Deutungskampf nach Magdeburg: „Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Der Täter von Magdeburg war beeinflusst von rechtsextremen Narrativen. Der Sozialforscher Hans Goldenbaum beobachtet, wie die Szene damit umgeht.
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taz: Herr Goldenbaum, für die meisten Menschen ist schwer verständlich, was den Täter von Magdeburg eigentlich antrieb. Können Sie das verstehen?
Hans Goldenbaum: Man merkt, für viele ist das schwer zusammenzubringen: Ein Mann aus Saudi-Arabien, aber der soll rechts sein? Hinzu kommen diese vermeintlichen Paradoxien, er bezog sich positiv auf rechtsextreme Influencer und Parteien wie die AfD, auf der anderen Seite gibt es Gewaltaufrufe gegen Deutsche und dann wählt er einen Weihnachtsmarkt als Anschlagsort. Aber aus unserer Sicht lässt sich auch diese Tat aus den vorliegenden Informationen ideologisch beziehungsweise motivational nachvollziehen.
taz: Wie dröseln Sie diese Widersprüche auf?
Goldenbaum: Im rechten Desinformationsmilieu wird zum Beispiel gerade betont, dass er früher Flüchtlingen helfen wollte. Daraus machen die dann sozusagen einen Pro-Flüchtlingsanschlag. Aber er wollte ja nur ganz bestimmten Geflüchteten helfen, nämlich Leuten, die aus islamischen Ländern kommen, sich von der Religion lossagen und auf dieser Basis verfolgt werden. Die Mehrheit der Geflüchteten hat er nicht als unterstützungswürdig angesehen. Im Gegenteil: Er bezeichnete es als Problem, dass europäische Staaten Geflüchtete aus Kriegsgebieten aufnehmen, aus Afghanistan, Syrien und so weiter. Dadurch würden zu viele Muslime nach Europa kommen.
ist Sozial- und Islamwissenschaftler und leitet seit sieben Jahren die Fach- und Beratungsstelle Gewalt- und Radikalisierungsprävention Salam im Land Sachsen-Anhalt. Deren Schwerpunkte sind religiös begründeter Extremismus und herkunftslandbezogene Gewaltkonflikte.
taz: Warum drohte er dann explizit, Deutsche zu töten, wenn er gegen Geflüchtete und den Islam ist?
Goldenbaum: Das stand vor dem Hintergrund, dass er – und das muss man wirklich verstehen – eine verschwörungsideologische Verfolgungsgeschichte erzählt, mit paranoischen Zügen. Das ist ähnlich wie beim Täter von Hanau. Demnach wollten der deutsche Staat, die deutsche Polizei und die deutschen Geheimdienste verhindern, dass er die Wahrheit ans Licht bringt; die Wahrheit, dass Deutschland Europa islamisieren will und quasi Teil der Agenda des „großen Austausches“ ist. Darum würde er überwacht. Es wäre bei ihm eingebrochen worden, Beweise wären von der deutschen Polizei gestohlen worden und aufgrund seines Kampfes würde sein Leben durch Deutschland bedroht. In dieser Erzählung stehen die Deutschen sozusagen auf der falschen Seite der Geschichte, da sie aus seiner Sicht pro Geflüchtete und pro Islam sind und Leute wie ihn bis zum Tod verfolgen. Deshalb hat er getwittert: „Wenn die Deutschen uns töten wollen, dann werden wir sie abschlachten oder sterben oder stolz ins Gefängnis gehen.“
taz: Warum wählte er einen Weihnachtsmarkt als Anschlagsziel?
Goldenbaum: Er hat sich offenbar in einem Abwehrkampf gesehen: Deutschlands Ziel sei die Islamisierung Europas und Deutschland attackiere die islamkritische Bewegung. Deutschland als weltoffenes Gesellschaftsgebilde, das Geflüchtete aufnimmt und die Religionsfreiheit gewährt, statt gegen den Islam anzukämpfen. Daran wollte er sich rächen. Hinzu kam wohl seine paranoide Störung beziehungsweise dann ein psychischer Ausnahmezustand. Das kann dann auch so einen Anschlag auf ein zentrales kulturelles Event in Deutschland wie den Weihnachtsmarkt erklären.
taz: Um das christliche Weihnachten ging es ihm also eher nicht, oder?
Goldenbaum: Nein, davon gehe ich nicht aus. Auch wenn er sich durchaus allgemein religionskritisch geäußert hat, nicht nur antiislamisch: Gott sei ein „jüdischer Götze“. Das ist übrigens auch eine Parallele zu atheistischem oder zu antimonotheistischem Rechtsextremismus. Und es ist natürlich interessant vor dem Hintergrund, keine Hemmungen zu haben, einen Weihnachtsmarkt anzugreifen. Aber ich denke, es ging eher um den Weihnachtsmarkt als ein jährliches, zentrales Kulturevent der deutschen Bevölkerung.
taz: War der Täter ein Rechtsextremist?
Goldenbaum: Er ist beeinflusst von rechtsextremen Narrativen und reproduziert sie: Influencer aus Nordamerika, Influencer aus Deutschland, militant rechtsextreme Kanäle wie „Radio Genoa“, Akteure aus dem parteipolitischen Spektrum der AfD und zuletzt Elon Musk. Meiner Einschätzung nach handelt es sich beim Täter um eine marginale Figur innerhalb der Diskursgemeinschaft des globalen Rechtsextremismus. Es ist sozusagen eine Onlinewelt, in der in den letzten Jahren viele Einzeltäter entstanden sind. Auch der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt, mit seinem Botschaftscharakter, ein „Weckruf“ zu sein, das passt gut in bestimmte rechtsextreme Motivationen, die wir im Bereich des Rechtsterrorismus schon hatten. Wörtlich schrieb er vor mehreren Wochen über den Kampf gegen die Islamisierung: „Uns Liberale wird man im Westen nur respektieren, wenn wir Gewalt verwenden, wie die Islamisten.“
taz: Wie reagieren Rechtsextreme darauf?
Goldenbaum: Es wird versucht, das komplett zu leugnen. Der Täter sei doch ein Islamist, der habe sich nur verstellt. Eigentlich habe er Dschihad gemacht. Dann werden die Gewaltaufrufe gegen Deutsche aus dem Kontext gerissen und der Satz, dass Deutschland Islamisierung betreibe, wird einfach weggelassen. Oder es heißt, er sei eigentlich ein Linker, weil er das in einem Interview mit einem rechtsextremen Medium gesagt hat. Aber diese Äußerung ist auch nicht sonderlich überraschend. Dass Rechte sich als die eigentlichen Antifaschisten bezeichnen, kennen wir etwa von Corona- oder Montagsdemos. Da gibt es derzeit wirklich eine massive Kampagne, die auch großen Einfluss haben wird, einfach weil die AfD sie mitträgt.
taz: Sie hatten vorher erwähnt, dass der Täter geschrieben hat, er wolle stolz ins Gefängnis gehen. Glauben Sie, der Täter wollte auch persönliche Aufmerksamkeit?
Goldenbaum: Ja, absolut. Das konnte man auch bei einem Interview hören, das er noch vor ein paar Tagen gegeben hat: das – wohl narzisstische – Bedürfnis, ernst genommen zu werden, wahrgenommen zu werden. Da sagt er zu dem Journalisten, dieser sei der erste seit sieben Jahren, der ihn ernst nehme. Niemand höre ihm zu und wolle seine wichtigen Informationen haben. Deswegen sprechen wir im Terrorismus ja auch von Botschaftstaten. Es geht gar nicht um die Tat selbst, sondern die Tat soll in der jeweiligen Gesellschaft etwas auslösen.
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