EU-Migrationspolitik: Die Wiederkehr der Zurückweisung
Die aktuelle Migrationsdebatte in Deutschland wärmt alte Ideen auf. So lässt sie innereuropäische Konflikte wieder aufleben.
Es gebe „keine Rechtsprechung, die dagegen spricht“, behauptete etwa der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei (CDU). Es müsse die „grundlegende Frage“ geklärt werden, „ob sich die Bundesregierung durchringen kann, diesen Beitrag zu einer drastischen Reduktion der Migration nach Deutschland zu schaffen“, sagte Frei. Die CSU-Innenpolitikerin Andrea Lindholz sagte im ZDF, sie habe eine „große Offenheit“, was das Thema Grenzkontrollen und Zurückweisung angeht, bei dem Gespräch verspürt.
Pro Asyl hingegen hatte die direkte Zurückweisung von Migranten an der deutschen Grenze am Dienstag als europarechtswidrig eingestuft. Im September 2023 hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Zurückweisungen an den EU-Binnengrenzen „regelmäßig rechtswidrig“ sind. Das Urteil folgte auf eine Klage von Vereinigungen aus Frankreich, unter anderem von Asylrechts-Anwält:innen.
Sie wandten sich gegen eine französische Verordnung aus dem Jahr 2020. Die sah vor, dass französische Behörden Angehörigen von Drittstaaten die Einreise an Grenzen zu anderen EU-Mitgliedsstaaten verweigern können. Der EuGH urteilte damals, dass eine Abschiebungsandrohung mit Frist zur freiwilligen Ausreise einhergehen muss. Die Person dürfe also an der Grenze nicht direkt ins Nachbarland zurückgeschickt werden. Das gelte selbst dann, wenn die Person eine Gefahr darstellt – in dem Fall könne die Person jedoch inhaftiert werden.
Geschlossene Grenzen und Lager
Die Idee, Binnengrenzkontrollen innerhalb der EU wieder einzuführen und irreguläre Migrant:innen zurückzuweisen, ist nicht neu. Bereits 2016 hatten Frankreich die Grenze zu Italien für Flüchtlinge geschlossen, Flüchtlinge, die über den Küstenort Ventimiglia einreisen wollten, wurden nicht durchgelassen. Weil viele in der Folge versuchten, über die Schweiz nach Frankreich und Großbritannien zu gelangen, ging diese bald darauf ebenso dazu über, die Flüchtlinge abzuweisen.
Ungarn hatte ab 2016 auf eine etwa andere Variante gesetzt: Es internierte aus Richtung Serbien ankommende Menschen in Lagern, die „rückwärts“ offen waren: Wer wieder nach Serbien ausreiste, kam frei, alle anderen blieben in Haft. Straßburg hatte diese Praxis allerdings 2017 und 2020 für rechtswidrig erklärt.
Bei „vorgelagerten Grenzkontrollen“ hinderten deutsche Beamte der Bundespolizeiinspektion Freilassing schon am Bahnhof in Salzburg – also auf österreichischem Territorium – Migrant:innen daran, Züge nach Deutschland zu besteigen. Möglich machte dies ein Staatsvertrag aus dem Jahr 2003.
Ab Anfang des Jahres 2016 machte Deutschland vorübergehend Gebrauch davon, das Modell war beschränkt auf den Salzburger Bahnhof. Wer in Deutschland einen Asylantrag stellen könnte, durfte nicht in den Zug und bekam direkt in Salzburg eine „Einreiseverweigerung mit Belehrung“.
Seehofers Transitzentren
Der damalige CSU-Innenminister Horst Seehofer wollte ab 2018 irreguläre Migration durch noch umfassendere Zurückweisung an den deutschen Grenzen eindämmen. Alle, die bereits in einem anderen EU-Staat einen Asylantrag gestellt hatten, sollten nicht einreisen dürfen, sondern bis zur Abschiebung und ohne Asylverfahren in sogenannten Transitzentren festgehalten werden. Seehofer schloss dazu bilaterale Abkommen mit Griechenland und Spanien ab.
Die Vereinbarungen griffen nur bei Asylbewerber:innen, die bei Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze aufgegriffen wurden. Für Migrant:innen, die über Griechenland und Spanien in die EU eingereist waren, führte die Route gen Norden aber nur ganz selten durch Österreich. Die Bundespolizei schob deshalb auf Grundlage dieser beiden Abkommen auch seinerzeit nur eine sehr geringe Zahl von Menschen in diese beiden Staaten ab.
Das Haupteinreiseland Italien weigerte sich indes, eine entsprechende Vereinbarung zu unterzeichnen. Deutschland wiederum pochte vor allem deshalb darauf, in dieser Frage weiter Druck zu machen, weil es die damals laufenden Verhandlungen für das Gemeinsame Europäische Asylsystem nicht weiter erschweren wollte.
Insgesamt ist das Thema der Einreiseverweigerung heikel und dürfte auf EU-Ebene zu Verstimmungen führen. Italien etwa ist seit Langem der Auffassung, dass Deutschland und andere Länder ihm zu wenige Flüchtlinge abnehmen. Sie weigern sich seit Jahren, Personen zurückzunehmen, die es auf Grundlage der Dublin-Regelung nehmen müsste. Zurückweisungen an Grenzen dürften eine Kettenreaktion auslösen, die das politische Klima in der Migrationsfrage noch weiter aufheizt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Lateinamerika und Syrien
Assads Freunde
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse