Entwicklungsforscher über Gaza: „Radikalisierung droht“
Entwicklungsökonom Markus Loewe warnt davor, die Hilfen für die palästinensischen Gebiete auszusetzen. Dies würde nur der Hamas in die Hände spielen.
taz: Herr Loewe, Ägypten und Israel haben zugesagt, humanitäre Güter über den Grenzposten Rafah für den Gazastreifen zuzulassen. Wie bewerten Sie diese Zusage?
Markus Loewe: Noch ist ja nichts passiert, aber es ist wichtig, dass Rafah aufgemacht wird, damit Hilfsgüter nach Gaza kommen. Allerdings ist erstens gar nicht sicher, ob Ägypten überhaupt den Grenzübergang öffnet. Zweitens ist unklar, ob Israel wirklich zustimmt, und drittens, wie die Freigabe der Güter seitens der Israelis gehandhabt wird. Israel hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass alles, was reinkommt, auch kontrolliert werden muss. Das kann zu einer wahnsinnigen Verzögerung führen.
ist Entwicklungsökonom und Nahost-Experte. Loewe arbeitet am Deutschen Institut für Entwicklung und Nachhaltigkeit in Bonn (IDOS).
Besteht aber nicht die Gefahr, dass die Hilfsgüter in die Hände der Hamas fallen, wenn es keinen Waffenstillstand gibt?
Ja, die Gefahr besteht, dass die Hamas bestimmt, wer die Hilfen bekommt und nach dem Loyalitätsprinzip agiert. Aber was ist die Alternative? Die Bevölkerung verhungert und verdurstet.
Was muss nach der Grenze passieren?
Internationale Organisationen wie UNRWA – das UN-Hilfswerk für geflüchtete Palästinenser – haben Verteilungsstrukturen in den vergangenen Jahren aufgebaut. Sie arbeiten mit lokalen Kräften und die wissen, was zu tun ist. Aber ein guter Verteilmechanismus hat die Voraussetzung, dass die Hamas sich nicht einmischt. Ohnehin müssen aber auch von Hilfsorganisationen neue Verteilstrukturen aufgebaut werden. Denn Menschen, die im Norden bisher erreicht werden konnten, sind größtenteils in den Süden geflohen und leben dort an Stellen, wo es keine Verteilstrukturen gibt.
Was wäre aus Ihrer Sicht eine „echte“ Hilfe für Gaza?
Ich plädiere für einen humanitären Korridor, in dem die Transporter nicht angegriffen werden und internationale Hilfsorganisationen die Verteilung umsetzen können. Der Sprit geht zu Ende, es gibt kein aufbereitetes Trinkwasser mehr, der Strom wurde abgeschaltet. Die Situation in Gaza ist nicht mehr nur schlecht, sondern die Lage ist kurz vor dem Punkt, wo ein vernünftiges Leben überhaupt nicht mehr möglich ist. Wir müssen alles dafür tun, damit möglichst viele Güter ins Land reinkommen, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, die es in dieser Form vermutlich seit 1948 oder 1949 nicht mehr gegeben hat.
Wie schätzen Sie die bisherige Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen ein?
Die humanitäre Lage im Gazastreifen war schon bisher katastrophal. Die Bevölkerung leidet in extremen Maße unter Unterernährung, unter Mangelversorgung in Sachen Gesundheitsdienstleistungen, zum Teil sogar an Mangel an Trinkwasser. Die Geber, darunter Deutschland, die EU und andere, haben sich bemüht, ein halbwegs erträgliches Leben herzustellen.
Ich sehe es als die Verantwortung Deutschlands und Europas an, die Bevölkerung zu unterstützen, die ja nicht in Haft genommen werden sollte für die Politik ihrer De-facto-Regierung.
Es gibt auch Stimmen, die Hamas-Kämpfer unter der Zivilbevölkerung vermuten und daher Hilfe ablehnen.
Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass die Palästinenser alle Anhänger der Hamas sind. Es gibt eben auch sehr viele, die sehr kritisch eingestellt sind. Das dürfen sie nur nicht sagen, weil die Repression im Gazastreifen sehr stark ist. Aber wir setzen uns ja auch in Afghanistan dafür ein, dass den Opfern von Erdbeben geholfen wird.
Wir setzen uns in vielen Ländern dafür ein, dass Notleidende nach Katastrophen unterstützt werden, auch wenn die Regierungen autoritär sind. Im Rahmen der humanitären Hilfe wird nie geschaut, was für eine Regierung da ist, weil man einfach die Bevölkerung nicht in Haft nehmen darf für die Politik der Regierung.
Nun befürchten aber viele, dass die Hamas auch Hilfsgelder für die Herstellung von Waffen zweckentfremdet. Muss man da nicht die Hilfe einstellen?
Meines Erachtens nein. Es ist ja nicht so, dass erst seit diesem Wochenende bekannt ist, dass die Hamas eine Terrororganisation ist. Wir müssen hier ganz stark unterscheiden zwischen dem, was im Westjordanland läuft, und dem, was im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit im Gazastreifen gelaufen ist. Das ist vollkommen anders von der Form und von der Ausrichtung her konzipiert gewesen.
Was meinen Sie damit konkret?
Mit der palästinensischen Autonomiebehörde ist echte Entwicklungszusammenarbeit durchgeführt worden, wie sie auch mit anderen Ländern wie Jordanien, wie Ägypten und vielen anderen Ländern läuft. Im Gazastreifen hat es nur Unterstützung gegeben, die eher mit dem, was man eigentlich humanitäre Hilfe nennen würde, vergleichbar ist. Das heißt, es hat keine Kooperation mit der Hamas gegeben und es ist auch kein Geld an die Hamas geflossen.
Es hat auch kaum einen bilateralen Einsatz gegeben, sondern das, was Deutschland aufgewendet hat, ist fast ausschließlich an internationale Organisationen und internationale Nichtregierungsorganisation wie das Rote Kreuz und den Roten Halbmond geflossen. Dies hat im Wesentlichen dazu gedient, die humanitäre Situation der Bevölkerung zu verbessern. Das heißt, es handelte sich um Lebensmittelhilfen, um Unterstützung für die Gesundheitsversorgung und um die Versorgung mit Trinkwasser.
Entwicklungszusammenarbeit wird vom Bundesentwicklungsministerium, also dem Haus von Svenja Schulze (SPD), finanziert. Humanitäre Hilfe kommt aus dem Auswärtigen Amt. Was wurde denn nun wie finanziert?
Es haben verschiedenste Aktivitäten im Westjordanland stattgefunden. Zum Beispiel hat es Unterstützung im Bereich Berufsbildung gegeben, im Bereich Schulbau, für die Unternehmensförderung, für einen Industriepark, wo sich kleine Unternehmen ansiedeln können oder für eine Verwaltungsreform.
Wenn ich sage, die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Gazastreifen ist aber letztlich auch so etwas wie humanitäre Hilfe, dann will ich damit sagen, dass das Bundesentwicklungsministerium Maßnahmen durchführt, die von der Natur her so sind wie humanitäre Hilfe. Der Unterschied ist: Sie sind längerfristig angelegt, das heißt, es gibt längerfristige Zielsetzungen und Zusagen an internationale Organisationen, um eben medizinische Versorgung und Nahrungsmittel sicherzustellen. Das läuft dann beispielsweise über das UN-Flüchtlingshilfswerk für palästinensische Flüchtlinge oder über das World Food Programm.
Aber in Gaza gibt es eine Ausnahme?
Ja, es wurde mit Mitteln des BMZs eine Kläranlage gebaut. Das Problem des Gazastreifens ist, dass im Prinzip kein Trinkwasser da ist. Das liegt daran, dass es eigentlich keine Flüsse dort gibt und dass der Grundwasserspiegel immer stärker absinkt. Dennoch sind eben zweieinhalb Millionen Menschen mit Trinkwasser zu versorgen, und das funktioniert nur, wenn extrem sparsam mit dem wenigen Wasser, was da ist, umgegangen wird. Dafür wurde die Kläranlage gebaut. Auch das erfolgte aber nicht zusammen mit der Hamas, sondern in Zusammenarbeit mit unabhängigen Organisationen.
Trotzdem hat Ministerin Schulze mit Beginn des Krieges angekündigt, die Entwicklungszusammenarbeit auf den Prüfstand zu stellen. Ist das richtig?
Den Vorwurf, Geld könnte indirekt an die Hamas geflossen sein, muss man ernst nehmen. Man tut alles, um sicherzustellen, dass die Mittel, die aufgewendet werden, nicht in die Taschen derer fließen, die jetzt hier für das Problem verantwortlich sind. Aber ganz ausschließen lässt sich das nie. Die Herausforderung besteht darin, dass man die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, auf ein Minimum reduziert.
Also doch Einstellen beim kleinsten Zweifel?
Sicherstellen, dass es keinen Missbrauch gibt, kann man nur, indem man die Hilfe ganz einstellt. Nach dem brutalen Angriff auf Israel ist es die richtige Reaktion, alle Hilfen zu prüfen. Nach allem, was ich weiß, gehe ich aber nicht davon aus, dass festgestellt wird, dass hier irgendwo Geld verschwunden ist. Dazu ist nach meinen Informationen schon bisher so gut geprüft worden, dass dieses Risiko wirklich auf dem Minimum abgesenkt worden ist.
Wie wird denn geprüft?
Man muss im Prinzip die gesamte Kette prüfen. Von dem Moment, wo das Geld aus dem Bundeshaushalt ausgezahlt wird an eine durchführende Organisation, die dann Material anschafft, die dann Projekte durchführt. Man muss an jeder Stufe letztlich sicherstellen, dass Lebensmittelhilfen nicht vor allem an Menschen gehen, die der Hamas nahestehen. Man muss überprüfen, welche Firmen beauftragt werden, ob deren Gewinne an die Hamas fließen.
Das heißt, in der gesamten Kette, von dem Moment an, wo das Geld angewiesen wird, bis zu dem Moment, in dem die Steine für irgendein Bauwerk aufeinandergeschichtet werden oder die Nahrungsmittelhilfe an die Bevölkerung ausgegeben wird oder die Gesundheitsversorgung erfolgt, muss eben jeder Schritt einzeln überprüft werden, ob an irgendeiner Stelle überproportional an Personen oder Institutionen überwiesen wird, die dann eben doch der Hamas nahestehen. Es hat niemand Interesse daran, dass Geld verschwindet.
Nun wird geprüft, unter Umständen fließt kein Geld mehr. Lässt sich die Hamas davon beeindrucken?
Nein, auf gar keinen Fall. Der Hamas ist es ziemlich egal, wie es der Bevölkerung geht und wie der Westen reagiert. Die Hamas ist eine hochgradig ideologische Organisation, und sie hat schon bisher bewiesen, dass sie sich durch rein gar nichts in ihren Aktivitäten einschüchtern lässt. Das Einstellen der Hilfe würde die Bevölkerung strafen, aber sicherlich nicht die Hamas.
Könnte dies gar eine Radikalisierung der Bevölkerung bedeuten?
Natürlich führt ein Einstellen der Hilfe zu einer weiteren Radikalisierung. Wenn die Menschen im Gazastreifen darüber informiert sind, dann verlieren sie natürlich ihren letzten Glauben daran, dass der Westen sich überhaupt noch um sie kümmert. Die einzige Organisation, die dann wirklich noch für sie da ist, ist dann tatsächlich die Hamas.
Was ist Ihre Prognose für eine Bodenoffensive in Gaza?
Wir müssen mit sehr vielen Toten und mit sehr großen, auch materiellen Verlusten rechnen. So oder so wird sich die humanitäre Situation im Gazastreifen noch weiter zuspitzen. Es werden von islamistischen und propalästinensischen Organisationen überall auf der Welt Bilder gemacht werden, und man wird sagen, die Israelis sind doch auch nicht besser.
Ich teile diese Argumente nicht, aber wir müssen eben mit diesen Reaktionen rechnen. Dies wird zu einer wahnsinnigen Polarisierung zumindest im Nahen Osten, aber vermutlich weltweit führen. Der alte Palästinakonflikt war nie überwunden. Er wird die Staatenwelt wieder stärker in Lager aufteilen. Meine Befürchtung ist, dass dann jegliche Kooperation islamischer Staaten mit Israel sehr schwierig wird, weil die eigene Bevölkerung in diesen Ländern schon fast reflexhaft und unreflektiert Partei ergreift für die palästinensische Seite.
Entwicklungszusammenarbeit ist auch Versöhnungsarbeit. Sehen Sie dafür überhaupt eine Chance?
Die Entwicklungszusammenarbeit der klassischen Form, wie wir es mit Jordanien oder Marokko machen, ist sowieso im Gazastreifen nicht möglich, war es nie und wird es auch nicht sein, solange die Hamas da ist. Humanitäre Hilfe wird noch mehr notwendig sein als bisher, weil Häuser zerstört werden, weil Menschen gesundheitliche Versorgung brauchen werden, weil die Versorgung mit Lebensmitteln noch schwieriger sein wird.
Das wird natürlich für eine begrenzte Zeit logistisch schwierig werden. Die internationalen Organisationen verfügen über Erfahrungen. Aber wir reden hier nicht von Entwicklungszusammenarbeit, wie sie in der Westbank den Aufbau von Institutionen, von Versorgungsinfrastruktur unterstützt. Wir reden hier von der Versorgung der Bevölkerung mit dem Allernotwendigsten.
Leser*innenkommentare
Markus H.
Diskutieren wir ernsthaft darüber, ob man 2,3 Millionen Menschen verhungern lassen kann!
Andreas Horn
@Markus H. Ja, das ist leider so.
In der "Welt" werden gewisse Leserkommentare veröffentlicht, die ein rigoroses Abriegeln des Gazastreifens fordern mit dem Hinweis, daß das eh alles potentielle Terroristen sind und daher keine Gnade zu walten hat, auch gegenüber Kindern nicht, mir wurde Speiübel und ich bekomme Angst vor Konservativen Medieformaten....
Bmit
Es wird immer von weiterer Radikalisierung gesprochen, aber was bedeutet das konkret? Die Hamas hat bereits mehr Menschen als Material. Sie braucht nicht noch mehr Unterstützer.
Das Problem ist, dass jede Hilfe die Hamas unterstützt. Die Hamas hat selbst vom Westen bezahlte Wasserleitung ausgegraben und in Raketen umgebaut. Jede Wirtschaftsaktivität hilft der Hamas da es ihre Steuereinnahmen erhöht.
Also was tun? Bodenoffensive geht nicht da es die Bevölkerung radikalisiert. gezielte Schläge gehen auch nicht, da die Hamas ihre Verstecke in Schulen und Krankenhäuser baut und das die Bevölkerung radikalisiert. Autonomie oder gar Unabhängigkeit und offene Grenzen geht nicht, da dann die Hamas zugriff auf mehr Ressourcen erhält und mehr Raketenanschläge und schlimmeres durchführen kann. Grenzen schließen geht nicht da das die Bevölkerung radikalisiert.
Martin Rees
Der Tod für viele Radikale ist schon einkalkuliert* von der Führung, die Propaganda hatte bislang Erfolg.
Einzelschicksale sind offenbar unerheblich.
taz.de/Kommentar-M...ngenieur/!5500205/
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2018 taz Susanne Knaul
"Die Zivilbevölkerung zahlt den Preis, auch bei den wöchentlichen Demonstrationen des „Großen Marschs der Rückkehr“, wo Dutzende Palästinenser mit offenen Armen auf die Scharfschützen zuliefen. Die Irreführung der Massen, die täglich mit dem Mantra gefüttert werden, dass allein Israel die Schuld an ihrer Not trägt, funktioniert."
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Ironischerweise macht die Doppeldeutigkeit des Wortes Preis, der auch positiv verstanden werden kann, einen gewissen Unterschied in der Betrachtung von Chancen und Risiken einer Selbstgefährdung durch radikale Aktionen.
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taz.de/Buch-ueber-Islamismus/!5827090/
"Die Muslimbüder und den Wahhabismus erklärt Difraoui zu religiösen Wegbereitern des Dschihadismus. Aber eigentlich definiert er den Dschihadismus als pseudoreligiöse Sektenbewegung, die den Islam vereinfachend und falsch für ihre Zwecke interpretiert.
Doch wie erklärt sich dessen Attraktivität für die Verführten aus aller Welt? Was sind seine gesellschaftlichen und individuellen Ursachen? Difraoui zeichnet die Lebenswege von Dschihadisten nach, auch von Frauen. Ausgrenzerfahrung, Aufbegehren, Suche nach Anerkennung, aber auch der Hang zu pathologischer Gewalt sind Mosaiksteine eines unfertigen Erklärungsversuchs. Religion ist für die meisten vor allem Flucht in eine blindwütige Ideologie.
(...)
Doch der Nährboden für dschihadistische Gewaltfantasien und Gewaltbereitschaft nimmt vor allem in den arabischen Ländern zu: soziale und ökonomische Perspektivlosigkeit schaffen Elend und verstärken die Suche nach pseudoreligiösen Heilsverprechungen. Die Warnrufe in der arabischen Welt werden lauter. Algerien, Libyen, Ägypten, Syrien, der Irak – eine Krise reiht sich an die andere. Keine schlechten Zeiten für das Monster Hydra."
*syn. u.a. "einpreisen"
rero
@Martin Rees Was Sie rückwärtsgewandte Fragestellung nennen, ist top aktuell.
Die Hamas kann durch ihre Tunnel alles Mögliche importieren.
Das funktioniert seit langem und wird immer noch funktionieren.
Hamas und Islamischer Dschihad sind von den Bomben aus Israel ja nicht überrascht.
Eine derartige Reaktion haben sie erwartet.
rero
@Martin Rees Danke für den Hinweis auf diesen Artikel von Frau Knaul.
Šarru-kīnu
Wenn jetzt erst eine Radikalisierung droht was beschreibt denn dann den bisherigen Zustand? Das Geschäftsmodell der dortigen Radikalen, die eigene Bevölkerung ins Kreuzfeuer zu schicken, damit der Klingelbeutel glüht der unter den professionellen Israelkritikern im Westen zirkuliert, muss endlich durchbrochen werden.
665119 (Profil gelöscht)
Gast
Nachgiebigkeit wird als Schwäche gesehen, Hilfszahlungen als Tribut. Diese Mentalität lässt sich nicht liebkuscheln.
Gnutellabrot Merz
Was genau muss passieren, dass die Menschen im Gazastreifen verstehen, dass ihr Problem die Hamas ist?
So richtig vorangebracht hat die Hamas Gaza ja nicht, seit sie regiert. Fällt das den Menschen nicht auf, dass es vorher besser war?
Socrates
@Gnutellabrot Merz „Fällt das den Menschen nicht auf, dass es vorher besser war?“
Meine Theorie: der Mehrheit wahrscheinlich nicht, und zwar aus folgenden Gründen:
Die Hamas beherrscht den Gazastreifen seit 16 Jahren.
Frauen bringen durchschnittlich 4 Kinder zur Welt. 65% der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt.
en.wikipedia.org/w..._of_the_Gaza_Strip
Dieser Bevölkerungsanteil kann gar keine Erinnerung an einen früheren Zustand haben. Sie kennt den Gazastreifen gar nicht anders; sie ist aufgewachsen unter Hamas-Herrschaft und israelischer Blockade mit wechselseitigen Raketenangriffen und Vergeltungsschlägen. Und die vorherige Generation ist unter Besatzung aufgewachsen (ob sie diese Zeit überhaupt als „besser“ einschätzt?)
So eine Bevölkerungsstruktur begünstigt natürlich den Konflikt: jede Generation ist doppelt so groß wie die vorherige und bräuchte Wohnraum, Wasser, medizinische Versorgung und eine Einkommensquelle. Die Zahl der bedürftigen und damit der Bedarf an Hilfe von außen steigt stetig, und somit auch die Zahl der potenziellen Rekruten.
Selbst wenn von heute auf morgen ein dauerhafter Friedensschluss käme mit Aufhebung der Handelshemmnisse, wäre der Gazastreifen immer noch in einer sehr prekären wirtschaftlichen Situation: viele Menschen, wenig Wasser, wenig Ackerland, keine eigene Energiequelle. Ohne Maßnahmen zur Umkehr des Bevölkerungswachstums ein bodenloses Fass.
Frankenjunge
@Gnutellabrot Merz Die Hamas würde sogar im Westjordan derzeit die Mehrheit bekommen, sofern die PLO mit Mahmoud Abbas antreten würde. Es ist die Perspektivlosigkeit für den Boden der Hamas. Es ist die seit 16 Jahre andauernde Blockade des Gazastreifens durch Israel. Es ist das Vorgehen Israels im Westjordanland. Alles fruchtbarer Boden für die Hamas.
Questor
@Gnutellabrot Merz Wie soll den Menschen im Gazastreifen das auffallen, wenn selbst die palästinensische Bevölkerung in Europa das nicht versteht?
Die Hamas kontrolliert Gaza seit 2006, zählen Sie mal die Demos gegen die Terrororganisation in diesen 17 Jahren und vergleichen Sie die mit den Protest-Demos gegen Israel seit die Hamas am 7.10. Israel überfallen hat.
Für mich ergibt sich da ein sehr eindeutiges Bild wer als Problem gesehen wird.
Henriette Bimmelbahn
@Gnutellabrot Merz Das ist genau die Frage, die ich mir stelle. 2005 hat die Hamas die Wahlen mit 44% gewonnen. Für mich sollte es für ihre damaligen Wähler eigentlich glasklar sein, dass sie viel schlimmer ist, als alles vorher dagewesene - also sollte sie heute weniger Anhänger haben. Wie gesagt, für mich. Aber - sehen das die Palästinenser auch so? In den letzten Tagen wurde die Hamas gefeiert und bejubelt. Möglicherweise ist man mehrheitlich anderer Meinung in Gaza. Who knows?
Lindenberg
Heimliche Zahlungen an die Hamas genau zu kontrollieren, dürfte nur schwer möglich sein, denn es gibt keine Polizei und Justiz im Gazastareifen, die ein Interesse daran hat, mafiöse Zustände aufzudecken und zu bestrafen.
Doch auch in Italien gelingt es nicht zu verhindern, dass viel EU-Geld bei großen Infrastrukturprojekten bei der Mafia landet. In Ungarn und Griechenland verschwinden regelmäßig EU-Gelder in dunklen Kanälen, ohne dass das große politische Konsequenzen hätte.
Sollte die Hamas besiegt sein und Gaza-Stadt eine Kraterlandschaft sein, wer übernimmt die Verantwortung für Verpflegung und Unterbringung von über einer Million Flüchtlingen im Gazastreifen und den Aufbau der zerstörten Stadt Gaza?
Die EU, arabische Nachbarstaaten und die UN sind dann in der Pflicht zu helfen.
Nafets Rehcsif
Die Debatte geht derzeit halt viel zu wild durcheinander…
Gegen die Lieferung lebensnotwendiger Hilfen hat glaube ich niemand ernsthaft opponiert, da gibt es derzeit nur dieses Problem mit dem Grenzübergang. Aber diese Vorwürfe von wegen „vorsätzlich verhungern lassen“, das ist schon eher weit hergeholt.
Das andere Thema ist die Zahlung von Geldbeträgen. Diese Frage stellt sich derzeit ohnehin nicht, die Palästinenser im Gazastreifen können sich damit nämlich derzeit nichts kaufen…
Es wird hier gerne diese „Schuldfrage“ der Terrorfinanzierung eingewebt, was aber halt eine rückwärtsgewandte Fragestellung ist, die derzeit gegenstandslos ist, weil selbst wenn man derzeit die Hamas finanzieren würde, auch die damit nichts kaufen und ins Land schaffen könnte.
Ebenso irrig sind die Mahnungen zur Beibehaltung der Finanzierung, würde man derzeit säckweise Geld über Gaza abwerfen, für mehr als ein Lagerfeuer würde es halt doch nicht zu gebrauchen.
Wie die Hilfszahlungen zukünftig zu gestalten sind wird trotzdem ein Thema sein. Nur wird sich da keine angemessene Lösung finden lassen, bevor wir den Ausgang des Krieges nicht kennen… Es ist derzeit auch keine dringende Frage. Dass der Wiederaufbau teuer werden wird und überwiegend von der internationalen Gemeinschaft bezahlt werden muss, dürfte auch allen Regierungen klar sein.
Wie auch immer, von der Politik bis hin zu Medien und Hilfsorganisationen wären wohl alle gut beraten, das alles sprachlich sauberer zu trennen. Es ist derzeit halt ein Unterschied ob man „50 Millionen € in Bar“, oder „Lebensmittel und Medikamente im Wert von 50 Millionen €“ meint. Ob man davon redet was gestern vielleicht passiert sein könnte, dem was heute nötig ist oder der Frage wie man es morgen machen sollte, etc…
Gast100100
Was kann in Gaza noch weiter eskalieren?
0ctan
Aus Gaza sind hunderte bewaffnete heraus gestürmt und haben Zivilisten in sehr großer Zahl ermordet. Ich frag mich wo da noch Steigerungspotenzial bei der Radikalisierung sein soll. Wer nicht nicht bei der Hamas Mitglied ist, will das wohl auch in Zukunft nicht werden. Die Hamas selber ist maximal extrem würde ich sagen.