Drohendes Aus für UNRWA-Hilfswerk: Vereinte Hilfeleistung
Dem Palästinenser-Flüchtlingswerk UNRWA droht das Ende der Hilfszahlungen. Für die Menschen in den Flüchtlingscamps ist das eine humanitäre Katastrophe.
E s sieht nicht so aus, aber all das gehört zu Jerusalem“, sagt Ramsi und deutet von seinem Computerladen die Häuserschlucht in Shu’afat hinauf. Oben, am Ende der Straße, ist die acht Meter hohe israelische Sperrmauer zu sehen, die das palästinensische Flüchtlingslager vom Rest der Stadt trennt. „Drüben kümmert sich die Stadt um alles, auf unserer Seite vor allem die UNRWA“, sagt der 46-Jährige mit dem graumelierten Vollbart. Das Palästinenser-Hilfswerk der Vereinten Nationen betreibe hier die Grundschule und das Gesundheitszentrum, „in dem meine Mutter ihre Blutdruckmedikamente bekommt“, sagt Ramsi. „Die UNO organisiert hier sogar die Müllabfuhr.“
Die Arbeit der UNRWA ist akut bedroht, seit die israelische Regierung Ende Januar mehreren Hilfswerk-Mitarbeitern in Gaza eine Beteiligung an den Massakern der Hamas am 7. Oktober vorgeworfen hat. 18 Geberländer haben ihre Zahlungen eingestellt, darunter die USA, Deutschland und die EU. Rund 450 Millionen Dollar wurden eingefroren.
Hupend schieben sich die Autos an Ramsis Laden vorbei die Hauptstraße des Lagers hinunter. Es wurde 1965 ursprünglich für rund 500 Familien errichtet. Heute sind auf einer Fläche von weniger als einem Quadratkilometer mehr als 16.000 Menschen bei UNRWA registriert. Die tatsächliche Zahl der Bewohner könnte mehr als doppelt so hoch liegen. Begrenzt von israelischen Siedlungen im Norden und Süden gleicht das Camp einem Dschungel von Hochhäusern mit 15 Stockwerken und mehr, oft ohne Planung und Kontrolle errichtet. Viele der Gassen sind nur wenige Meter breit.
Die Palästinensische Autonomiebehörde kommt nicht hierher, weil Shu’afat offiziell auf dem 1967 von Israel besetzten Gebiet von Ostjerusalem liegt. Die Stadtverwaltung stellt lediglich einen Bruchteil der städtischen Dienstleistungen für die Exklave, weil sie außerhalb der israelischen Sperranlage liegt und nur durch einen schwer befestigten Checkpoint zu erreichen ist. „Wenn sie den UN-Leuten jetzt die Arbeit hier verbieten wollen, dann müssen sie einen Ersatz schaffen“, sagt der Verkäufer Ramsi.
Bisher ist unklar, wie sehr die UN-Organisation tatsächlich mit der Hamas verstrickt ist. Israel wirft mittlerweile mehr als 30 UNRWA-Angestellten vor, an dem Überfall am 7. Oktober beteiligt gewesen zu sein. Unter anderem sollen zwei bei der Entführung von Israelis geholfen haben, zwei weitere hätten sich an Orten befunden, an denen Massaker verübt wurden. Zudem sollen rund 10 Prozent der etwa 13.000 Beschäftigten in Gaza „Verbindungen“ zur Hamas gehabt haben, davon mehr als 200 zu bewaffneten Gruppen. UNRWA hatte die Verträge mit zehn der beschuldigten Mitarbeiter kurz nach Veröffentlichung der Vorwürfe beendet. Die UN haben eine Untersuchung eingeleitet. Das Hilfswerk weist den Vorwurf der Terrorunterstützung zurück.
Einem Bericht des Wall Street Journal zufolge stuft ein US-Geheimdienstpapier die Beteiligung einiger Mitarbeiter an dem Überfall am 7. Oktober als glaubhaft ein. Die Zusammenarbeit einer größeren Zahl von Beschäftigten mit der Hamas sei hingegen nicht verifizierbar, auch weil Israel die zugrunde liegenden Informationen nicht geteilt habe. Das Papier weise laut einer mit dem Bericht vertrauten Quelle zudem darauf hin, dass es aufgrund einer Voreingenommenheit israelischer Sicherheitsbehörden Verzerrungen in der Darstellung der Ereignisse gebe.
UNRWA-Generalsekretär Philippe Lazzarini spricht von einer Kampagne gegen seine Organisation. Das Hilfswerk, das über Gaza und das Westjordanland hinaus auch in Syrien, im Libanon und in Jordanien rund 6 Millionen palästinensische Flüchtlinge versorgt, könne bereits im April aus Geldnot gezwungen sein, die Arbeit einzustellen.
Fünf Kilometer südlich von Shu’afat schaltet Boaz Bismuth von der israelischen Regierungspartei Likud in seinem Parlamentsbüro in der Knesset den Fernseher stumm. Auf dem Bildschirm rennen israelische Soldaten zwischen Ruinen im Gazastreifen von Deckung zu Deckung. „Dass Dutzende Hamas-Leute für die UNRWA arbeiten, sollte schon für eine Auflösung reichen“, sagt Bismuth. „Stattdessen haben unsere Soldaten unter dem UNRWA-Hauptquartier auch noch Tunnelsysteme gefunden.“
UNRWA-Chef Lazzarini sagte in einem Interview mit der israelischen Zeitung Ha’arez vergangene Woche, seine Organisation habe von den Tunneln in 20 Metern Tiefe nichts gewusst. Verdächtige Aktivitäten hat UNRWA in den vergangenen Jahren tatsächlich mehrfach an Israel gemeldet.
Bismuth glaubt Lazzarini aber nicht: Sein Gesetzentwurf zum Verbot von UNRWA in Jerusalem hat eine erste vorläufige Lesung im Parlament passiert und liegt nun beim Komitee für Auswärtiges und Verteidigung.
Daniel Seidemann, NGO-Anwalt
Der rechts-nationalistische Politiker war in der Vergangenheit israelischer Botschafter und Chefredakteur der auflagenstärksten Zeitung des Landes, der Likud-nahen Zeitung Israel Hayom. Er weiß, seine Botschaften zu verpacken: „Ich glaube an Frieden, aber wie soll das gehen, wenn ein palästinensisches Kind in einer UNRWA-Schule lernt, dass Terroristen Helden sind?“ Israel solle selbst die Aufgabenbereiche Bildung und Gesundheit in Orten wie Shu’afat übernehmen. Das würde aber auch eine Stärkung der israelischen Souveränität über den 1967 besetzten und 1980 annektierten Ostteil der Stadt bedeuten, der zugleich als die künftige Hauptstadt eines palästinensischen Staates gilt, wenn es denn im Zuge einer Nachkriegsordnung dazu kommen sollte.
Das Hilfswerk steht bereits seit Jahren in der Kritik. Vor allem UNRWA-Schulen wurde wiederholt vorgeworfen, in Büchern und durch Lehrpersonal antiisraelische und antisemitische Inhalte zu verbreiten. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Untersuchung des Georg-Eckert-Instituts für Schulbuchforschung im Jahr 2021, wenngleich die Forscher betonten, dass die Bücher nicht unabhängig von der Realität der israelischen Besatzung betrachtet werden könnten. Allerdings ist das Hilfswerk ohnehin nicht dazu befugt, eigene Schulbücher zu verfassen. Es verwende „die Lehrpläne und -bücher der Gastländer und ermöglicht so, dass die Abschlüsse dort anerkannt werden“, schreibt die Nahostexpertin Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung.
Würde UNRWA abgeschafft, würde das aber auch einen Verlust internationaler Kontrolle bedeuteten. Ob das zu einer positiveren Einstellung gegenüber Israel in Schulen beitragen würde, ist zumindest fraglich. Ein Beispiel aus Jordanien lässt eher das Gegenteil annehmen: Dort soll der 7. Oktober bald Einzug in die staatlichen Schulbücher der 10. Klasse finden. Zu lesen ist dort, Israel „unterdrücke“ das palästinensische Volk, was die „palästinensische Widerstandsbewegung im Gazastreifen“ veranlasst habe, „am 7. Oktober die israelischen Siedlungen um den Streifen zu stürmen und israelische Siedler sowie Soldaten gefangen zu nehmen“. Das wiederum habe „eine gewalttätige Antwort vom israelischen Feind“ ausgelöst.
Andere Botschaften spricht Bismuth offen aus. Etwa, dass in seinen Augen mit UNRWA auch das Problem der rund 6 Millionen registrierten palästinensischen Flüchtlinge verschwinde: „Sie geben den Status an ihre Kinder weiter. UNRWA will das Flüchtlingsproblem erhalten und damit den Kampf um die palästinensische Unabhängigkeit“, sagt er.
Tatsächlich wird auch bei Geflüchteten aus anderen Staaten der Flüchtlingsstatus innerhalb von Familien weitergegeben, bis eine dauerhafte Lösung gefunden ist. Allerdings: Palästinenser*innen können den UNRWA-Flüchtlingsstatus in dessen Mandatsgebiet auch dann weiter behalten, wenn sie eine andere Staatsbürgerschaft erhalten haben.
Joost Hiltermann, Nahost-Programmdirektor beim Thinktank International Crisis Group, bestätigt: Die Weitergabe des Flüchtlingsstatus sei vielmehr durch internationales Recht sowie die Resolutionen der UN-Generalversammlung bestimmt, die allen 1948 vertriebenen Palästinensern und deren Nachkommen den Flüchtlingsstatus zusichern. Mit anderen Worten: Auch ohne die UNWRA geben staatenlose Palästinenser*innen ihren Flüchtlingsstatus an die nachfolgende Generation weiter.
„Das ist eine bewährte Strategie der politischen Rechten in Israel“, sagt Daniel Seidemann, der für die Nichtregierungsorganisation Terrestrial Jerusalem den israelischen Siedlungsbau beobachtet. „Sie nennen das Westjordanland nach den biblischen Namen Judäa und Samaria und behaupten dann, dass es nicht besetzt sein kann. Sie löschen die Vertreibung der Palästinenser*innen 1948 aus den Schulbüchern und sagen dann, dass sie so nie passiert sei.“ Ähnlich sieht Seidemann auch die These, dass ein Verbot der UNRWA die palästinensische Flüchtlingsfrage lösen würde.
Der Anwalt, der in der Vergangenheit mehrere US-Regierungen seit Präsident Bill Clinton zu Friedensgesprächen beraten hat, schätzt, dass ein Verbot von UNRWA in Jerusalem eine gefährliche Versorgungslücke reißen würde. „Israelische Gerichte haben mehrfach bestätigt, dass die Stadt bereits innerhalb des arabischen Ostjerusalems nicht genügend Schulen baut.“ Insgesamt sind rund 200.000 Palästinenser in der Stadt als Flüchtlinge mit Anspruch auf UNRWA-Leistungen registriert, die Organisation betreibt nach eigenen Angaben zehn Schulen und vier Gesundheitszentren. In Exklaven wie Shu’afat und Kufr Akab hat die Stadt zwar in den vergangenen Jahren mehr investiert, dennoch würden dort ohne UNRWA noch immer kaum öffentlichen Dienstleistungen existieren, sagt Seidemann. „Und niemand, auch nicht Israel, wäre in der Lage, sie in absehbarer Zeit zu ersetzen.“
Das hält den Jerusalemer Vizebürgermeister Arye King nicht davon ab, regelmäßig zu Protesten vor UNRWA-Einrichtungen aufzurufen. Anfang Februar versammelten sich vor dem Hauptquartier des Hilfswerks rund 50 Teilnehmer unter dem Aufruf „Den Feind aus der Stadt entfernen“. Auf ihren Schildern war zu lesen: „UNRWA = Hamas“. Von der Bühne rief King an die Adresse des israelischen Ministers für Nationale Sicherheit: „Ben Gvir mein Freund, komm und mach die UNRWA zu.“
Auch wenn die Teilnehmerzahlen bei den Anti-UNRWA-Demos seither nicht maßgeblich zugenommen haben, die Forderungen genießen in weiten Teilen der jüdisch-israelischen Bevölkerung Unterstützung. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu präsentierte vergangene Woche seinen Plan für den Gazastreifen nach dem Krieg. Einer von fünf Punkten: die Auflösung der UNRWA.
Lange lehnte das UNRWA-Büro in Jerusalem Presseanfragen ab. Erst gut drei Wochen nach Veröffentlichung der Vorwürfe lud Westjordanland-Direktor Adam Bouloukos vergangenen Dienstag zu einem Besuch im Aida-Flüchtlingslager in Bethlehem ein. Vom Dach des UNRWA-Gesundheitszentrums fällt der Blick auf die mit Graffiti übersäte Sperranlage zu Israel. „We can’t live“, ist dort zu lesen. In den Stockwerken darunter sitzen Dutzende Eltern mit Kindern und warten auf Arzttermine. „Wir sind in einer verzweifelten Lage“, sagt Bouloukos. Das Hilfswerk habe bereits zuvor regelmäßig kurz vor dem Zahlungsausfall gestanden. Nun sei rund die Hälfte der Gelder weggebrochen.
Anfeindungen gegen seine Mitarbeiter hätten massiv zugenommen. Zwei Kollegen seien an einem Checkpoint von Soldaten aus ihren Autos gezogen, gefesselt und geschlagen worden. „Einer hat ihnen vorgeworfen, für die Hamas zu arbeiten“, sagt Bouloukos. Auf die Vorwürfe will er unter Verweis auf die laufenden Untersuchungen der UNO nicht eingehen. „Aber ich habe in 29 Jahren bei der UNO keinen Einsatzort erlebt, an dem mehr auf Neutralität geachtet wird als hier.“
Andere UN-Organe könnten die Arbeit nicht einfach übernehmen. „Die WHO unterhält keine Gesundheitszentren, die UNICEF betreibt keine Schulen“, sagt Bouloukos. Drastisch seien die Folgen zudem für die humanitäre Hilfe im Gazastreifen. Bereits jetzt würden wegen der großen Not viele Konvois kurz nach Grenzübertritt geplündert. Das wenige, was noch an Verteilung stattfinde, laufe größtenteils über UNRWA, sagt Bouloukos. Und schließlich würden die Kürzungen auch die Arbeit in Syrien oder im Libanon gefährden. „Wenn ich den Krankenpflegern in Bethlehem ihr Gehalt nicht mehr zahlen kann, dann bedeutet das, dass mein Gegenüber in Jordanien dasselbe Problem hat.“
Auf der anderen Seite des Jordans, etwa 70 Kilometer von Bethlehem entfernt, liegt in der jordanischen Hauptstadt Amman das Wihdat Camp. Es ist Mittagszeit und die Kinder strömen aus den Schulen in die engen Gassen des Flüchtlingslagers. Sie kichern und lachen, laufen um die Wette. Einige Jungs spielen noch Fußball auf dem eingezäunten Schulhof zwischen den abgekratzten, vollgeschmierten Gebäuden, die in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter in den Himmel gewachsen sind.
Das Wihdat Camp ist das zweitärmste palästinensische Flüchtlingslager Jordaniens. Hier leben mindestens 61.800 palästinensische Geflüchtete auf weniger als einem halben Quadratkilometer Fläche, von ihnen mehr als ein Drittel unter der Armutsgrenze. Knapp 25 Prozent der Frauen und 15 Prozent der Männer im Camp sind nach Angaben des Hilfswerks arbeitslos.
Sieben Schulen werden hier von UNRWA betrieben, genauso wie das örtliche Gesundheitszentrum: Im hellblauen Gebäude hängt ein Geruch von Desinfektionsmittel in der Luft. Eine Frau in schwarzem Kopftuch und Mantel kommt auf die Journalisten zu, in einer Hand ihren Ausweis, in der anderen mehrere Rezepte. „Ich komme aus Gaza und bin hier gestrandet“, erzählt sie, sichtlich aufgeregt. „Seit sieben Monaten, ich wollte hier nur meine kranke Mutter besuchen. Ich selbst bin chronisch krank, habe aber kein Geld für Medikamente. Mein Mann und meine Kinder sind in einem Zelt in Rafah. Allah sei dank konnte ich hier Hilfe bekommen“, sagt sie.
Shaima Sallam
Von den zehn UNRWA-Flüchtlingscamps in Jordanien hat Wihdat die höchste Anzahl an chronisch erkrankten Menschen. Die meisten Geflüchteten hier, so wie auch die meisten palästinensischen Geflüchteten in Jordanien, besitzen die jordanische Staatsbürgerschaft. Das hat historische Gründe: Das Westjordanland wurde 1950 von Jordanien annektiert und die dort lebenden Palästinenser wenige Jahre später eingebürgert. Nach dem Sechstagekrieg 1967 eroberte dann Israel das Gebiet.
Gut die Hälfte der Wihdat-Bewohner hat jedoch keine Krankenversicherung. Das Gesundheitszentrum wird von etwa 43.000 Menschen genutzt, im Schnitt 75 Patienten täglich, erklärt Khalil Abu Naqira, Seuchenschutzbeauftragter. Magen-Darm-Erkrankungen und Atemwegsinfekte, aber auch Bluthochdruck und Diabetes seien häufige Besuchsgründe.
Das Hilfswerk übernimmt teilweise die Kosten für Krankenhausbesuche in jordanischen Kliniken und führt selbst jährlich im ganzen Land 1,6 Millionen medizinische Beratungen durch. In Jordanien unterhält UNRWA 25 Gesundheitszentren und 161 Schulen. Die UN-Agentur ist mit 7.000 Mitarbeitenden nach eigenen Angaben einer der größten Arbeitgeber im Königreich.
Berufsausbildungen gehören ebenso zu den Dienstleistungen. Auf dem Hof der Mädchenschule in Wihdat haben sich ein Dutzend Männer und Frauen versammelt. So wie Salam Qandil, hellblaues Kopftuch und selbstbewusstes Auftreten. Sie erzählt, ihre Schwester habe eine Hörschädigung, ihr Vater sei gestorben und es sei an ihr gewesen, die Familie zu ernähren. Inzwischen hat Salam eine abgeschlossene Ausbildung als Kosmetikerin und einen eigenen Salon.
Oder die 40-jährige Iman, blumiges Kopftuch, wortgewandt. Sie ist im Camp aufgewachsen, unter „schwierigen Bedingungen“. Nach der Schule wollte sie studieren, Kunst am liebsten, das Geld habe aber nicht gereicht. Jetzt lehrt sie Arabisch an ihrer alten Grundschule. „Das verdanke ich UNRWA“, sagt sie. Das Dutzend Männer und Frauen sind nicht zufällig hier: Sie kennen die aktuelle Debatte um die UN-Agentur und wollen für ihr Weiterbestehen plädieren. Das Hilfswerk hat den Besuch organisiert. Denn laut Olaf Becker, UNRWA-Direktor in Jordanien, könnte das Einfrieren der Hilfsgelder hier bereits ab März die Dienstleistungen gefährden. Wo genau im Ernstfall gekürzt werden würde, ist noch unklar.
Etwa 2,4 Millionen registrierte palästinensische Geflüchtete leben in Jordanien. Das Land hat insgesamt 11,5 Millionen Einwohner und die zweithöchste Anzahl Geflüchteter pro Kopf weltweit. Syrer, Iraker, Jemeniten – aus jedem Krisenherd der Region suchen Menschen hier Zuflucht. Dabei hat das Königreich schon an sich mit Problemen zu kämpfen: einer Arbeitslosenquote von 22 Prozent, 46 Prozent sind es unter jungen Erwachsenen. Die Staatsverschuldung beträgt fast 46 Milliarden US-Dollar. König Abdullah II. sagte kürzlich, die Arbeit der Agentur sei lebenswichtig.
Laut Nahostexperte Hiltermann könnte Jordanien theoretisch in der Lage sein, palästinensische Geflüchtete zu versorgen. Allerdings: Würde UNRWA kollabieren, käme eine schwierige Aufgabe auf die jordanische Gesellschaft zu. Die größten Probleme sei indes politischer und demografischer Natur: Laut Schätzungen hat über die Hälfte der Jordanier palästinensische Wurzeln. Die Balance zwischen ihnen und den ursprünglichen Stämmen war schon immer heikel. Jordanien könnte den Kollaps von UNRWA und die vollständige Integration der Palästinenser in der Gesellschaft als „eine Bedrohung seines politischen Systems oder sogar als eine existenzielle Bedrohung ansehen“, glaubt Hiltermann.
Dies war in dem Königreich schon immer ein delikates Thema. Konservative israelische Politiker haben oft vorgeschlagen, Jordanien könne als alternative Heimat für Palästinenser dienen. Die meisten palästinensischen Geflüchteten sind inzwischen Jordanier, doch nicht alle. Vor allem die sogenannten Ex-Gazaner, die nach 1967 aus dem Gazastreifen geflohen sind, bleiben heute noch größtenteils staatenlos. Knapp 30.000 von ihnen leben im Jerash Camp.
Etwa 40 Kilometer nördlich von Amman gelegen, ist das Jerash Camp das ärmste unter den palästinensischen Flüchtlingslagern. Etwas mehr als die Hälfte seiner Bewohner lebt laut UNRWA unter der Armutsgrenze, 88 Prozent haben keine Krankenversicherung. Für sie ist einiges teurer als für jordanische Staatsbürger: Universitätsgebühren, medizinische Ausgaben, sogar die Ausstellung ihrer temporären Ausweise. Sie sind eingeschränkt in ihrer Berufswahl, beim Kauf von Grundstücken oder Autos. Aber vor allem: Sie sind Ausländer in dem einzigen Land, das sie kennen. Denn ihnen wird die jordanische Staatsangehörigkeit in der Regel heute noch verwehrt.
So wie Shaima Sallam. Als die taz Shaima vor anderthalb Jahren das erste Mal getroffen hat, hatte sie ein Mittagessen im Innenhof ihres Hauses im Jerash Camp vorbereitet. Kofta bil Tahini, Fleischbällchen mit Reis in Sesam-Sauce, eine in Jordanien sowie Palästina beliebte Speise.
Shaima hatte gerade ihr Englischstudium an einer jordanischen Universität abgeschlossen. Dass sie es geschafft hat, eine staatenlose Geflüchtete aus dem ärmsten palästinensischen Flüchtlingslager Jordaniens, ist nicht selbstverständlich. Ihr Vater, Bauer von Beruf, hat sich stets für die Ausbildung seiner Töchter starkgemacht, doch das allein hätte nicht gereicht. Ihr Studium hat Shaima auch dank der privaten Hilfe einer ihrer ehemaligen Lehrerinnen aus der UNRWA-Schule finanziert.
Shaimas Land gibt es offiziell nicht
Shaima ist ein Paradebeispiel für das gute Gelingen der Bildungsprogramme in den Flüchtlingscamps. Und doch betrachtet sie westliche NGOs und UNRWA kritisch. „Weil sie mich daran erinnern, dass wir Geflüchtete sind“, sagt die heute 25-Jährige. Sie mag es nicht, wenn Menschen sie fragen, welchem Land sie sich zugehörig fühle. Sie ist Palästinenserin, doch ihr Land gibt es offiziell nicht. Sie lebt in Jordanien, gilt aber nicht als Jordanierin.
Damals, vor eineinhalb Jahren, die Reporterin ist unterwegs mit Shaima Sallam im Camp: Im Schatten der Häuserwände, vor einem Gebäude aus bröckelnden Mauern und Wellblechdach, sitzt eine ältere Frau auf einem Holzstuhl, ihr Gesicht von einem schwarzen Schleier umrandet, einen knorrigen Holzstock in der Hand. „Ist sie von UNRWA?“, fragt sie Shaima, die sie begleitende Journalistin meinend. Als Shaima verneint, sagt sie: „Ich muss das Dach von meinem Haus renovieren lassen.“ Sie habe gehört, man bekomme dafür Hilfe. Das Haus ist zugleich ein Gemüseladen, hinter der eingerosteten Tür, vor den Wänden, in die sich die Feuchtigkeit eingefressen hat, stapeln sich Zucchini, Blumenkohl und Zwiebeln. Die ältere Frau beschwert sich, das Geschäft laufe nicht so gut.
Einige Dutzend Meter weiter, am Rande des Camps, liegen auf einem Abhang unzählige Plastiktüten, leere Flaschen, verrottende Trainingsschuhe, eine verwesende Katze. Ein Gestank von Abfall und Tod schwebt über der Müllhalde. Shaima wandert durch diese Ruinen mit leichtem Schritt, schaut vorsichtig auf die Stelle, auf der sie ihren Mokassin absetzt, zieht den Rock ihres langen Kleids ein paar Zentimeter hoch.
Im Camp kümmert sich UNRWA um die Müllabfuhr, doch hier, in diesem Grenzgebiet, fühlt sich offenbar niemand dafür zuständig. Eineinhalb Jahre später, im Nachhinein, wirken diese erinnerten Szenen wie ein Vorgeschmack auf das, was passieren könnte, würde die UN-Agentur von heute auf morgen ihre Arbeit einstellen.
Sicher ist, dass derzeit Hunderttausende Menschen in der Region von UNRWA abhängen. Für staatenlose Gazaner ist das Hilfswerk ein potenzieller Arbeitgeber und Leistungserbringer. Auch Shaima sagt: „Schon jetzt haben manche Menschen im Camp im Winter Schwierigkeiten, genug Essen zu finden. Einige bekommen Geld von UNRWA. Sollte die Finanzierung stoppen, könnte es einen Aufstand geben.“ In den staubigen Gassen des Jerash Camps fasst eine Frau es so zusammen: „Wenn UNRWA endet, sind wir verloren.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“