Erinnerung an die Sklaverei: Licht in die Dunkelheit bringen
In Westafrika entstehen zunehmend Erinnerungsorte und Museen, wo engagierte Einheimische die historische Sklaverei erfahrbar machen. Zwei Ortsbesuche.
G uy Dalbert Aguidissou steht auf dem schönsten Platz von Ouidah, der geschichtsträchtigen Küstenstadt in Benin. Der Platz ist mit roten Steinen gepflastert. Durch die Aufstellung brauner Metallkugeln sind Sichtachsen entstanden. Die angrenzenden Häuser wurden sorgfältig renoviert und gestrichen, die Blumenbeete bepflanzt, die Hecken geschnitten. Bänke, die im Schatten stehen, bieten Platz für eine Pause an.
Es ist ein idyllischer Ort, an dem sich jedoch das wohl dunkelste Kapitel der Geschichte Westafrikas abgespielt hat. Unter dem mächtigen alten Baum fand einst ein großer Sklavenmarkt statt. Bis vor einigen Jahren hieß das Areal sogar Place Chacha. So wurde der Brasilianer Francisco Félix de Souza genannt. Ende des 18. Jahrhunderts kam er nach Ouidah, um das portugiesische Fort zu leiten, zerstritt sich aber mit Adandozan, dem Herrscher des einstigen Königreichs Dahomey.
Im Jahr 1818 entmachtete de Souza gemeinsam mit Ghezo, dem jüngeren Bruder von Adandozan, diesen schließlich, was de Souza endgültig zu einem der einflussreichsten Sklavenhändler in Westafrika machte. Das große Gebäude gleich neben dem Baum ist bis heute das Haus der Familie da Souza. Der Platz heißt mittlerweile Place des Enchères, übersetzt Ort der Versteigerung.
Guy Dalbert Aguidissou erklärt nüchtern, wie sich hier vor mehreren Hundert Jahren wohl der Sklavenmarkt abgespielt haben muss. Er ist Journalist, beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte seiner Heimatstadt. Unter dem Baum, erzählt er, wurden alle Gefangenen wie ein Stück Ware begutachtet, für welche Art von Arbeit sie tauglich sein könnten. Wer etwa Handwerker und nützlich für das Königreich Dahomey war, wurde nicht nach Amerika verschleppt, sondern musste hier Zwangsarbeit verrichten.
Aguidissou macht keinen Hehl daraus, dass an der Sklaverei europäische Nationen ebenso beteiligt waren wie das einstige Königreich Dahomey, das Kriegsgefangene versklavte und an europäische Händler verkaufte. Daran hatte bereits 1999 der damalige Präsident Mathieu Kérékou mit einer ungewöhnlichen Geste erinnert. Bei einer Reise in die USA besuchte er damals in Baltimore eine Kirche und entschuldigte sich bei Afro-Amerikaner:innen für die Rolle Afrikas im Sklavenhandel.
Der transatlantische Sklavenhandel fand vom 16. bis zum 19. Jahrhundert statt. Schätzungen zufolge wurden vorwiegend aus West- und Zentralafrika bis zu 17 Millionen Personen nach Süd- und Nordamerika verschleppt. Sie waren mitunter zwei Monate lang auf dem Atlantik unterwegs. Sofern sie das überlebten, leisteten sie nach der Ankunft Zwangsarbeit auf Plantagen, etwa für Baumwolle und Zucker. Sie hatten den Status von Tieren, wurden gekauft und verkauft und nur zwecks Arbeit gehalten. Unzählige Millionen von ihnen starben. Der von ihnen geschaffene Reichtum war eine Grundlage der globalen kapitalistischen Entwicklung im sogenannten Dreieckshandel: Aus Amerika wurden von Sklaven produzierte Güter nach Europa verschifft, von dort aus Waffen, Alkohol und Stoffe nach Afrika und von dort aus neue Sklaven nach Amerika.
Das Ende der Sklaverei begann mit der Amerikanischen Revolution (circa 1770–1787) und den Napoleonischen Kriegen (1803–1815). Sklavenhandel wurde 1807 vom britischen Parlament verboten und 1808 vom US-Kongress. Sklaverei an sich wurde in Großbritannien 1833 verboten, in Frankreich 1848 und in den USA 1865, was dort zum Bürgerkrieg führte. Die Verbote gingen einher mit großzügigen Entschädigungszahlungen – aber nicht an die Sklaven, sondern an deren Besitzer.
