russland rechnen.

Russland ist also ein mächtiger Spieler geworden?

Vor 10 Jahren war schon klar, dass Russland auf dem Balkan zurück ist, obwohl Russland kein genuines strategisches Interesse am Balkan hat. Russland nutzt aber die strategische Schwäche des Westens aus und versucht das so entstandene Vakuum durch die Unterstützung Dodiks zu füllen und so dem Westen ohne großen Aufwand massiven Ärger zu bereiten. Im Sicherheitsrat hat Russland gerade mit einem Veto gegen die jährliche Verlängerung des Mandats der EU-Militärmission in Bosnien, Eufor, gedroht.

Um die Vetomacht Russland zu bewegen, das Mandat zu verlängern, stimmten sie dem Verlangen Russlands zu, dass der Hohe Repräsentant nicht wie die 26 Jahre zuvor seinen Rechenschaftsbericht dem Gremium ­vortragen darf. Der Westen ist auf Putins Erpressung eingegangen und hat dem Hohen Repräsentanten verwehrt, eine Rede über die Lage in Bosnien zu halten.

Schafft sich der Westen so selbst ab?

Die Eufor hat das Mandat, militärisch bei Bedrohungen der staatlichen Integrität Bosniens zu intervenieren. Sie und die Nato könnten dem Dodik-Spuk ein schnelles Ende bereiten, indem die Nato ein paar hundert Truppen in die für die Teilrepublik Srpska strategisch wichtige Stadt Brcko entsenden würde.

Die meisten Menschen in Bosnien hoffen nach wie vor, der Westen möge sie beschützen. Wie wirkt denn das alles auf die Menschen vor Ort?

Die meisten haben sich schon lange von der korrupten Politik der Eliten abgekoppelt, sie verlassen seit einigen Jahren auf der Suche nach einem „normalen Leben“ massenhaft das Land. Doch zum ersten Mal macht sich aktuell auch massive Angst vor einem neuen Krieg breit.

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