Bosnien und Herzegowina in Auflösung: In den Köpfen ist der Krieg zurück
Absetzbewegungen der serbischen Teilrepublik von dem Gesamtstaat wecken bei vielen schmerzhafte Erinnerungen. Doch Serben-Chef Dodik zündelt weiter.
Sarajevo taz | Die Menschen in Bosnien und Herzegowina blicken mit Sorgen in die Zukunft. Manche lassen sich aber nicht anmerken, wie die ganze Diskussion über die Spaltung des Landes und eine neue Kriegsgefahr an ihren Nerven zehrt.
Der Krieg vor 30 Jahren ist in vielen Köpfen und Herzen noch nicht überwunden, nie behandelte Traumata vermischen sich mit sozialer Verzweiflung. Niemand möchte mehr an einen neuen Krieg denken, das macht Angst. „Ich möchte einfach nur ganz normal leben“, sagt der 50-jährige Fotograf Faris, der damals selbst in den Schützengräben kämpfte.
Wie der bullige Milorad Dodik, der „starke Mann“ der serbischen Nationalisten, vorgeht, lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Dodik kündigt seit Tagen weitreichende Maßnahmen zur Abtrennung „seines“ Landesteiles vom Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina an. Er will eine eigene Armee in der Republika Srpska aufbauen, aus Institutionen wie dem Obersten Gericht, der Staatsanwaltschaft und der Bundespolizei aussteigen.
Auch das gemeinsame Steuersystem und die gemeinsame Gesundheitsagentur will er zerstören. Eigene Ausweispapiere und Pässe sollen durchgesetzt, die Autokennzeichen verändert werden. Und Dodik will vor allem den Einfluss der internationalen Institutionen im Land begrenzen.
Gespannt wartete am Mittwoch die Öffentlichkeit im ganzen Land auf die Ergebnisse einer Parlamentssitzung des serbischen Teilstaates in Banja Luka. Doch dieses beschloss mit den Stimmen der Dodik-Partei SNSD lediglich den Aufbau einer eigenen Arzneimittelbehörde. Über andere Maßnahmen soll später entschieden werden.
„Wer zahlt die Eskapaden? Kleine Leute, die einen leisen Tod sterben“
Das klingt unbedeutend, ist es aber nicht. Denn die Trennung der Behörde habe zur Folge, dass neue Lizenzen beantragt werden müssten und die Preise steigen würden, erklärte der alte Chef der Behörde.
„Wer zahlt für diese Eskapaden? Das sind die kleinen Leute, die einen leisen Tod erleiden“, sagt ein Schuster aus der Nachbarschaft im Zentrum Sarajevos. Die Mehrheit der Bevölkerung in beiden Landesteilen, der bosniakisch-kroatischen Föderation und der Republika Srpska, ist bitterarm.
Ältere Leute mit ihren schmalen Renten von wenigen Hundert Mark wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen. Für sie sind Nationalistenführer wie Milorad Dodik verantwortungslose Gesellen, die sich für die Nöte und Sorgen der einfachen Leute nicht interessieren.
Viele Herausforderungen
„Dabei gäbe es viele Herausforderungen, die es anzugehen gelte, so neben der Armut auch den Klimawandel“, sagt ein Taxifahrer in Sarajevo. „Selbst in meinem Garten ist der Mais verdorrt.“ Hitze und fehlender Regen haben für große Produktionsausfälle gesorgt. Die Preise für Gemüse, Obst und Fleisch sind nach oben geschnellt. In diesem Sommer ist der Klimawandel erstmals in das Bewusstsein breiter Schichten der Bevölkerung gerückt.
Vor allem diejenigen, die den Krieg (1992–1995) erlebt, Granaten, Hunger und Kälte getrotzt haben, nimmt die Diskussion der vergangenen Wochen sehr mit. Einige Bekannte können nachts nicht mehr schlafen, andere verlieren die Nerven, weil Strom- und Wasserversorgung immer mal wieder für ein paar Stunden ausfallen. Das erinnert an Kriegszeiten.
Das Abkommen von Dayton 1995 habe zwar Frieden gebracht, sagt der Fotograf Faris, aber die „Hoffnung, dass wir mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft zur Normalität zurückkehren könnten“, sei schon lange verflogen. Werden die EU, die USA und die Nato Dodik jetzt in die Schranken weisen? „Er verletzt doch Dayton. Da müssen die doch etwas tun“, sagt er.
Leser*innenkommentare
Dorde Knezevic
Wie so oft im leben gibt es immer mehrere Wahrheiten. Und ungeachtet meiner Herkunft, Religion oder jetzigem Aufenthalt. Die Menschen in diesem Land sind selbst schuld. Seit dieser überflüssige, bescheuerte und blind-machende Krieg 1995 zu Ende ging, gibt es jeden Tag von den drei großen ethnischen Gruppierungen nur "Säbelgerassel". Permanentes gegenseiteiges Beschuldigen, Korruption ist nicht die Ausnahme, sondern Normalität und jedes Gruppe für sich hat irgendwelche "Deals" mit nahestehendnen Ländern. Die Katholiken natürlich mit Kroatien, die Orthodoxen natürlich mit Serbien und die Muslime mit der Türkei und diversen arabischen Ländern. Es gab nie - und die Ausnahmen muss man wirklich mit der Lupe suchen - wirklich nie ernsthafte Bestrebungen aus Bosnien und Herzegowina ein Land zu machen. Jegliche Vorteile die man hätte haben könne wurdne im Keim erstickt und das ganze nationale Getue von allen Seiten war in der Regel nur Ablenkung von Missmanagment und Inkompetenz, welche ebenfalls auf allen Ebenen der Politik zu finden ist. Krieg, nein, ich denke den wird es nicht geben. Aber die Furcht davon wird schon ausreichen um die "kleinen" Leute, schön unten zu halten und über Ihre Köpfe hinweg Deals und Geschäfte machen zu können. Wobei ich hier zwei Zitate anbringen möchte: "Geschäft ist Krieg." und "Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt". Wir werden sehen. Ich wünschen den Politikern aller drei ethnischen Gruppen schon lange schlimme Dinge an den Hals, aber, auf mich hört ja niemand...
joe_plitsch
Toller Artikel, kleine Ergänzung meinerseits: Seitens der EU gab es nur einen Kommentar a la "Dieses Gesetz für eine separate Arzneimittelbehörde in der Republika Srpska ist nicht gut für die Bestrebung Bosniens für einen EU-Beitritt". Bitte was? Herr Dodik und seine serbisch-nationalistische Partei blockieren seit langer Zeit die Bestrebungen für einen EU-Beitritt - gegen den Willen vieler Leute (möglicherweise sogar der Mehrheit - sogar gewichtet laut den Regelungen von Dayton). Nur eine Handvoll EU-Parlamentarier legt einen Finger in folgende Wunde: Warum schreitet der High Representative des Peace Implementierung Council, Christian Schmidt (gleichzeitig auch EU-Sondergesandter für Bosnien) nicht ein, der das Mandat hat (und auch die Macht hätte), das betroffene Gesetz (und so manches andere) für ungültig zu erklären...? Aber hier gab es seitens seines Büros nur im Vorfeld ein warnendes Statement, dass dieses Gesetz den Frieden gefährden könnte. (www.ohr.int/challe...-all-bih-citizens/ ) Sein Mandat ist klar, dafür zu sorgen, dass der Friedensprozess unterstützt und die Integrität des Staates gesichert wird. (www.ohr.int/about-ohr/mandate/ ) Nach der Verabschiedung gab es aber seitens des OHR bisher keine weitere Reaktion.
Aber es gab bereits früh Berichte, dass Herr Schmidt als High Representative die faschistische Apartheidpolitik der nationalistischen Parteiführer in Bosnien unterstützt!
Dies steht im klaren Widerspruch zu Beschlüssen des EU-Parlaments, laut denen eine Abkehr vom ethnischen Prinzip hin in Richtung auf die Einführung einer bürgerlichen Gesellschaft gefordert wird.
Ich denke, Herr Schmidt sollte an die Vorgaben laut seinem Mandat und auch des EU-Parlaments erinnert werden, damit seine Arbeit nicht persönlichen Wünschen (und der Lobbyisten) sondern seinem Auftrag entspricht.
PS007
„Er verletzt doch Dayton. Da müssen die doch etwas tun“
Dayton garantiert die "Selbständigkeit" der Teilrepubliken - nicht Dodik.
Jan Berger
Man sieht eben, dass manche Menschen eben nichts aus der Geschichte lernen und lieber ihren egoistischen Größenwahn ausleben.
Khaled Chaabouté
@Jan Berger Die ganzen nationalistischen Teilungsbestrebungen im ehemaligen Jugoslawien wurden doch vom Westen, allen voran Deutschland, überhaupt erst initiiert.
Sich jetzt darüber zu echauffieren, dass eine ethnische Gruppe, die im international kontrollierten und dominierten Bosnien-Herzegowina schon seit langen zu Paria gemacht wurde, keine Lust mehr darauf hat, ist einfach nur wohlfeil.
Der Autor dieses und vieler anderer Artikel gleicher Stoßrichtung scheint leider noch in den Narrativen der 1990er-Jahre festzusitzen und verfolgt ein Gut-Böse-Schema, welches von transatlantischen ThinkTanks entwickelt wurde.
83379 (Profil gelöscht)
Gast
@Khaled Chaabouté Sie meinen es gut der böse Westen ist schuld die Menschen dort sind Opfer, aber was sie machen ist rassistisch die Menschen überall haben ihre eigenen Agendas, ja die arbeiten mit dem Westen zusammen aber nur wenn es ihnen nutzt. Und der Nationalismus in Jugoslawien brach in den 80er Jahren aus. Wie PPaul bereits dargelegt hat gibt es da eine lange Vorgeschichte. Aber der Westen kann Entwicklungen vor Ort nur in eine Richtung beeinflussen weil es genügend Leute gibt vor Ort die in diese Richtung wollen. Wäre der Westen so mächtig wie von ihnen behauptet würden wir hier dann nämlich darüber lesen wie toll und friedlich Bosnien gerade ist.
PPaul
@Khaled Chaabouté Sie unterschlagen geflissentlich den nationalistischen Machtanspruch in Belgrad, die anlasslose Aufhebung der Autonomie des Kosovo und der Wojwodina, die Verdrängung von Albanern aus der öffentlichen Verwaltung, die Kriegsrede auf dem Amselfeld . Das war der Auslöser der Teilungsbestrebungen, nicht "der Westen" - auch wenn "der Westen" natürlich grundsätzlich an allem schuld ist, wenn man sich nicht an die eigene Nase fassen will.
Croissant
@Khaled Chaabouté Die Teilungsbestrebungen begannen aber nicht mit der Initiative Deutschlands, genau genommen bagannen sie bereits anfang 80er Jahre. Dieses dauernde Genscher-Bashing geführt und unterstützt durch die deutsche linke politische Landschaft kann einen nur noch langweilen. Es ging schlicht und einfach ums Geld, das durch die Teilrepubliken, hauptsächlich und mehrheitlich Slowenien und Kroatien, eingezahlt aber nicht verwaltet werden durfte.
mrga
@Croissant Irgendwas ist immer, nicht wahr! Wenn kein Öl, dann das Geld!
Kann es nicht sein, dass wir in Europa inzwischen mit nationalistischen Bewegungen zu tun haben, die in ihrer Art und Ausprägung nichts anderes als ihre Vorbilder aus den 30-ern sind. Ich persönlich sehe da keine großen Unterschiede.
Croissant
@mrga Es sind eben Interessen in stets wandelnder und unterschiedlicher Gestalt, deren Verwirklichung normalerweise vom Einsatz unterschiedlicher Mittel abhängig ist. Nationalismen auf dem Balkan kann man je nach Epoche oder ,präziser ausgedrückt, je nach Natur eines Staatenbundes oder Staatssystems unterschiedlich bewerten. Ein Bestreben, sich von einer Monarchie oder einem anderweitigen Unterdrückungssystem zu lösen kann man kaum mit politischen Entwicklungen der 30er Jahre in Deutschland vergleichen. Es mag sich seltsam anhören, aber trotz erheblicher paradigmatischer Bedeutung für die Wahrnehmung von derartigen gesellschaftlichen Prozessen des Abdriftens in einen faschistischen Sumpf, ist Deutschland dennoch kein Nabel der Welt, der immer beispielhaft dafür herhalten kann.
mrga
@Croissant Für mich klingt die „Begründung“ tatsächlich seltsam, inzwischen jedoch nicht ungewöhnlich, da in den Medien oft wiederholt. Dies geschieht manchmal sicher auch aus Unkenntnis, viel öfter jedoch absichtlich um solch eine menschenfeindliche Ideologie gezielt zu verharmlosen. Beides finde ich schlimm.
Die Parole „serbische Welt“ unterschiedet sich von der Parole „Heim ins Reich“ nicht. Beide sind
religiös, sozialdarwinistisch und rassistisch begründet und beide werden als das politische Schlagwort genutzt, um Eroberung der Fremdgebiete zu begründen/ durchzusetzen. Beides passiert nach gleichem Muster. Die Minderheiten werden von Aussen gezielt gelenkt und über diesen die Forderungen gegenüber der Zentralregierung gestellt. Dabei ging es damals nicht und auch heute geht es nicht etwa um die Minderheiten selbst sondern um auf dieser Art und Wiese solche Forderungen zu stellen, die die Zentralregierung schlicht und einfach nicht erfüllen kann. Der Täter wird zum Opfer und als solcher auch schützenswürdig. Die serbische Regierung unter Führung vom Präsident Vucic lässt keine Gelegenheit aus, um dies öffentlich zu bekunden.
Croissant
@mrga Beim genauen Lesen würde Dir schnell klar werden, dass ich keine „großserbische“ Politik überhaupt in den Mund nahm.
Vielmehr bist Du mit den Worten „Irgendwas ist immer“ auf meine Darlegung von Ursachen des Jugoslawienszerfalls eingegangen, als wäre es eben eine Lappalie, zwei Teilrepubliken wirtschaftlich auszunutzen und auszubremsen, um ja keine „Nationalismen“ oder Sezession dulden zu müssen.
Die von Dir beschriebene Expansionspolitik Serbiens ist allerdings nichts neues, sondern ein,nach 100 Jahre alten Vorlagen konsequent aufgebautes Denk- und Glaubenssystem, dass leider vor 26 Jahren faktisch und geographisch legalisiert wurde. In diesem Sinne hat Dodik ein leichtes Spiel- seine Teilrepublik ist und bleibt ethnisch homogen, dies wird nicht zu verändern sein, auch wenn man tausend Zeitungsartikel über Vergleiche mit der Machtergreifung der Nazis schreibt. Der Zug ist bereits in den Neunzigern abgefahren.
mrga
@Croissant Jugaslawienkrieg hat 100.000 Tote mit sich gebracht und 2.5 Mio. Menschen sind in diesem Krieg vertrieben worden. Die Grenzen haben sich dabei um keinen Zentimeter verschoben. Dies zeigt nur wie Sinnfrei das „Denk- und Glaubenssystem“, auch nach 100 Jahren, doch noch ist. Die Expansion fand eben nicht statt und diese wird es auch nicht geben. Dass die Faschisten dies gerne anderes hätten, ist nichts neues, ändert an der Tatsache aber nichts. Das „leichte Spiel“ für Dodik, wenn man genau hinschaut, ist gar nicht so leicht. Die 1000 Jährige Geschichte des Landes belegt die These ganz einfach und unmissverständlich. Das einzige was mit diesem „Denk- und Glaubenssystem“ noch zu erreichen wäre, sind wieder neue Opfer. Und da sind u.a. auch die Zeitungsartikel dieser Art wichtig, wie ich finde!
mrga
@Khaled Chaabouté Unfug!! Die Partizipation scheiterte stets an der faschistischen Haltung der Führern, die alles und jeden anderen per se ablehnen. Die "Gruppe" folgt den Führern und dies ist die bittere Wahrheit!