Deutschtürk:innen vor der Stichwahl: Demokratie fördern durch Einbürgern
Viele frühere Gastarbeiter:innen sind heute eingebürgert. Sie dürfen in der Türkei nicht mehr wählen, aber in Deutschland - und sind meist liberal.
W erden die Türkinnen und Türken in Deutschland am Sonntag bei der Stichwahl dafür sorgen, dass der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan an der Macht bleibt? Man könnte es vermuten, schaut man auf das Ergebnis der ersten Runde der Präsidentschaftswahl: 65 Prozent der sogenannten Deutschtürk:innen haben vor knapp zwei Wochen für Erdoğan und seine AKP gestimmt und nur 33 Prozent für seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu.
Sehr zugespitzt könnte man formulieren: Die Deutschtürk:innen wählen in der Mehrheit rechtsnational. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn die türkische Community hierzulande ist mittlerweile politisch viel diverser, als es das aktuelle Wahlergebnis in der Türkei widerspiegelt – auch wenn es den Rückhalt für den Autokraten Erdoğan durch Deutschtürk:innen nach wie vor gibt. Auch das hat Gründe: Jene Menschen, die in den 1950er und 1960er Jahren als Gastarbeiter:innen nach Deutschland kamen, stammten häufig vom Land und waren stärker als ihre Landsleute aus den Städten konservativ-traditionell geprägt, religiöser, weniger politisiert. In Köln, Duisburg, Recklinghausen angekommen – das Ruhrgebiet zog vor allem wegen der dort angesiedelten Kohle- und Stahlindustrie –, mussten sie schmerzlich erfahren, dass sie hierzulande gar nicht so willkommen waren, wie ihnen suggeriert worden war. Möglicherweise war es die Kombination aus Traditionalismus und unerfüllter Hoffnung auf ein besseres Leben, die sie konservativ wählen ließ. Diese Haltung wird zudem bis heute von großen Moscheeverbänden wie Ditib und Millî Görüş und ihren wortstarken Chefs gestützt.
Doch vieles hat sich verändert. Von den in den 50er und 60er Jahren angeworbenen Gastarbeiter:innen sind einige in die Türkei zurückgegangen, von den hier gebliebenen etwa 3 Millionen Frauen, Männern und ihren Kindern ist mittlerweile die Hälfte eingebürgert. Sie dürfen in der Türkei nicht mehr wählen – nun aber in Deutschland. Und sie sind vielfach liberaler, politisierter und urbaner eingestellt und geben vor allem der SPD ihre Stimme.
Ein Grund dafür ist, das ergeben Meinungsumfragen, das Erleben, in Deutschland endlich einigermaßen ernst genommen und mit einer Migrationsbiographie akzeptiert zu werden. Das trifft freilich nicht auf alle Migrant:innen zu und unterscheidet sich auch stark nach der Region, in der die Menschen leben. Doch ein Fazit könnte sein: Wer sich hierzulande eine demokratischere Türkei wünscht, muss Einbürgerung fördern und ermöglichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch