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Die WahrheitOmas unteilbare Kirsche

Geistige Gesundheit ist ein hohes Gut. Prächtig pflegen lässt sie sich bei einem vom Weintrinken geprägten Besuch an der Obermosel.

N eulich habe ich ein paar Tage damit verbracht, an der Obermosel den Weintrauben beim Wachsen zuzusehen. Wie ich von unserem „Weinbotschafter“ erfuhr, beim Reifen! Daher weiß ich auch, dass sich Trauben sogar einen Sonnenbrand holen können.

Ich weilte im Moseldorf Nittel, eine Region mit eigener Sprache, dem Moselfränkisch, in seiner Unverständlichkeit wohl am ehesten dem Finnischen verwandt. Die Menschen dieser Region gehören nur scheinbar zu Deutschland. Sie sind in Wirklichkeit die wahren Europäer in ihrer Durchmischung mit Luxemburgern, dem ein oder anderen verirrten Belgier, den Niederländern, die man sprachlich oft fälschlich für Moselfranken hält, und den wenigen deutschen Muttersprachlern wie uns nördlich der Porta Westfalica Geborenen. Gegenüber uns Gästen bemühte man sich um Hochdeutsch und saubere Artikulation, was manchmal gelang.

Wir entdeckten Elbling und Auxerrois und Rebstöcke auf Muschelkalk. Das alles galt jahrelang nichts. War der Elbling früher nur Sektgrundlage, wird er nun zur Attraktion. Langsam setzt sich Qualität durch vor Quantität, und das alles geht einher mit sehr klugen Wortfindungen. Was früher „halbtrocken“ war, fast süß also, ist jetzt das neue „feinherb“. Eine ehemals zusammengeschüttete Cuvée, früher auch „Verschnitt“ genannt, ist nun eine „Marriage“, eine Vermählung.

Ich lernte die zehn „Reberziehungsarten“ und dass die Trauben in Zeiten des Klimawandels nun zehn bis zwölf Tage mehr Sonne haben, sich also zu hochprozentigeren Sorten wandeln. In nicht allzu ferner Zukunft kann man statt Wein den Obstbrand quasi ab Rebe abfüllen.

Beim Obstbrand verlor meine Begleiterin übrigens eine ihrer ehernen Ernährungsregeln aus dem Auge. Sie ist eine manische „Teilerin“, was für mich als Ostwestfalen eher grausam ist. „Halber Käsekuchen sind nur die halben Kalorien, aber du hast trotzdem den vollen Genuss“, meint sie. Hier in der Weinstube stellte sie beim Obstbrandtesten ein neues Gesetz auf, mit dem ich mich sofort anfreunden konnte: „Nur Schnaps ist unteilbar!“

Vielleicht war es dann „Omas Kirsche“ zusammen mit einigen Flaschen Elbling, aber ich bin sicher, dass wir dies wirklich erlebt haben: Am Nachbartisch, hier im Weingut an der Mosel, saß ein Paar und ließ sich eine Weinprobe kommen. „Woher stammen Ihre Weine?“, fragte der Herr allen Ernstes die Kellnerin, die kurz irritiert war, dann freundlich antwortete: „Von der Mosel.“ – „Interessant! Von der Mosel also“, kombinierte die Funzel.

Die dazu passende Dame rief dann ihren Hund „Gucci“, offensichtlich benannt nach Mantel und Tasche der Besitzerin. Als sie später gingen, rief sie wieder nach dem Tier. Hund, Mantel und Tasche sprangen auf, kamen hinterher und hüpften ins Cabriolet. Als ich das sah, musste ich dringend etwas für unsere geistige Gesundheit tun und bestellte noch mal „Omas unteilbare Kirsche“.

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Bernd Gieseking
Der Kabarettist und Autor Bernd Gieseking steht seit über zwanzig Jahren auf der Bühne. Er schreibt Kolumnen für die »Wahrheit«-Seite der »taz«, Kinderhörspiele für den WDR Hörfunk sowie Bücher – und die am liebsten über Finnland: »Finne Dich Selbst!« und »Das kuriose Finnland-Buch«, alle erschienen im Fischer Verlag. Wenn er nicht schreibt, dann tourt er mit seinen Kabarettprogrammen »Gefühlte Dreißig«, »Finne Dich Selbst!« sowie - jeweils in den Wintermonaten - mit seinem alljährlichen satirischen Jahresrückblick »Ab dafür!« durch die Republik.
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4 Kommentare

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  • *Picture yourself in a boat on a river



    with tangerine trees and marmalade skies* (1)

    UNTERM MARMELADENHIMMEL

    Wer mit TAZ-TOURS unterwegs ist, kann sich auf was gefasst machen. Sogar Bildungsreisen sind im Angebot. Doch nichts ist an den Reisezielen so, wie es zuerst scheint. Auf Inseln, weit weg von hier, kann man den Kult der Töchter Gaias kennen lernen, wie sie an einem Kaktusstrand ihren Reigen unter der Sonne tanzen. (2) Doch Zweifelkommen auf. Vielleicht sind das gar keine Dienerinnen der Erdgöttin, sondern bloß die Mädels aus dem Beauty-Salon der kleinen Stadt gleich hinter den Dünen – die alle „was inhaliert“ haben und sich mit einer kommerziell aufgezogenen Touristenshow was dazu verdienen. Verständlich bei den Niedriglöhnen in der Kosmetikbranche. Also zurück nach Hause, zu exklusiven Orten wie dem Starnberger See. (3) Whow, echte Postkartenidylle – doch schon lauert die Tristesse in den Kaufhallen neben den Luxusdomizilen, wo einem nur lauter Unsympathen begegnen. (4) Schnell ab in den Norden, in ein kleines Ferien-Datschetsien in Brandenburg. (5) Da schießt man noch mit echtem Schrot und trinkt Korn. „Ich will jetzt mit dem Saufen aufhören aber ich schwanke noch“, hört man dort einen sagen. Abends kann man, wenn die Laternen angehen, die Wahlplakate der Rechten aufgehen sehen, die gleich zur nächtlichen Bürgerwehr aufmarschieren. Nein. Zahlen, raus, weiterziehen. Irgendwohin fliehen (F. J. Degenhardt). Doch auf Föhr wird man verhext (6) und auf Sylt mit der schrecklichen Betonwelt des Brutalismus konfrontiert, an der selbst eine gestandene Kolumnista ästhetisch verzweifelt - und sich den dunklen Wassern des Meeres ausliefert. Und dann soll man also an einem vielleicht biederen aber schönen Moselörtchen zur „geistigen Gesundheit“ zurückfinden, wo plötzlich Handtaschen zu laufen beginnen und Hunde Gucci heißen? Aber das ist nun mal DIE WAHRHEIT.

  • LINKS zu UNTERM MARMELADENHIMMEL

    (1)Aus: The Beatles - Lucy in the Sky with Diamonds

    (2) taz.de/Die-Wahrhei...bb_message_4171896



    (3)taz.de/Die-Wahrhei...bb_message_4129262

    (4) Seine Majestät Rama beim Shoppen dortheroben, bei den Bayrischen: www.bild.de/unterh...51512044.bild.html

    (5) ) taz.de/Abschalten-...bb_message_4164637

    (6) taz.de/Die-Wahrheit/!5766022/

    (7) taz.de/Die-Wahrheit/!5781181/

  • Bedenkt man, dass die „Marriage“ früher vornehmlich dazu diente, entfernte Fürstenhäuser zusammenzuführen, war die Frage des Herrn nach der Herkunft des Weines so abwegig doch auch wieder nicht.

  • Klasse.



    Schön geschrieben!



    ...„Halber Käsekuchen sind nur die halben Kalorien, aber du hast trotzdem den vollen Genuss“...



    So sind sie, die Begleiterinnen.



    In meiner Memoriam- Prost!



    www.ddr-museum.de/de/objects/1020532