Direktmandat in Berlin-Kreuzberg: Grüne sind sich nicht grün
Der Grünen-Realo Ratzmann fürchtet um den Wiedereinzug Künasts in den Bundestag. Er erklärt Konkurrentin Bayram kurzerhand für „nicht wählbar“.
Christian Ströbele, inzwischen 78, der das Mandat vier Mal gewann, hatte auf eine erneute Kandidatur verzichtet. Die Reaktionen im Berliner Landesverband reichen von Unverständnis im Realo-Lager bis hin zu offener Wut bei den Parteilinken.
Bayram selbst zeigte sich gegenüber der taz überrascht – „ich kenne die Mail nicht“. Ihr bisheriges Verhältnis zu Ratzmann beschrieb sie so: „netter Umgang miteinander“. Das überrascht: Denn Bayram gehörte zu jenen vier links-grünen Landesparlamentariern, die 2011 Ratzmanns erneute Wahl zum Fraktionschef nicht akzeptierten, weil sie den linken Parteiflügel nicht vertreten sahen und mit Auszug aus der Fraktion drohten.
Unter ihnen war auch der heutige Berliner Justizsenator Dirk Behrendt. Diese Aktion mündete in Ratzmanns Rücktritt und Abschied von der Berliner Landespolitik. Wenige Monate später wurde er bundespolitischer Koordinator in der baden-württembergischen Landesvertretung in Berlin und 2016 Staatssekretär und deren Leiter.
Ratzmann-Verteidiger verweisen darauf, dass er sein „nicht wählbar“ nicht öffentlich verkündete, sondern sich nur in einem Diskussionsforum der Realos im Internet so äußerte. Zudem sei Ratzmann offenbar verärgert über Bayrams Äußerungen beim Bundesparteitag im Juni gewesen, wo sie dem Tübinger Oberbürgermeister und Ultra-Realo Boris Palmer riet, „die Fresse zu halten“.
„Das war aus einem internen Verteiler“
Allerdings müsste ein langjähriger Politprofi und Jurist wie Ratzmann wissen, dass eigene Worte auch in geschlossenen Netz-Foren nur ein, zwei Klicks von der Öffentlichkeit entfernt sind. Außerdem datiert sein „nicht wählbar“ vom August, ist also keine Spontan-Reaktion auf Bayrams Parteitagsauftritt. Erst vor wenigen Tagen hatte sich die Grünen-Bundesspitze von einem Wahlplakat von Bayrams Kreuzberger Kreisverband distanziert.
Ratzmann sagte der taz, er kommentiere die Sache nicht öffentlich – „das war aus einem internen Verteiler“. In dem Mail-Zirkel begründet er seine Haltung damit, statt Bayram weiter Renate Künast im Parlament sehen zu wollen, die frühere Bundeslandwirtschaftsministerin.
Die Sorge, dass Künast dieses Mal außen vor bleibt, hat mit der Besonderheit des deutschen Wahlrechts zu tun, das Mehrheits- und Verhältniswahl mischt. Nach jüngsten Umfrageergebnissen würden die Grünen in Berlin bei der Bundestagswahl nämlich nur noch 10 Prozent bekommen, fast zweieinhalb Prozentpunkte weniger als 2013. Das würde zwar noch drei Berliner Grüne ins Parlament bringen. Aber bevor die Landesliste greift, auf der Künast auf Platz 3 steht, kommt ins Parlament, wer direkt einen Wahlkreis gewinnt. Das war bei den Grünen seit 2002 Ströbele, zuletzt 2013 mit fast 22 Prozentpunkten Vorsprung, und es könnte nun Bayram sein. Für Künast wäre dann kein Platz, wenn die Grünen nicht noch hinzugewinnen.
Nur eine Einzelmeinung in der Partei?
Gerade wegen der aktuell schwachen Umfragewerte mag der Landesvorsitzende Werner Graf vom linken Parteiflügel Ratzmanns Äußerung umso weniger verstehen – in so einer Lage müsse man um ein besseres Parteiergebnis kämpfen, auch wenn die Nerven blank lägen. Wobei Graf natürlich versichern muss, er sei „sehr zuversichtlich, dass wir das mit den vier Mandaten hinbekommen“.
Seine Kovorsitzende Nina Stahr vom Realo-Flügel sieht in Ratzmanns Worten nur eine Einzelmeinung in der Partei. Das allerdings passt nicht zu einer am Dienstag von der Bild-Zeitung verbreiteten Meldung, wonach auch der Ex-DDR-Bürgerrechtler und frühere Bundestagsabgeordnete Gerd Poppe Bayram ablehnt, weil sie Verständnis für die Gewalttaten von Linksextremen habe. Und in Ratzmanns Diskussionsforum soll seine Nicht-wählbar-Haltung durchaus Zustimmung gefunden haben.
Antje Kapek, Ratzmanns Nachfolgerin in der grünen Fraktionsspitze im Berliner Landesparlament, deutete gegenüber der taz an, dass der Boykottaufruf für Ratzmann parteirechtliche Folgen bis hin zum Ausschluss haben könnte. „Eigentlich müsste man als erfahrener Jurist wissen, dass so was nicht in Ordnung ist.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles