Ein Vater-Tochter-Gespräch: Bin ich ein „Alter Weißer Mann“?
Viele fühlen sich von der Zuschreibung beleidigt. Wer oder was ist der „Alte Weiße Mann“? Ulrich Gutmair hat seine Tochter Amalia Sterngast befragt.
W ann in den USA zuerst von „Alten Weißen Männern“ die Rede war, lässt sich nicht bis ins Detail nachvollziehen. Sicher ist aber, dass die Chiffre Anfang der 1990er Jahre in progressiven Kreisen zu zirkulieren begann. Der Altphilologe Bernard MacGregor Walker Knox griff sie im Jahr 1992 auf und befasste sich in einer Vorlesung mit „The Oldest Dead White European Males“. In seinen Überlegungen zu den „ältesten toten weißen europäischen Männern“ ging es ihm darum, den Kanon von Philosophie und Literatur um Personen zu erweitern, die keine weißen europäischen Männer waren. Damals war Walker Knox, 1914 geboren, selbst ein alter weißer Mann. In Deutschland wurde „Alter Weißer Mann“ erst in den vergangenen zehn Jahren zum Kampfbegriff und schließlich zum Klischee.
taz-Redakteur Ulrich Gutmair sprach am Küchentisch mit seiner Tochter Amalia Sterngast darüber, was es mit den „Alten Weißen Männern“ auf sich hat, welche Bedeutung der Begriff für junge Frauen hat und wie junge Männer auf ihn reagieren.
Amalia Sterngast
ist die Tochter von Ulrich Gutmair und in diesem Jahr 18 geworden. Derzeit arbeitet sie im Rahmen eines Freiwilligendienstes in einer humanitären Einrichtung in Buenos Aires.
Ulrich Gutmair
ist der Vater von Amalia Sterngast und 1968 geboren. Er ist seit 2007 taz-Redakteur. Er arbeitet abwechselnd im Kulturressort und für die Politikseiten der wochentaz. In diesem Jahr ist sein Buch „Wir sind die Türken von morgen. Neue Welle, neues Deutschland“ erschienen, in dem es unter anderem um feministische Punkbands der frühen 1980er Jahre geht.
Ulrich Gutmair: Es wird seit geraumer Zeit oft und gern über „Alte Weiße Männer“ geredet. Was verstehst du darunter und wann ist dir der Begriff zum ersten Mal begegnet?
Amalia Sterngast: Ich weiß nicht, wann er mir zum ersten Mal begegnet ist. Aber er hat große Bedeutung für mich. Denn sie regieren unsere Welt, die „Alten Weißen Männer“.
Fandest du es merkwürdig, als ich dich fragte, ob du mit mir über „Alte Weiße Männer“ sprechen würdest?
Überraschend war das nicht. Es ist ja nicht abwegig, dass du, aus deiner Generation, mich, als Vertreterin meiner Generation, danach fragst.
Du und deine Freundinnen, seid ihr euch darin einig, dass „Alte Weiße Männer“ politisch und gesellschaftlich eine besonders problematische Rolle spielen?
Ja, die „Alten Weißen Männer“ sind schon ein Feindbild. Wenn es ein Problem in der Gesellschaft gibt, dann sind meist „Alte Weiße Männer“ die Ursache.
Weil es meist „Alte Weiße Männer“ sind, die Macht und Einfluss haben?
Ja. Aber es kommt dabei schon darauf an, auf welchen gesellschaftlichen Kontext man sich bezieht. Wenn es um Sexismus geht oder Rassismus, dann sind „Alte Weiße Männer“ sehr oft die Problemfälle.
Was ist problematischer an ihnen, dass sie alt sind oder weiß? Oder ist die Kombination toxisch?
Es ist die Kombination, richtig. An sich macht ihr Alter oder ihre Hautfarbe die Menschen per se nicht problematisch. Der „Alte Weiße Mann“ ist eine Metapher. Man muss nicht weiß, männlich und alt sein, um ein „Alter Weißer Mann“ zu sein. Es ist eine Metapher für Menschen, die ein bestimmtes Weltbild haben, das sehr konservativ ist und die alten patriarchalischen Machtstrukturen erhalten möchte, wo Männer über Frauen stehen und Weiße mehr wert sind als andere Menschen.
Es geht also nicht um die „Alten Deutschen Männer“?
Warum deutsch?
Der „Alte Weiße Mann“ ist ein relativ neuer Begriff, aus den USA importiert, wo es eine ganz andere Geschichte zwischen „weißen“ Menschen und Menschen aus Afrika gibt, die als Sklaven verkauft wurden. Diese Geschichte wirkt bis heute nach. Als ich Teenager war, hätte man in der deutschen Einwanderungsgesellschaft, die lange nicht anerkannt hat, dass sie eine ist, vielleicht eher gesagt, dass es die „Alten Deutschen Männer“ sind, die mit der neuen Realität nicht zurechtkommen.
Verstehe. Aber der „Alte Weiße Mann“ verweist auf etwas Universelleres.
Hat dieser globalere Blick damit zu tun, dass ihr so viel über TV-Serien, soziale Medien und Internet aus der Welt mitbekommt?
Wir sind mit Social Media aufgewachsen, das macht uns weltbewusster. Das macht schon einen großen Unterschied. Es gab früher viel weniger Möglichkeiten, mitzukriegen, was andere „Alte Weiße Männer“ in der Welt so von sich geben.
Ich verstehe, dass euch das so erscheint. Aber wenn ich als junger Mensch in den 1980ern die Zeitung aufgeschlagen habe, wurden dort größtenteils auch die Ansichten von „Alten Weißen Männern“ wiedergegeben.
Ja, aber es ist was anderes, einen Zeitungsartikel zu lesen, der dich über die Position von jemandem informieren soll, als einen direkten Tweet von einem Trump zu lesen.
Tritt euch der „Alte Weiße Mann“ auch in eurem Alltag gegenüber?
Ja, aber auch im Alltag ist es eine Metapher für Leute, die dieses Mindset, diese Einstellung repräsentieren.
Wo begegnet man denen? Zu Hause, in der Schule, im Supermarkt?
Man begegnet ihnen im Geist von Mitmenschen, die auch in unserem Alter sein können, die wie „Alte Weiße Männer“ denken, die also das Denken der „Alten Weißen Männer“ wiedergeben. Man trifft sie in Institutionen, überall dort, wo Hierarchie herrscht.
Nehmen wir die Schule als Beispiel. Benimmt sich da hin und wieder auch die jüngere, nicht-weiße Lehrerin wie ein „Alter Weißer Mann“?
Sie ist vielleicht nicht in der Position, dasselbe zu tun oder die selbe Macht auszuüben, aber ja: Sie kann die selben Ideen vertreten.
Hast du das schon erlebt?
Das gibt es, aber vereinzelt, es ist sehr selten. Das sind etwa Menschen, die das nicht komplett verkörpern, aber weil sie aus einer älteren Generation kommen oder politisch eher konservativ sind, so sprechen wie „Alte Weiße Männer“. Das kann auch eine Lehrerin sein, die sagt: „Die Mädchen sollen sich nicht so freizügig anziehen, sonst können sich die Jungs nicht gut konzentrieren.“ Das kann auch von Leuten kommen, die ansonsten nicht Ansichten von „Alten Weißen Männern“ vertreten. Wobei Sexismus im Schulunterricht auch von klassischer Seite vorkommt. Zum Beispiel, wenn ein älterer männlicher Sportlehrer einen Kommentar wie diesen abgibt: „Schlag die Mädchen mal nicht so doll ab mit dem Ball.“ Oder wenn eigene Regeln für die Mädchen entworfen werden. Oder in Kommentaren von Mitschülern: „Ach ja, ihr müsst keine normalen Liegestützen machen, ihr müsst nur Frauenliegestütze machen.“ Sexismus begegnet mir im Alltag. Aber ich würde den „Alten Weißen Mann“ trotzdem als Metapher begreifen.
Ich habe kürzlich eine Reportage aus Brasilien gesehen. Als Präsident Bolsonaro abgewählt wurde, gab es einen Sturm auf Regierungsgebäude. Die Bolsonaro-Unterstützer hatten ein Camp aufgebaut und das Fernsehteam hat dort Interviews gemacht. Alle Leute, die interviewt wurden, waren nicht-weiße Frauen, die für Bolsonaro kämpften. Bolsonaro selbst ist ein Musterbeispiel für einen „Alten Weißen Mann“. Seine Unterstützerinnen, die man in der Reportage sehen konnte, waren aber von außen betrachtet das Gegenteil dessen, was man sich unter einem „Alten Weißen Mann“ vorstellt.
Das zeigt sehr gut, dass du kein alter weißer Mann sein musst, um ein „Alter Weißer Mann“ zu sein.
Amalia Sterngast
Wenn man den „Alten Weißen Mann“ als Metapher begreift, hat man eine Vorstellung von problematischen Strukturen und Denkweisen, die nicht an die Existenz einer Person gebunden sind. Wenn man den „Alten Weißen Mann“ nicht als Metapher begreift, sondern sich darunter eine reale Person vorstellt, dann hat das für mich einen leicht verschwörungstheoretischen Touch: Man hat die eine konkrete Figur gefunden, die Ursache für alles Schlechte in der Welt ist.
Ja, das stimmt, aber es gibt Paradebeispiele für den „Alten Weißen Mann“, so ein Trump oder ein Elon Musk. Es gibt diese Paradebeispiele, die das auch optisch und den Tatsachen entsprechend verkörpern, sie sind wirklich alte weiße Männer. Aber man kann es nicht darauf begrenzen, weil sie nur repräsentativ sind. Leute müssen erst in Führungspositionen gelangen, um ihren „Alten Weißen Mann“ ausleben zu können. Sie werden dabei unterstützt, und diese Unterstützer sind insofern auch „Alte Weiße Männer“, als sie deren Ideen verkörpern und verbreiten.
Wenn euch reale alte weiße Männer gegenübertreten, sind die verdächtiger als andere? Sagen wir mal, ihr habt einen neuen Lehrer. Der ist 55, deutsch, christlich, ein Repräsentant der Mehrheitsgesellschaft. Ist bei euch dann erst mal die Annahme: Der ist wahrscheinlich auch ein „Alter Weißer Mann“?
Man hat immer eine bestimmte Voreingenommenheit, wenn man Menschen zum ersten Mal begegnet. Man zieht Schlüsse aus dem Äußeren, ob man will oder nicht. Aber ich glaube, auch bei diesem Beispiel würde ich nicht unbedingt mehr als bei anderen die Erwartung haben: Das könnte ein „Alter Weißer Mann“ sein. Ob er einer ist, wird sich erst zeigen durch das, was er sagt. Aber es ist gut möglich, dass ich mir in diesem Fall schneller ein Bild machen würde.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Das heißt, der „Alte Weiße Mann“ ist eine Metapher, aber nicht nur: Das Bild deckt sich statistisch oft mit der Wirklichkeit?
Das deckt sich sehr oft. Von irgendwo her muss es ja kommen: Es ist nun mal eine Tatsache, dass alte weiße Männer die privilegierteste Bevölkerungsgruppe sind. Warum sollte sich das nicht zeigen? Es erfordert Anstrengung, sich in andere Leute hineinzuversetzen. Daher sind solche privilegierten Männer auch anfälliger für so ein Denken, weil sie nicht mit Problemen konfrontiert werden, die sie dazu zwingen würden, offener zu denken. Es hat seine Gründe, dass alte weiße Männer diese Ideen oft auch verkörpern.
Ich bin relativ alt und weiß, repräsentiere ich für dich den „Alten Weißen Mann“?
Nee.
Nee?
Also bei manchen Diskussionen denke ich schon: Okay?
Nenn ein Beispiel.
Mansplaining. Wenn Männer einem dozierend die Welt erklären. Wir hatten eine Diskussion, da hast du bestritten, dass Mansplaining ein größeres Gewicht hat als Womansplaning. Genauer, du hast die Frage gestellt, ob es nicht auch viele Frauen gibt, die das machen. Da dachte ich mir schon: Na ja. Aber generell sehe ich dich nicht als „Alten Weißen Mann“.
Das beruhigt mich. Ich betrachte mich noch als einigermaßen lernfähig. Wenn mir fünf Mal von intelligenten Menschen gesagt wird, dass ich zu Mansplaining neige, denke ich irgendwann darüber nach, ob was dran ist und es angebracht wäre, öfter mal die Klappe zu halten. Wenn du mit deinen Freundinnen sprichst, wie sieht es bei denen aus? Haben die familiär mit „Alten Weißen Männern“ zu tun?
Mein Umfeld ist schon sehr progressiv, und das kommt ja auch von irgendwoher, das hat was mit Erziehung zu tun. Bei anderen Jungen, denen ich begegne, zeichnet sich die Meinung der Familie auch im Verhalten der Kinder ab. Da sieht man schnell: Okay, die Familie ist sehr konservativ. Aber ich bin auch in einer Bubble. Ich gebe mich nicht mit Leuten ab, die sich verhalten wie „Alte Weiße Männer“. Es kann sein, dass meine Freundinnen und Freunde „Alte Weiße Männer“ als Väter haben, aber ich würde sagen, das ist eher nicht der Fall.
Du hast vorhin gesagt, dass Männer nicht so stark gezwungen sind, über ihre eigenen Privilegien nachzudenken.
Auch wenn eine Frau den „Alten Weißen Mann“ verkörpern kann, macht es doch einen Unterschied, immer noch, ob eine Frau oder ein Mann sich wie einer verhält, weil statistisch gesehen Männer weiterhin deutlich öfter in Machtpositionen sind. Mansplaining ist ein gesellschaftliches Phänomen, wenn es Frauen tun, sind das tendenziell eher Einzelfälle. Das gilt auch für Sexismus und Gewalt. Es ist problematisch, zu sagen, auch Männer werden vergewaltigt, wenn man damit verschleiern will, dass Vergewaltigung von Frauen ein großes gesellschaftliches Problem ist und die Vergewaltigung von Männern eher einzelne Kriminalfälle.
Aber gibt es Punkte, wo du denkst, mein Vater ist schon old fashioned? Was ja kein Wunder wäre, da ich deutlich älter bin als du?
Du bist wirklich ein sehr schlechtes Beispiel dafür.
Warum?
Du lebst halt wie ein Teenager: Du kriegst noch mehr von der linken, jungen Kulturszene mit als ich.
Amalia Sterngast
Teenager finde ich übertrieben, aber tendenziell ist was dran: Wenn man Kulturjournalismus macht, sollte man sich dafür interessieren, was so los ist in der Welt.
In ideologischen Fragen bist du jedenfalls kein typisches Exemplar des „Alten Weißen Mannes“.
Auf welchem Gebiet dann doch?
Bei technischen Fragen!
Ich vermute, du meinst bestimmte Apps, die ich nicht verstehe. Bei Tiktok etwa ist das angeblich absichtlich so gemacht, dass junge Menschen die App intuitiv bedienen können, während ältere Leute sie gar nicht verstehen sollen. Aber kommen wir zurück zum „Alten Weißen Mann“. Die Kolleginnen dachten, dass es gut wäre, die Geschichte eines selbstkritischen alten weißen Mannes im Blatt zu haben, der sich überlegt, wie es sich anfühlt, mit dem Bild des „Alten Weißen Mannes“ konfrontiert zu werden, und fragten mich. Ich hatte aber erstens keine Lust, das als tendenziell selbstbeweihräuchernde Ich-Geschichte aufzuschreiben, und fühle mich zweitens als „Alter Weißer Mann“ meist nicht angesprochen. Ich dachte, es wäre interessanter, dich zu fragen.
Vielleicht geht es ja nicht darum, dass du dich mit dem „Alten Weißen Mann“ identifizierst, sondern eher darum, wie es ist, unabhängig davon, wie du eingestellt bist, mit diesem Bild konfrontiert zu werden. Also etwa, ob man sich dann berechtigt oder unberechtigterweise beschuldigt fühlt oder im Arbeitsleben sozusagen dismissed wird als alter weißer Mann. Es geht ja auch in die umgekehrte Richtung.
In bestimmten Branchen hat man derzeit als junge Frau, die vielleicht aus einer Einwandererfamilie stammt oder einer sexuellen Minderheit angehört, womöglich die besseren Karten als ein alter weißer Mann. Unternehmen und Behörden haben verstanden, dass sie schon aus Eigennutz versuchen sollten, Erfahrungen zu integrieren, die Leute aus der Mehrheitsgesellschaft nicht haben. Außerdem ist es wichtiger geworden, die Gesellschaft in ihrer Vielfalt zu repräsentieren. Da kann es vorkommen, dass altdeutsche Cis-Männer nicht mehr automatisch damit rechnen können, das Rennen zu machen. Sie können sich dann ein bisschen besser vorstellen, wie es ist, wenn man nicht mit Privilegien ausgestattet ist. Ich finde es völlig richtig, dass Diversität heute ein wichtiges Kriterium am Arbeitsplatz ist.
Ja, aber ich glaube auch, dass es genau deswegen jetzt so viele reaktionäre Bewegungen gibt, weil die meisten nicht so selbstlos reagieren und sagen: Ich war mein ganzes Leben in einer privilegierten Position, ich stelle jetzt mal meine eigenen Wünsche hintenan, damit es gesellschaftlichen Fortschritt gibt und eine weniger privilegierte Person drankommt. Es ist eine menschliche und reflexartige Reaktion, zu denken: „Moment, nur weil ich keiner Minderheit angehöre, stehe ich vielleicht nicht ganz oben in der Bewerberliste. Ich werde ungerecht behandelt und ich will, dass alles wieder so ist wie zuvor.“ Deswegen macht es auch Sinn, dass je fortgeschrittener die Gesellschaft ist, desto stärker die reaktionären Gegenbewegungen sind. Das merkt man gerade überall auf der Welt: Rechtskonservative oder auch radikale Kräfte werden überall stärker, und man merkt, dass es nach einer mehr oder weniger langen stabilen Lage in vielen demokratischen Ländern jetzt wieder in die andere Richtung geht.
Du meinst, der Rechtsruck ist ein Effekt davon, dass alles immer besser wird?
Es kommt darauf an, was am Ende im Übergewicht ist. Im Moment sieht es nicht so gut aus. Aber es kommt natürlich auch immer darauf an, was genau man sich anschaut: Welche Dimension nehme ich den Blick? Welche Parteien auf politischer Ebene stärker werden oder was im gesellschaftlichen Rahmen doch ständig progressiver wird? Aber im Grunde genommen, denke ich, gehört das auch ein bisschen dazu: Menschen sind egoistisch, und es wird immer Beschwerden geben.
Amalia Sterngast
Diese Dialektik zeigt sich auch im Politischen. Die AfD ist für ein traditionelles Familienbild – je nach Flügel wie in den 1950ern oder in den 1930ern – und macht ständig Propaganda gegen queere Menschen und andere, die nicht in dieses Bild passen – und ihre Vorsitzende lebt mit einer Frau zusammen.
Das ist ein gutes Beispiel für die Metapher des „Alten Weißen Mannes“. In vielerlei Hinsicht stimmt Alice Weidel nicht mit dem Bild des „Alten Weißen Mannes“ überein, aber sie verkörpert komplett die Ideen des „Alten Weißen Mannes“. Sie ist ein „Alter Weißer Mann“ hinter einer Fassade.
Wir sind uns in den meisten Fragen einig, scheint mir.
Ich kann natürlich auch radikaler werden. Du hattest mich vorhin gefragt, wo mir „Alte Weiße Männer“ im Alltag begegnen. Zum Beispiel dieses Marketing, dass alle pinken Produkte für Frauen grundsätzlich teurer sind. Das sind Resultate von Entscheidungen von „Alten Weißen Männern“. Gleiches gilt bei Hygieneartikeln für Frauen. Dass Binden und Tampons überhaupt Geld kosten, ist eine Frechheit! Wer hat sich das ausgedacht? Ein „Alter Weißer Mann“!
Der Kapitalismus ist also auch ein „Alter Weißer Mann“.
Könnte man sagen. Die zweite Alltagserfahrung, die ich mache, ist, dass das Denken des „Alten Weißen Mannes“ mir in den Köpfen von Gleichaltrigen begegnet.
Wenn der „Alte Weiße Mann“ keine Metapher für ein bestimmtes Denken wäre, sondern eine reale Gruppe von Personen beschriebe, würde sich das Alte-Weiße-Männer-Problem von selbst lösen. Wenn aber aus einer Achtzehnjährigen der „Alte Weiße Mann“ sprechen kann, dann besteht wenig Hoffnung, dass wir ihn loswerden?
Das ist das Problem. Dadurch, dass ich in meiner Bubble bin, wo ich denke, jeder hat eine ähnliche politische Meinung wie ich, oder zumindest eine, die nicht problematisch ist, bin ich manchmal wirklich schockiert, wenn Leute abstruse Sachen sagen. Junge Männer in meinem Alter, die sich vom Feminismus angegriffen fühlen. Das begegnet mir sehr oft.
Das könnte damit zu tun haben, dass junge Männer diesbezüglich empfindlicher sind, weil sie sich nicht so stabil fühlen, unsicher sind, was es heißt, ein Mann zu sein, und deswegen leichter aus dem Konzept zu bringen sind? Ihnen flößt das möglicherweise Angst ein: Die Frauen sagen laut und deutlich, wir wollen unsere Rechte haben, dasselbe Geld verdienen.
Ja, das kann natürlich mit reinspielen. Aber ich sehe da schon Kandidaten, wo ich weiß, bei ihnen wird sich das nicht ändern, sondern es wird eher schlimmer werden. Also bei vielen jungen Männern denke ich mir, jetzt müsste eigentlich richtig educatet werden, sonst ist es zu spät. Je älter du wirst, desto mehr verfestigen sich deine Ideale, deine Ideen und dein Weltbild, und desto weniger offen wirst du für neue Sachen. In der Pubertät ist das was anderes, aber mit 18 ist das keine Entschuldigung mehr. Ich glaube aber auch, das hat ein bisschen damit zu tun, dass sie das Gefühl haben, sie müssten sich rechtfertigen und verteidigen: Ich als junger Mann muss mich jetzt rechtfertigen für die Leute meines Geschlechts, die schlimme Sachen machen. Dann heißt es: „Alle Männer? Aber ich doch nicht.“ Das Problem ist, dass sie jede Kritik an männlichem Verhalten auf sich selbst beziehen.
Das ist schon verständlich, wenn sie sich verunsichert fühlen. Man könnte ja sagen, das ist der erste Schritt zur Selbsthinterfragung. Was anderes ist, wenn man sich auf einer ideologischen Ebene gegen Feminismus positioniert.
Das stimmt, aber oft wird Feminismus als Kampfbegriff und Feindbild benutzt. Dann heißt es, Feministinnen sind einfach Männerhasser. Weiter verbreitet ist aber die Haltung: „Ja, es gibt zwar ein Problem mit Männern, aber das ist weit weg, es interessiert mich nicht, weil ich ja nicht so bin, und ich will nichts davon hören, es wird zu viel darüber geredet, und ich habe keine Lust mehr darauf, Männer haben genauso Probleme und werden genauso benachteiligt.“ Manchmal finde ich es schwer, zu differenzieren zwischen antifeministischen Kommentaren und Vorwürfen von Männern an die Gesellschaft, die ernst zu nehmen sind. Was wir etwa oft diskutiert haben, wie Körperbilder von Social Media beeinflusst werden, welche Ansprüche von der Gesellschaft formuliert werden, wie eine Frau auszusehen hat. Oft argumentierten Männer, sie müssten doch genauso einem Idealbild entsprechen.
Das ist erst mal nicht falsch.
Ja. Ich denke oft, sie haben an dieser Stelle recht, aber insgesamt ist der Druck auf Frauen doch viel höher, dem Idealbild entsprechen zu müssen.
Das stimmt vermutlich. Aber Männer stellen womöglich fest, dass sie selbst unter den Anforderungen des patriarchalischen Männerbilds leiden. Wenn sie dem traditionellen Bild nicht entsprechen können oder wollen, haben sie ein ähnliches Problem wie Frauen. Allerdings fällt es Männern leichter, sich von diesen Bildern zu distanzieren. Denn wenn sie das tun, zeigen sie, wie individuell, kreativ und entscheidungsstark sie sind – was ebenfalls als besonders männlich gilt.
Ja, aber wenn man Männern erklärt, dass es für Frauen doch ein größeres Problem ist, dann kriegt man oft die abstruse Antwort: „Wieso, der Feminismus ist doch für Gleichberechtigung? Dann hat so ein Vergleich doch gar keinen Sinn!“
Magst du eine Prognose wagen? Wird der gesellschaftliche Fortschritt weitergehen oder besteht die Gefahr, dass es einen reaktionären Rückfall gibt?
Es kann sich in beide Richtungen entwickeln, aber es wird vermutlich nicht das eine oder das andere eintreten. Es ist eine wellenförmige Dynamik, die auch von äußeren Einflüssen abhängig ist, etwa von Kriegen oder dem Klimawandel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr