Etgar Keret über Boykotte und Literatur: „Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Die Logik des Kulturboykotts hat sich im europäischen Literaturbetrieb durchgesetzt. Auch er sei betroffen, sagt der israelische Autor Etgar Keret.
taz: Herr Keret, wir treffen Sie im Rahmen einer Lesereihe an den Münchner Kammerspielen, die sich der Situation in Israel nach dem 7. Oktober zuwendet. Wie stellt sich Ihnen die Lage heute dar?
Etgar Keret: Die Situation erinnert immer noch an „Täglich grüßt das Murmeltier“. Wir Israelis scheinen denselben Tag immer wieder aufs Neue zu erleben. Der 7. Oktober ist ein beispielloses Trauma. Das liegt daran, dass es das Ziel der Staatsgründung, die Raison d’Être unseres Landes war, einen sicheren Ort für Juden zu schaffen – und dann geschah hier das größte Pogrom. Die Diaspora schien plötzlich hier, in Israel selbst zu sein. Es fühlt sich wie das Ende eines Traumes an, der 75 Jahre dauerte und aus dem wir gerade erwachen. Gleichzeitig machten wir die Erfahrung, dass die Welt uns den Rücken zuzukehren scheint.
taz: Woher rührt diese Abkehr aus Ihrer Sicht?
Keret: Ich kann mir das damit erklären, dass der Krieg in Gaza mit seinen vielen toten Zivilisten dazu geführt hat, dass weltweit Leute wütend auf die israelische Regierung sind. Man sollte allerdings dazu sagen, dass die Reaktionen vieler in der Welt, etwa auch von führendem Personal der Vereinten Nationen von Anfang an nicht empathisch mit Israel war, und das Rückenzuwenden nicht erst mit Beginn des Krieges einsetzte. Das fehlende Mitgefühl in der Welt in Kombination mit unserer rechtsextremen Regierung ist eine gefährliche Mischung.
Etgar Keret wurde 1967 in Ramat Gan, Israel, als drittes Kind polnischer Eltern geboren, die beide die Shoah überlebt hatten.
Bekannt wurde er durch seine Short Storys. Er schreibt Romane und Drehbücher und hat an einigen Graphic Novels mitgearbeitet.
Neben Amos Oz ist Etgar Keret der meistübersetzte hebräische Autor. Im Mai wird im Aufbau Verlag seine neue Story-Sammlung „Starke Meinung zu brennenden Themen“ in der Übersetzung von Barbara Linner erscheinen.
taz: Erfahren Sie diese fehlende Empathie auch auf persönlicher Ebene?
Keret: Ich kann Ihnen so viel verraten: Dies hier ist erst das zweite Mal seit Kriegsbeginn, dass ich außerhalb Israels spreche. Für gewöhnlich bekomme ich pro Jahr 15 bis 20 Einladungen aus Ländern in Europa.
taz: Seit dem 7. Oktober werden Sie kaum mehr eingeladen?
Keret: Ja, so ist es, ich bekomme einfach keine Einladungen mehr. Vor Kurzem wurde sogar eine Veranstaltung mit mir gecancelt, bei der ich gemeinsam mit einem weltbekannten Autor auf einem Podium hätte sitzen sollen.
taz: Hatten die Veranstalter „Bedenken“?
Keret: Nein, mein weltbekannter Kollege hat die Veranstaltung mit mir abgesagt.
taz: Sie wollen uns vermutlich nicht verraten, wer dieser Kollege ist?
Keret: Nein, das mache ich natürlich nicht.
taz: Was war die Begründung für die Absage?
Keret: Wenn ich den Namen nicht verrate, dann tue ich das, weil es sich um eine Person handelt, die ich als Schriftsteller und auch als Mensch überaus schätze. Die Antwort auf meine Frage, warum wir nicht gemeinsam auftreten könnten, war: ‚Ich habe keinen Zweifel daran, dass unser gemeinsames Gespräch auf der Bühne in jeder Hinsicht interessant wäre, gerade in der Erörterung moralischer Fragen. Und es könnte auf konstruktive, Sinn stiftende Weise zur allgemeinen Verwirrung beitragen. Das wissen aber nur wir zwei. Für den Rest der Welt bliebe der Fakt stehen, dass ich mit einem Israeli auf der Bühne säße, während Israel den Gazastreifen bombardiert.‘
taz: Puh, von viel Integrität zeugt das nicht. Wie gehen Sie mit so einer Aussage um?
Keret: Wissen Sie, als Schriftsteller habe ich gelernt, mich mit dem Verhalten eines jeden Charakters identifizieren zu können, auch wenn mir dieses Verhalten nicht gefällt.
taz: Ärgert Sie diese Verdruckstheit nicht?
Keret: Es ist in der Tat ein sehr ängstliches Verhalten. Schauen Sie, wir erleben derzeit auch den durch Sally Rooney und andere voran gebrachten Boykott …
taz: Sie sprechen von einem offenen Brief vieler prominenter Schriftsteller, die dazu aufrufen, israelische kulturelle Einrichtungen und Institutionen zu boykottieren, weil sie sich „mitschuldig“ an der „erschütternden Unterdrückung der Palästinenser“ gemacht hätten.
Keret: Was Sally Rooney, Rachel Kushner und Co machen, liegt nicht so weit entfernt von der Kollaterallogik eines Benjamin Netanjahu. Weil die Hamas am 7. Oktober Israel angriff, lässt er Unschuldige bombardieren, darunter Frauen und Kinder. Die Logik der Sally Rooneys und Rachel Kushners dieser Welt lautet: Beenden wir den Krieg in Gaza, indem wir den Verleger von David Grossman boykottieren! Wenn David Grossman nicht mehr publiziert wird, wird der Krieg enden und wir retten die Bevölkerung von Gaza.
taz: Eine Logik, die der Aufmerksamkeitsökonomie sozialer Netzwerke entspricht.
Keret: Ich will damit sagen, dass diese Logik einer Faulheit entspringt, sich das eigentliche Ziel vorzunehmen. Man könnte stattdessen zum Boykott von Waffenexporteuren aufrufen. Weil man aber an sein eigentliches Ziel nicht herankommt, nimmt man sich ein naheliegendes vor und den Kollateralschaden bewusst in Kauf. Wir erleben gerade eine Dummheit, durch die Bank, quer durch alle politischen Zugehörigkeiten. Das sage ich als jemand, der 57 Jahre alt und ziemlich viel in der Welt herumgekommen ist. In der Vergangenheit war das anders. Angesichts bestimmter politischer Lagen schien immer eine Seite der Menschen glücklich und die andere unglücklich.
taz: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Keret: Nehmen Sie die Wiederwahlen Netanjahus in der Vergangenheit oder meinetwegen auch die erste Wahl Trumps. Sie stürzten das linke und liberale Lager in den USA und Israel jeweils in Trauer. In jüngster Zeit aber hat sich etwas verändert, wir sehen eine Zuspitzung: Heute leben wir in einer Welt, in der jeder, egal aus welchem politischen Lager er stammt oder welche Geschichte ihn leitet, permanent das Gefühl hat, verarscht zu werden, den Kürzeren zu ziehen und zu verlieren. Befeuert wird dieses Gefühl durch die Algorithmen in den sozialen Netzwerken. Sie führen zu einer verzerrten Darstellung, bei der alle immer noch extremer und aggressiver werden. Heute wähnen sich viele permanent im Überlebenskampf, im letzten Gefecht, als wäre es gerade die Schlacht von Alamo oder Masada.
taz: Als linksliberaler und dezidierter Kritiker der israelischen Regierung verorten Sie sich selbst eindeutig auf einer bestimmten Seite des politischen Spektrums.
Keret: Früher fühlte ich mich Menschen näher, die meine politischen Ansichten teilten, heute fühle ich mich jenen nahe, die sich – unabhängig von ihrer Parteipräferenz – ihre Menschlichkeit bewahrt haben. Wenn ich sehe, dass Menschen, die dieselben politischen Ansichten wie ich vertreten, Angehörige des anderen politischen Lagers auf der Straße bespucken, dann gehöre ich lieber den Menschen an, die nicht auf andere spucken. Werde ich heute als Israeli angegriffen, weiß ich nicht, was das bedeuten soll. Leute, die das tun, interessiert es nicht, ob ich ein Siedler bin, der Palästina am liebsten brennen sehen würde oder ob ich – was der Fall ist – mein Leben lang gegen die Regierung demonstriert habe. Bereits als junger Mann in der israelischen Armee habe ich in den Ferien meine Uniform ausgezogen und bin gegen die Besatzung demonstrieren gegangen. Das würde ich heute ganz genauso machen.
taz: Welche Gefahren sehen Sie im Augenblick, besonders für Ihre Heimat? Was wird die Zukunft bringen?
Keret: Ich sehe in Israel den Beginn von etwas, das mich an die politische Lage in Iran erinnert. Ich sage bewusst nicht an europäische Länder wie Polen und Ungarn, auch wenn Netanjahu gerne mit Viktor Orbán zusammensitzt. Die Kräfte, die Israel zerstören wollen, sind religiös, messianisch, fundamentalistisch. Sie sind daher den iranischen Verhältnissen viel näher als sie es den europäischen je sein könnten. Wir haben eine Regierung, die versucht, jede demokratische Bindung des Staates zu demontieren.
taz: Die Kulturboykotte, über die wir sprachen, werden die missliche Lage im Land sicher nicht ändern. Was schlagen Sie als Alternative vor?
Keret: Jede Organisation oder Partei, die sich als tatsächlicher Freund Israels oder der Palästinenser versteht, sollte die Regierung Netanjahu zwingen, das zu tun, was jede demokratisch gewählte Partei längst getan hätte – eine Untersuchungskommission zuzulassen. Und damit verbunden, Neuwahlen. Sie wären nach dem Massaker vom 7. Oktober und mit dem politischen Versagen, das zu ihm geführt hat, das einzig Konsequente. Anstelle der deutschen Regierung würde ich gegenüber Netanjahu sagen: Wir unterstützen euch keine Sekunde mehr, ehe ihr nicht eine Untersuchungskommission gegründet habt, denn das sieht die israelische Gesetzgebung vor. Die Idee, israelische Schriftsteller oder Filmemacher daran zu hindern, international aufzutreten, entspricht dagegen der Logik von Erstklässlern.
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