Die EU und der Aufstieg der Populisten: In Brüssel brennt die Hütte
Deutschland, Frankreich und Belgien galten als Bollwerke gegen Rechtspopulisten. Doch vor der Europawahl herrscht auch hier Ausnahmezustand.
Kurz danach wurde bekannt, dass sich Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron nur noch heimlich und geschminkt auf die Straße traut. „Er schminkt sich sogar die Hände“, zitiert die Tageszeitung Le Monde einen Abgeordneten der Regierungspartei. Bei einem seiner letzten Ausflüge in die Provinz hatten ihn „Gelbwesten“ zur Hölle gewünscht. „Wir wollen dich an die Guillotine bringen“, stand auf einer Puppe am Straßenrand. Seither hat Macron Angst vor seinem Volk.
Nicht viel besser ist es um die britische Premierministerin Theresa May bestellt. Sie hat zwar einen Putschversuch aus den eigenen konservativen Reihen überstanden. Doch auch sie steht mit dem Rücken zur Wand. Der Brexit-Vertrag, den sie im November mit der EU ausgehandelt hat, findet keine Mehrheit im britischen Parlament. In ihrer Not versuchte May, noch Nachbesserungen zu erreichen. Doch die EU ließ sie abblitzen.
Es sind drei Szenen einer Krise. In Brüssel, Paris und London herrscht der Ausnahmezustand. Michel, Macron und May – noch im Sommer standen diese Politiker für Stabilität, Macron galt sogar als Hoffnungsträger. Nun müssen sie mitansehen, wie sie zum Spielball von Nationalisten, Populisten und Putschisten geworden sind. Drei Monate vor dem Brexit und fünf Monate vor der Europawahl steht Westeuropa vor einem Scherbenhaufen.
Vom Aufbruch Europas redet Merkel nicht mal mehr
Nur Westeuropa? Natürlich nicht. In den USA hat die Krise schon viel früher begonnen – mit der Wahl von US-Präsident Donald Trump, vielleicht sogar schon mit dem 11. September 2001. In der EU waren es bisher vor allem Griechenland und Italien, die in den Abgrund geschaut haben. Doch nun sind auch Ungarn und Rumänien im Osten und Schweden im Norden in die Krise gerutscht. Selbst Deutschland ist nicht mehr so stabil wie früher.
Seit der Bundestagswahl ist die „Macht in der Mitte“ (Herfried Münkler) vorwiegend mit sich selbst beschäftigt. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) führt nicht mehr – nicht in Berlin und auch nicht in Brüssel. Sie wirkt wie eine Getriebene, die sich nur durch die Flucht aus dem Parteivorsitz aus der Schusslinie nehmen konnte. Vom „Aufbruch für Europa“, den sie sich von der SPD ins Regierungsprogramm diktieren ließ, redet Merkel nicht einmal mehr.
Es wäre auch sinnlos – denn statt Aufbruch droht der Abbruch. Die EU-Politik liegt schon jetzt am Boden. Bei ihrem letzten Gipfeltreffen im Dezember haben es die 28 Staats- und Regierungschefs nicht einmal geschafft, ihre eigenen Reformversprechen einzulösen. Merkels „europäische Lösung“ für die Flüchtlingspolitik ist ebenso gescheitert wie Macrons Reform der Eurozone. Die EU geht mit leeren Händen in ihr Schicksalsjahr 2019.
Dass die Krise nun auch Westeuropa erfasst hat, könnte sich als fatal erweisen. Denn bisher galten Deutschland, Frankreich und Belgien als Bollwerke gegen das Böse, das vor allem in Osteuropa verortet wurde. Viktor Orbán in Ungarn und Jarosław Kaczyński in Polen standen für all das, wogegen Macron und Merkel bei der Europawahl kämpfen wollten. Macron hat sogar versucht, sich zum Retter des liberalen und weltoffenen Europas zu stilisieren.
Populismus ist nur ein Symptom
Diese Pose wird er nun wohl ablegen müssen. Schließlich ist Macron selbst vor den „Gelbwesten“ zurückgewichen, die neben enttäuschten und empörten Bürgern auch rechte Populisten und Nationalisten in ihren Reihen zählen. Aber auch Merkel kann keine Lektionen mehr erteilen. Seit der deutsche Bundestag mehr rechtspopulistische Abgeordnete zählt als die französische Nationalversammlung, kann die Kanzlerin keine Sonderrolle mehr beanspruchen.
Ist es also eine Art von „Normalisierung“, die wir in Deutschland, Frankreich und Belgien beobachten? Hat der Populismus neuerdings auch Westeuropa im Griff, wie zuvor schon Osteuropa? Ganz so einfach ist es nicht. Zum einen ist es ja nicht „normal“, wenn die Bürgerrechte und der Rechtsstaat ausgehebelt werden, wie im Osten, oder demokratisch gewählte Politiker fürchten müssen, aus dem Amt gejagt zu werden, wie neuerdings im Westen.
Zum anderen ist das, was man leichtfertig „Populismus“ nennt, ja nur ein Symptom. Dahinter steht eine Systemkrise, die sich auch am Niedergang der politischen „Mitte“ und der Volksparteien ablesen lässt. Zwei Jahre nach der Wahl, die Trump ins Amt brachte, hat diese Krise nun auch Westeuropa erfasst. Eine Überraschung sollte das eigentlich nicht sein. Schließlich hat der Brexit ja schon vor Trump begonnen. Außerdem waren die Europäer hinreichend gewarnt.
Die ersten populistischen Politiker in Westeuropa hießen nicht Marine Le Pen oder Nigel Farage, sondern Jörg Haider und Silvio Berlusconi. Ihre ersten Erfolge fuhren die Rechten nicht 2017 in Österreich und 2018 in Italien ein, sondern bei der Europawahl 2014. Damals wurde der rechtsextreme Front National zur stärksten Partei in Frank-reich. Auch in Holland trumpften die Rechten auf. Nun, fünf Jahre später, setzen sie zum Sturm auf die Macht an.
Taub gegenüber den Feinden in ihrem Inneren
Für die Europawahl im Mai verheißt das nichts Gutes. Rechtspopulisten und EU-Gegner könnten bis zu 30 Prozent der Sitze erobern. Selbst dass sie zur stärksten Kraft werden, scheint nicht mehr ausgeschlossen. Der italienische Lega-Chef, Matteo Salvini, träumt schon von einer Allianz der Rechten, die die EU aus den Angeln heben soll. Ausgerechnet der frühere Trump-Berater Steve Bannon soll ihm dabei helfen. Das Europa-Projekt des ehemaligen Breitbart-News-Herausgebers heißt „The Movement“ und soll die europäische Rechte vereinen.
Die EU hat dem nicht viel entgegenzusetzen. Beim Gipfeltreffen im Dezember hat sie eine Initiative gegen „Desinformation“ aus Russland beschlossen. Doch gegen die Feinde im Innern unternahm sie nichts. Dass die Macht verfällt und sogar Westeuropa zittert, ist im Brüsseler Europaviertel kein Thema. „Augen zu und durch“ lautet das Motto.
Das musste auch Belgiens Premier Michel erfahren. Nach seinem Rücktritt wurde er vom König beauftragt, bis zur Wahl im Mai durchzuhalten – als Chef einer geschäftsführenden Regierung. Was für ein Symbol: Die etablierte Ordnung wankt, doch die Geschäfte gehen weiter, als wäre nichts geschehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken