Entwicklungsforscher über Gaza: „Radikalisierung droht“

Entwicklungsökonom Markus Loewe warnt davor, die Hilfen für die palästinensischen Gebiete auszusetzen. Dies würde nur der Hamas in die Hände spielen.

Ein mann mit Wasserkanister in einer Strasse voller Müll in Gaza

„… die Lage ist kurz vor dem Punkt, wo ein vernünftiges Leben überhaupt nicht mehr möglich ist“ Foto: Hatem Moussa/ap

taz: Herr Loewe, Ägypten und Israel haben zugesagt, humanitäre Güter über den Grenzposten Rafah für den Gazastreifen zuzulassen. Wie bewerten Sie diese Zusage?

Markus Loewe: Noch ist ja nichts passiert, aber es ist wichtig, dass Rafah aufgemacht wird, damit Hilfsgüter nach Gaza kommen. Allerdings ist erstens gar nicht sicher, ob Ägypten überhaupt den Grenzübergang öffnet. Zweitens ist unklar, ob Israel wirklich zustimmt, und drittens, wie die Freigabe der Güter seitens der Israelis gehandhabt wird. Israel hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass alles, was reinkommt, auch kontrolliert werden muss. Das kann zu einer wahnsinnigen Verzögerung führen.

ist Entwicklungsökonom und Nahost-Experte. Loewe arbeitet am Deutschen Institut für Entwicklung und Nachhaltigkeit in Bonn (IDOS).

Besteht aber nicht die Gefahr, dass die Hilfsgüter in die Hände der Hamas fallen, wenn es keinen Waffenstillstand gibt?

Ja, die Gefahr besteht, dass die Hamas bestimmt, wer die Hilfen bekommt und nach dem Loyalitätsprinzip agiert. Aber was ist die Alternative? Die Bevölkerung verhungert und verdurstet.

Was muss nach der Grenze passieren?

Internationale Organisationen wie UNRWA – das UN-Hilfswerk für geflüchtete Palästinenser – haben Verteilungsstrukturen in den vergangenen Jahren aufgebaut. Sie arbeiten mit lokalen Kräften und die wissen, was zu tun ist. Aber ein guter Verteilmechanismus hat die Voraussetzung, dass die Hamas sich nicht einmischt. Ohnehin müssen aber auch von Hilfsorganisationen neue Verteilstrukturen aufgebaut werden. Denn Menschen, die im Norden bisher erreicht werden konnten, sind größtenteils in den Süden geflohen und leben dort an Stellen, wo es keine Verteilstrukturen gibt.

Was wäre aus Ihrer Sicht eine „echte“ Hilfe für Gaza?

Ich plädiere für einen humanitären Korridor, in dem die Transporter nicht angegriffen werden und internationale Hilfsorganisationen die Verteilung umsetzen können. Der Sprit geht zu Ende, es gibt kein aufbereitetes Trinkwasser mehr, der Strom wurde abgeschaltet. Die Situation in Gaza ist nicht mehr nur schlecht, sondern die Lage ist kurz vor dem Punkt, wo ein vernünftiges Leben überhaupt nicht mehr möglich ist. Wir müssen alles dafür tun, damit möglichst viele Güter ins Land reinkommen, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, die es in dieser Form vermutlich seit 1948 oder 1949 nicht mehr gegeben hat.

Wie schätzen Sie die bisherige Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen ein?

Die humanitäre Lage im Gazastreifen war schon bisher katastrophal. Die Bevölkerung leidet in extremen Maße unter Unterernährung, unter Mangelversorgung in Sachen Gesundheitsdienstleistungen, zum Teil sogar an Mangel an Trinkwasser. Die Geber, darunter Deutschland, die EU und andere, haben sich bemüht, ein halbwegs erträgliches Leben herzustellen.

Ich sehe es als die Verantwortung Deutschlands und Europas an, die Bevölkerung zu unterstützen, die ja nicht in Haft genommen werden sollte für die Politik ihrer De-facto-Regierung.

Es gibt auch Stimmen, die Hamas-Kämpfer unter der Zivilbevölkerung vermuten und daher Hilfe ablehnen.

Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass die Palästinenser alle Anhänger der Hamas sind. Es gibt eben auch sehr viele, die sehr kritisch eingestellt sind. Das dürfen sie nur nicht sagen, weil die Repression im Gazastreifen sehr stark ist. Aber wir setzen uns ja auch in Afghanistan dafür ein, dass den Opfern von Erdbeben geholfen wird.

Wir setzen uns in vielen Ländern dafür ein, dass Notleidende nach Katastrophen unterstützt werden, auch wenn die Regierungen autoritär sind. Im Rahmen der humanitären Hilfe wird nie geschaut, was für eine Regierung da ist, weil man einfach die Bevölkerung nicht in Haft nehmen darf für die Politik der Regierung.

Nun befürchten aber viele, dass die Hamas auch Hilfsgelder für die Herstellung von Waffen zweckentfremdet. Muss man da nicht die Hilfe einstellen?

Meines Erachtens nein. Es ist ja nicht so, dass erst seit diesem Wochenende bekannt ist, dass die Hamas eine Terrororganisation ist. Wir müssen hier ganz stark unterscheiden zwischen dem, was im Westjordanland läuft, und dem, was im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit im Gazastreifen gelaufen ist. Das ist vollkommen anders von der Form und von der Ausrichtung her konzipiert gewesen.

Was meinen Sie damit konkret?

Mit der palästinensischen Autonomiebehörde ist echte Entwicklungszusammenarbeit durchgeführt worden, wie sie auch mit anderen Ländern wie Jordanien, wie Ägypten und vielen anderen Ländern läuft. Im Gazastreifen hat es nur Unterstützung gegeben, die eher mit dem, was man eigentlich humanitäre Hilfe nennen würde, vergleichbar ist. Das heißt, es hat keine Kooperation mit der Hamas gegeben und es ist auch kein Geld an die Hamas geflossen.

Es hat auch kaum einen bilateralen Einsatz gegeben, sondern das, was Deutschland aufgewendet hat, ist fast ausschließlich an internationale Organisationen und internationale Nichtregierungsorganisation wie das Rote Kreuz und den Roten Halbmond geflossen. Dies hat im Wesentlichen dazu gedient, die humanitäre Situation der Bevölkerung zu verbessern. Das heißt, es handelte sich um Lebensmittelhilfen, um Unterstützung für die Gesundheitsversorgung und um die Versorgung mit Trinkwasser.

Entwicklungszusammenarbeit wird vom Bundesentwicklungsministerium, also dem Haus von Svenja Schulze (SPD), finanziert. Humanitäre Hilfe kommt aus dem Auswärtigen Amt. Was wurde denn nun wie finanziert?

Es haben verschiedenste Aktivitäten im Westjordanland stattgefunden. Zum Beispiel hat es Unterstützung im Bereich Berufsbildung gegeben, im Bereich Schulbau, für die Unternehmensförderung, für einen Industriepark, wo sich kleine Unternehmen ansiedeln können oder für eine Verwaltungsreform.

Wenn ich sage, die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Gazastreifen ist aber letztlich auch so etwas wie humanitäre Hilfe, dann will ich damit sagen, dass das Bundesentwicklungsministerium Maßnahmen durchführt, die von der Natur her so sind wie humanitäre Hilfe. Der Unterschied ist: Sie sind längerfristig angelegt, das heißt, es gibt längerfristige Zielsetzungen und Zusagen an internationale Organisationen, um eben medizinische Versorgung und Nahrungsmittel sicherzustellen. Das läuft dann beispielsweise über das UN-Flüchtlingshilfswerk für palästinensische Flüchtlinge oder über das World Food Programm.

Aber in Gaza gibt es eine Ausnahme?

Ja, es wurde mit Mitteln des BMZs eine Kläranlage gebaut. Das Problem des Gazastreifens ist, dass im Prinzip kein Trinkwasser da ist. Das liegt daran, dass es eigentlich keine Flüsse dort gibt und dass der Grundwasserspiegel immer stärker absinkt. Dennoch sind eben zweieinhalb Millionen Menschen mit Trinkwasser zu versorgen, und das funktioniert nur, wenn extrem sparsam mit dem wenigen Wasser, was da ist, umgegangen wird. Dafür wurde die Kläranlage gebaut. Auch das erfolgte aber nicht zusammen mit der Hamas, sondern in Zusammenarbeit mit unabhängigen Organisationen.

Trotzdem hat Ministerin Schulze mit Beginn des Krieges angekündigt, die Entwicklungszusammenarbeit auf den Prüfstand zu stellen. Ist das richtig?

Den Vorwurf, Geld könnte indirekt an die Hamas geflossen sein, muss man ernst nehmen. Man tut alles, um sicherzustellen, dass die Mittel, die aufgewendet werden, nicht in die Taschen derer fließen, die jetzt hier für das Problem verantwortlich sind. Aber ganz ausschließen lässt sich das nie. Die Herausforderung besteht darin, dass man die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, auf ein Minimum reduziert.

Also doch Einstellen beim kleinsten Zweifel?

Sicherstellen, dass es keinen Missbrauch gibt, kann man nur, indem man die Hilfe ganz einstellt. Nach dem brutalen Angriff auf Israel ist es die richtige Reaktion, alle Hilfen zu prüfen. Nach allem, was ich weiß, gehe ich aber nicht davon aus, dass festgestellt wird, dass hier irgendwo Geld verschwunden ist. Dazu ist nach meinen Informationen schon bisher so gut geprüft worden, dass dieses Risiko wirklich auf dem Minimum abgesenkt worden ist.

Wie wird denn geprüft?

Man muss im Prinzip die gesamte Kette prüfen. Von dem Moment, wo das Geld aus dem Bundeshaushalt ausgezahlt wird an eine durchführende Organisation, die dann Material anschafft, die dann Projekte durchführt. Man muss an jeder Stufe letztlich sicherstellen, dass Lebensmittelhilfen nicht vor allem an Menschen gehen, die der Hamas nahestehen. Man muss überprüfen, welche Firmen beauftragt werden, ob deren Gewinne an die Hamas fließen.

Das heißt, in der gesamten Kette, von dem Moment an, wo das Geld angewiesen wird, bis zu dem Moment, in dem die Steine für irgendein Bauwerk aufeinandergeschichtet werden oder die Nahrungsmittelhilfe an die Bevölkerung ausgegeben wird oder die Gesundheitsversorgung erfolgt, muss eben jeder Schritt einzeln überprüft werden, ob an irgendeiner Stelle überproportional an Personen oder Institutionen überwiesen wird, die dann eben doch der Hamas nahestehen. Es hat niemand Interesse daran, dass Geld verschwindet.

Nun wird geprüft, unter Umständen fließt kein Geld mehr. Lässt sich die Hamas davon beeindrucken?

Nein, auf gar keinen Fall. Der Hamas ist es ziemlich egal, wie es der Bevölkerung geht und wie der Westen reagiert. Die Hamas ist eine hochgradig ideologische Organisation, und sie hat schon bisher bewiesen, dass sie sich durch rein gar nichts in ihren Aktivitäten einschüchtern lässt. Das Einstellen der Hilfe würde die Bevölkerung strafen, aber sicherlich nicht die Hamas.

Könnte dies gar eine Radikalisierung der Bevölkerung bedeuten?

Natürlich führt ein Einstellen der Hilfe zu einer weiteren Radikalisierung. Wenn die Menschen im Gazastreifen darüber informiert sind, dann verlieren sie natürlich ihren letzten Glauben daran, dass der Westen sich überhaupt noch um sie kümmert. Die einzige Organisation, die dann wirklich noch für sie da ist, ist dann tatsächlich die Hamas.

Was ist Ihre Prognose für eine Bodenoffensive in Gaza?

Wir müssen mit sehr vielen Toten und mit sehr großen, auch materiellen Verlusten rechnen. So oder so wird sich die humanitäre Situation im Gazastreifen noch weiter zuspitzen. Es werden von islamistischen und propalästinensischen Organisationen überall auf der Welt Bilder gemacht werden, und man wird sagen, die Israelis sind doch auch nicht besser.

Ich teile diese Argumente nicht, aber wir müssen eben mit diesen Reaktionen rechnen. Dies wird zu einer wahnsinnigen Polarisierung zumindest im Nahen Osten, aber vermutlich weltweit führen. Der alte Palästinakonflikt war nie überwunden. Er wird die Staatenwelt wieder stärker in Lager aufteilen. Meine Befürchtung ist, dass dann jegliche Kooperation islamischer Staaten mit Israel sehr schwierig wird, weil die eigene Bevölkerung in diesen Ländern schon fast reflexhaft und unreflektiert Partei ergreift für die palästinensische Seite.

Entwicklungszusammenarbeit ist auch Versöhnungsarbeit. Sehen Sie dafür überhaupt eine Chance?

Die Entwicklungszusammenarbeit der klassischen Form, wie wir es mit Jordanien oder Marokko machen, ist sowieso im Gazastreifen nicht möglich, war es nie und wird es auch nicht sein, solange die Hamas da ist. Humanitäre Hilfe wird noch mehr notwendig sein als bisher, weil Häuser zerstört werden, weil Menschen gesundheitliche Versorgung brauchen werden, weil die Versorgung mit Lebensmitteln noch schwieriger sein wird.

Das wird natürlich für eine begrenzte Zeit logistisch schwierig werden. Die internationalen Organisationen verfügen über Erfahrungen. Aber wir reden hier nicht von Entwicklungszusammenarbeit, wie sie in der Westbank den Aufbau von Institutionen, von Versorgungsinfrastruktur unterstützt. Wir reden hier von der Versorgung der Bevölkerung mit dem Allernotwendigsten.

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