Gedenktage, die an die Sklaverei erinnern, gibt es mehrere. Auf UN-Ebene ist seit 1998 der 23. August zum Internationalen Tag zur Erinnerung an den Sklavenhandel und an seine Abschaffung erklärt. Der Termin erinnert an den Sklavenaufstand in der französischen Karibikkolonie Saint-Domingue im Jahr 1791, aus dem das unabhängige Haiti hervorging. Frankreich begeht als erstes Land Europas seit 2006 den 10. Mai als Tag des Gedenkens an den Sklavenhandel, die Sklaverei und ihre Abschaffung – eine Initiative von Frankreichs erster schwarzer Ministerin, Christiane Taubira. (gän, d.j.)
Auf der heutigen Place des Enchères beginnt Aguidissous Stadtführung durch Ouidah. Er zeigt die sechs Etappen der Route des Esclaves, die vier Kilometer lange Sklavenroute. Sie erinnert an das Schicksal Hunderttausender Männer, Frauen und Kinder; von ihrem Verkauf auf der Place Chacha bis zum Erreichen der Boote, die an der Atlantikküste auf sie warteten, um sie nach Amerika zu verschleppen. Das Projekt der Unesco entstand 1994 auf Wunsch von Benin und Haiti, wo heute zahlreiche Nachfahren der einstigen Sklav:innen aus Westafrika leben. Regelmäßig reisen haitianische Delegationen nach Benin.
„Die Route der Sklaven soll das Schweigen brechen“, sagt Aguidissou. Denn aufgearbeitet worden ist die Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in der bis zu 17 Millionen Menschen von Afrika nach Amerika deportiert wurden, bisher nur teilweise. Es entstehen aber zunehmend Erinnerungsorte und Museen; im Nachbarland Nigeria etwa an den Küstenorten in Badagry und Calabar. Auch die Besucherzahlen von Elmina Castle in Ghana, seit dem Jahr 1979 Weltkulturerbe der Unesco, steigen jährlich.
Der 1492 erbaute Handelsstützpunkt der Portugiesen wurde ebenfalls schnell zum Drehkreuz des westafrikanischen Sklavenhandels. In Ouidah wird gerade ein staatliches Museum zum Gedenken an die Sklaverei (Mime) gebaut. Die Regierung von Patrice Talon setzt seit Jahren auf die Stärkung des Tourismus. Die Sklavenroute zu entdecken ist ein Ausflugsziel, das vor allem bei Besucher:innen aus dem Ausland beliebt ist.
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Mit dem Auto geht es zu den nächsten Stationen. Was heute nur wenige Minuten braucht, dauerte damals mehrere Wochen. Nach ihrem Verkauf wurden die Sklav:innen zum „Baum des Vergessens“ gebracht. Der Baum selbst ist längst gefällt worden, die Erinnerungen geblieben: „Den Baum mussten Männer neunmal, Frauen sechsmal umrunden. Sie sollten ihre Vergangenheit vergessen, und vor allem sollte ihr Widerstand gebrochen werden.“
Das geschah auch im Dorf Zoungbodji. Guy Dalbert Aguidissou bleibt auf einem kleinen Platz stehen. Am späten Vormittag steht die Sonne hoch am Himmel, und ein paar Palmen wehen im Wind. Eine kleine Reisegruppe hört bereits seit einigen Minuten den Erklärungen ihres Touristenführers zu. Es ist schwer vorstellbar, dass ausgerechnet hier bis ins 19. Jahrhundert die Zomaï-Hütten standen.
Das Wort bedeutet „ständige Dunkelheit“, in der die Sklav:innen rund zwei Monate ausharren mussten. „Auf 30 Quadratmetern waren bis zu 1.000 Menschen zusammengepfercht. Das kann man sich kaum vorstellen“, sagt Aguidissou und zeigt dann auf die beiden Skulpturen, die heute auf dem sandigen Platz stehen. Sie stellen zwei hockende Menschen dar, die geknebelt und gefesselt sind. Es ist fast überflüssig zu sagen, dass sie kaum Wasser und noch weniger Essen erhielten. Wie viele Menschen schon hier starben, weiß niemand genau. Die Leichen wurden in ein Massengrab geworfen.
Guy Dalbert Aguidissou zeigt die Sklavenroute häufig Menschen, die in Brasilien oder der Karibik leben. Sie machen sich in Benin auf Spurensuche, obwohl sich kaum klären lässt, woher ihre Vorfahren genau stammten und unter welchen Umständen sie verschleppt wurden. Es seien emotionale Momente.
Zurück in der Stadt Ouidah, wo auch Manuella Kassa Cabello zu Besuch ist. Sie sitzt im Garten des Internationalen Kulturzentrum (CCRI) John Smith, das in einer Dauerausstellung die Rolle der Frauen während der Zeit der Sklaverei ebenso zeigt wie ihren Kampf für die Abschaffung. Die 29-Jährige lebt in Frankreich und hat 2013 gemeinsam mit Musiker:innen im Norden Brasiliens den Verein „Bantu Afro Brasileiro“ gegründet. Er organisiert Reisen nach Brasilien, tritt auf Festivals auf und gibt Tanz- und Musikunterricht.
Manuella Kassa Cabello reiste zwar schon als Kind regelmäßig nach Benin, kam allerdings vergangenes Jahr erstmals nach Ouidah. Die alte Stadt, in der die Geschichte der Sklaverei bis heute so präsent ist, habe ihr Leben verändert. „Als ich mit einem Freund durch die Stadt ging, war ich wie in Trance. Ich wusste, dass ich nach Ouidah zurückkehren und hier etwas aufbauen muss, beispielsweise ein Unternehmen.“
Doch das sei erst der nächste Schritt, sagt sie. Zunächst ist sie gemeinsam mit Tänzer:innen und Musiker:innen ihres Vereins für zwei Wochen für Workshops und Auftritte nach Ouidah gereist. Manuella Kassa Cabello bringt einen Hauch von brasilianischem Karneval in die meist verschlafene Stadt.
Gefunden hat sie hier ihr fehlendes Puzzlestück: „Im Nordosten Brasilien entdeckt man Afrika wieder. Die Menschen tanzen wie hier, machen die gleiche Musik, essen das gleiche, tragen die gleichen Stoffe.“ Jetzt weiß sie, woher all das kommt. Das durch den Sklavenhandel entstandene Dreieck zwischen Europa, Afrika und Südamerika ist für sie komplett geworden.
Die Suche nach der eigenen Herkunft sei auch in Brasilien unter Afro-Brasilianer:innen zunehmend ein Thema. „Menschen hinterfragen immer stärker, woher sie kommen. Sie wollen sich mit ihrem Herkunftsort verbinden. Auch ich wusste: Bevor ich eigene Kinder habe, muss ich mir über meine Identität im Klaren sein.“
Ihr Besuch in Ouidah ist gleichzeitig schmerzhaft. Die Stadt ist wegen der Sklavenroute voll mit Erinnerungen an das, was Menschen Jahrhunderte lang erleiden mussten. Während in Ouidah die ehemalige Place Chacha, das portugiesische Fort und die Graffiti zur Sklaverei Alltag sind und kaum bewusst wahrgenommen werden, bedrücken sie Manuella Kassa Cabello. Über das, was sie empfindet, wenn sie beispielsweise auf diesem Platz steht, möchte sie nicht sprechen. Sie will ihre Gedanken lieber im Tanz ausdrücken. „So kann ich meine Frustration darüber zeigen.“
Die empfindet sie auch, wenn sie über die Debatte über Reparationszahlungen oder zumindest eine offizielle Entschuldigung nachdenkt. Letzteres sei längst überfällig. „Für Europa ist es doch gar nicht so schwer zu sagen: Wir haben Dinge falsch gemacht und bitten deshalb um Entschuldigung. Das ist kein großer Schritt. Aber es ist wichtig für uns.“
2.300 Kilometer weiter nordwestlich öffnet das Haus der Sklaven jeden Morgen um 10.30 Uhr seine Türen. Es liegt auf der Île de Gorée. Die Überfahrt auf die Insel, die 1978 in das Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen wurde, dauert von Senegals Hauptstadt Dakar aus eine halbe Stunde. Das Boot ist voll besetzt, und fast alle Fahrgäste sind Tourist:innen.
Für viele ist der Besuch dort im einstigen Sklavenhaus und dem Museum auf der anderen Straßenseite ein Pflichttermin. Schon kurz nach der Öffnung hat sich auf dem Innenhof eine Menschentraube gebildet. Die Besucher:innen lassen sich erklären, in welchen Räumen die Sklav:innen gefangen gehalten wurden. In einem steht heute ein großes Wasserbecken. Es soll ein Ort der Stille und der Meditation sein, wovon aber nichts zu spüren ist.
Überall herrscht Stimmengewirr. Menschen stehen in einer Schlange, um Selfies an jener Tür zu machen, durch die die Versklavten das Haus einst verlassen und in die Boote steigen mussten. Eine Gruppe von Afro-Amerikaner:innen lässt sich immer wieder fotografieren. Sie macht mit dem ghanaischen Unternehmen Tourpedia Travel eine Reise durch Westafrika. Leiterin Tara Gbedemah lässt der Gruppe Zeit.
Sie hat regelmäßig Kund:innen aus den Vereinigten Staaten, reist mit ihnen an Schauplätze des einstigen Sklavenhandels und weiß, wie wichtig ihnen ein solcher Aufenthalt ist. „Für sie ist es eine sehr emotionale Reise. Sie sind sehr berührt. Es macht dabei keinen Unterschied, ob wir hier sind oder beispielsweise in Elmina Castle. Die Orte sind zwar aus unterschiedlichen Gründen errichtet und unterschiedlich genutzt worden. Die Geschichte ist letztendlich gleich.“
Auf die Insel mit ihren schmalen Gassen, renovierten Häusern, den in Pink und Gelb blühenden Flammenbäumen, kleinen Geschäften und Restaurants, in denen fangfrischer Fisch auf den Speisekarten steht, kommen jährlich rund eine halbe Million Menschen zu Besuch. Von Dakar aus ist es ein beliebter Tagesausflug. Die 28 Hektar große Insel lebt vom Tourismus. Einer der bekanntesten Besucher war 2013 der damalige US-Präsident Barack Obama.
Eloi Coly setzt allerdings nicht nur auf internationale Gäste. Er ist Kurator des Sklavenhauses. Sein Büro liegt im Gebäude auf der anderen Straßenseite etwas abseits des Besucherstroms. Auf seinem Schreibtisch türmen sich Bücher und Papiere. Coly ist es wichtig, dass senegalesische Schüler:innen die Insel und das Sklavenhaus besuchen, damit sie mehr über „ein ganz trauriges Kapitel der Weltgeschichte“ erfahren. Die Epoche der Sklaverei steht längst auf dem Lehrplan der Schulen. „Aber wir müssen mehr Wissen über diese Zeit vermitteln.“
Denn was bis heute ignoriert werde, so Coly, sei die Tatsache, dass sich an das Ende des transatlantischen Sklavenhandels fast nahtlos die Kolonialzeit anschloss. Aufstände gegen die Kolonialmächte wurden überall auf dem Kontinent niedergeschlagen, Traditionen verboten. Die Mehrzahl der westafrikanischen Staaten wurde erst 1960 unabhängig. Bis heute sei der Blick nach Europa gerichtet, es ist das Ziel Tausender junger Afrikaner:innen.
„Dabei“, sagt Coly, „ist Afrika die Wiege der Menschheit.“ Eine Wiege, aus der sich viele dann aber doch gezwungen sehen zu fliehen – sei es vor Krieg, Hunger oder Armut oder allem zusammen. Das Haus der Sklaverei, sagt Coly, sei für ihn deshalb auch viel mehr als ein Museum. „Es ist ein Mahnmal, das generell an Menschenrechtsverletzungen erinnert.“
In Ouidah in Benin ist Guy Dalbert Aguidissou an der letzten Etappe der Sklavenroute angekommen, die auch die bekannteste ist. Am Strand steht das 1995 errichtete Monument „Pforte ohne Wiederkehr“, das im vergangenen Jahr restauriert wurde. Aguidissou geht über den geteerten Weg auf das rotbraune Denkmal zu, auf dem in Gelb aneinandergekettete, gefesselte und geknebelte Männer und Frauen zu sehen sind. Es symbolisiert: Wer hier durchgeht, wird nie zurückkehren.
Dann dreht sich der Touristenführer noch einmal um und blickt nach Norden in Richtung Lagune, über die längst eine Brücke führt. „Damals mussten die Gefangenen aneinandergekettet durch das Wasser waten. Wenn einer fiel, fielen alle.“ Wieder wählt Guy Dalbert Aguidissou nüchterne Worte: „Wer hier ankam, wusste, dass er ein Produkt ist, das exportiert wird.“
Guy Dalbert Aguidissou schreitet durch die Pforte hindurch. Für Afro-Amerikaner:innen und Afro-Brasilianer:innen, die hierherkommen, ist das ein emotionaler Moment. Jetzt blickt Aguidissou von der Strandseite auf das Monument. „Und genau hier gibt es doch noch Hoffnung“, sagt er und deutet auf eine Metallskulptur. „Diese symbolisiert eine Person, deren Metallkette zersprungen ist. Ihre Seele ist frei und kann nach Afrika zurückkehren.“
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