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Deutsche FlüchtlingspolitikPraktisch im Stich gelassen

Bundesinnenminister Horst Seehofer fürchtet steigende Migrationszahlen. Dabei könnte Deutschland viel mehr Menschen aufnehmen.

Geflüchtete werden auf dem Mittelmeer gerettet, 19. Februar 2021 Foto: Unai Beroiz/imago

W er sich Covid-19 einfängt, könnte es erst einmal ruhiger angehen lassen. Nicht so Horst Seehofer. Der klagte an seinem ersten Quarantäne-Morgen, es zeichne sich ab, „dass die Migrationszahlen wieder deutlich steigen“. Er werde mit seiner Fraktion über zusätzliche Maßnahmen gegen die irreguläre Migration reden.

Als die CSU noch der Meinung war, die AfD rechts überholen zu müssen, hatte Seehofer ein Riesentheater veranstaltet, um eine – grundgesetzwidrige – „Obergrenze“ für Flüchtlinge durchzusetzen. Das Ende vom Lied war eine Klausel im Koalitionsvertrag der Groko, laut der die Neuaufnahmen pro Jahr eine „Spanne von 180.000 bis 220.000 nicht überschreiten“ sollen. „Diese Zahl ist verkraftbar, und da funktioniert auch die Integration“, sagte Seehofer damals.

Wie sieht es heute aus? Nach den jüngsten Zahlen des Ausländerzentralregisters lebten 2020 gerade mal 36.000 Geflüchtete mehr in Deutschland als im Vorjahr – gut ein Sechstel dessen, was Seehofer für „verkraftbar“ erklärt hat. Auch nach den Maßstäben eines Innenministers, der sich über 69 abgeschobene Afghanen am 69. Geburtstag freut und Migration für die „Mutter aller Probleme“ hält, wäre also noch reichlich Luft für humanitäre Aufnahmen.

Und seit Anfang Mai sind etwa 75 Menschen im Mittelmeer ertrunken, seit Januar mindestens 667, dazu wurden etwa 7.000 Menschen von Libyens Küstenwache eingefangen und zurück in Lager gebracht. Wer es nach Italien schafft, kommt in Quarantäne-Schiffe. Die Regierung in Rom arbeitet an einem Abkommen mit dem Bürgerkriegsland Libyen nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals.

Seit 2018 hatte die Bundesregierung Italien immer wieder in Aussicht gestellt, einen spürbaren Teil der aus Seenot Geretteten abzunehmen. Doch seit Anfang 2020 hat Deutschland ganze 246 gerettete Schiffbrüchige freiwillig aus Italien aufgenommen. In der gleichen Zeit sind 47.000 Menschen in dem Land angekommen.

Am Dienstag nun war Bundes­außenminister Heiko Maas in Rom, um mit dem italienischen Außenminister Luigi Di Maio über das Thema zu ­sprechen. „Wir sind grundsätzlich der Auffassung, dass man Italien nicht alleine lassen kann mit dieser Situation“, sagte Maas. Konkrete Zahlen nannte er nicht. Er müsse zunächst mit dem Innenministerium über das Thema sprechen. Das Ergebnis dürfte sein: „Grundsätzlich“ wird Italien nicht im Stich gelassen. Praktisch schon.

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Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
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15 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Ach, @FRAU FLIEDER.

    Sie und Ihre Angst vor Flüchtlingen.

    Lesen Sie mal über Riace [1], ein kleines Städtchen in Süditalien, das, wie so viele dort, wirtschaftlich ums Überleben kämpft.

    Und wie, durch kreatives Engagement der Bevölkerung und des Bürgermeisters -- mit Hilfe und durch Integration von Flüchtlingen eine Verbesserung gelingt.

    Natürlich passt das der damaligen Regierung nicht in den Kram, Sie erinnern sich, Salvini, so eine Art Espresso trinkender Seehofer.

    Mein Vorschlag? Das ganze Geld, das die EU für Frontex und für Lager [2] ausgibt *direkt*, also *an den Nationalstaaten vorbei* [0], an die Gemeinden ausgibt, die Flüchtlinge aufnehmen.

    Mindeststandards (dazu gehören neben Wohnung und Nahrung auch Sprache und Teilhabe am Leben) werden festgelegt, eine Pauschale pro Flüchtling und pro Jahr (vielleicht degressiv, am Anfang ist es mehr) -- überall in der EU gleich hoch.

    Was meinen Sie, wieviele Kommunen plötzlich "Hier!" rufen?

    Warum, meinen Sie, ist die Angst vor Fremden immer dort am höchsten wo es am wenigsten davon gibt?

    Eben.

    [0] Das würde eine Instrumentalisierung duch populistische Politik etwas erschweren



    [1] taz.de/Fluechtling...ditalien/!5541036/



    [2] Wer hätte je gedacht, dass wir wieder Lager in Europa haben? Mich schaudert es.

    • @tomás zerolo:

      Ein treffender Kommentar, dem ich zustimme!! Bitte mehr davon!

  • Wenn Hr. Seehofer sich aufrichtig um Flüchtlinge und die Migration kümmern würde und dadurch tatsächlich an die Grenzen der Belastbarkeit kämme, könnte für sein Gejammere etwas Verständnis aufkommen. Der Bericht und die realen Zahlen zeigen das Gegenteil. Der Aktionismus von Hrn. Seehofer lebt reinen Rassismus in Form von Ausgrenzung Hilfe suchender landesfremder Menschen.



    Am Ende ist unser Heimatminister Seehofer eben doch ein Traditionalist. In alter CSU - Tradition, wie sie es schon nach dem Krieg mit uns deutschen Flüchtlingen aus dem Osten gehalten hat. Es wird höchste Zeit für einen biologischen Wechsel.

    • @Sonnenhaus:

      Nein, die Zahlen stimmen nicht. Deutschland nimmt immer noch erheblich mehr Flüchtlinge / Asylsuchende auf als Italien. Eine einfache Recherche hilft....

    • @Sonnenhaus:

      Reiner Rassismus? Er, der ganz klar rechte Umtriebe als die größte Gefahr benennt?

      Er will einfach kontrollierte und qualifizierte Einwanderung. Und konsequente Abschiebung von Abgelehnten, Gefährdern und Straftätern. Ganz normale Denke, die neun von zehn Leute auf der Straße ebenfalls teilen.

      • @Wonneproppen:

        "Er will einfach kontrollierte und qualifizierte Einwanderung."



        Da müssen sie wohl etwas verpasst haben, denn Horsti verhindert schon seit seinem Amtsantritt ein qualifiziertes Einwanderungsgesetz.



        Selbst bayerische Handwerker sind schon von der CSU abgerückt, nachdem ihnen die Flüchtlingsgesellen nach erfolgreicher Ausbildung "entführt" (abgeschoben) wurden. Wer zahlt eigentlich das hierdurch verlorene Steuergeld; Ausbildung, Deutschkurse, Zuschüsse für Integration. Kaum sind die Menschen integriert werden Sie vom Heimatministerium abgeschoben. Geht`s eigentlich noch.

  • Ich gehe davon aus, dass sich in der Hinsicht ab der Bundestagswahl im September vieles ändern wird, wenn die Grünen an der Regierung beteiligt sind oder sogar das Kanzleramt inne haben. Ich denke, das wird sehr interessant, weil ich bisher noch nicht ganz verstanden habe, was die Grünen wie beabsichtigen.

  • RS
    Ria Sauter

    Immer wieder wird von Ihnen geschrieben, wir könnten noch mehr Flüchtlinge aufnehmen.



    Schreiben Sie doch bitte mal, wie das gehen soll mit Wohnung, Arbeit etc.



    Es herrscht extreme Wohnungsknappheit. Das wird sich meines Wissens nach auch nicht ändern. Haben Sie andere Informationen?



    Ich hätte gerne mal Lösungen für diese sich immer wiederholende These, dass wir es könnten.



    Es gibt zunehmende Armut, Perspektivlosigkeit und Corona gibt es auch noch. letzteres vernichtet gerade in großem Stil Arbeitsplätze und Existenzen.



    Also Wie bitte sieht Ihre Lösung aus?

    • @Ria Sauter:

      Das Problem der Wohnungen lässt sich durch einen bundesweiten Mietdeckel und durch die Vergesellschaftung von profitorientierten Immobilienkonzernen lösen.



      Gegen Armut hilft ein hoher gesetzlicher Mindestlohn von z.B. 15 €uro pro Stunde, und die entschlossene Bekämpfung von Konzernen wie Amazon die Lohn- & Steuerdumping betreiben.

      • RS
        Ria Sauter
        @Alreech:

        Das wissen wir doch. Geschieht irgendetwas in diese Richtung, nein!



        Die Wünsche gebetsmühlenartig zu wiederholen ändert nichts !

    • @Ria Sauter:

      Es gibt keine Lösung außer: wir schaffen das schon irgendwie, wir sind ja Deutschland.

  • Dieser Innenminister ist eine Schande für das ach so humanistische christliche Abendland.

    • @tomás zerolo:

      ja aber nicht nur er sondern auch seine "christlich soziale" union und deren schwesterpartei die "christlich"demokratische union.

      mal sehen wieweit es den "grünen" in einer schwarz-"grünen" oder in einer "grün"- schwarzen koalition die zur zeit nach den umfragen als das mit der grössten wahrscheinlichkeit drohende übel erscheint und zu der sie wohl verurteilt sein werden-wenn sie unvernünftigerweise weiter darauf bestehen die zustimmung zu völkerrechtswidrigen kriegen zu aufrüstung und waffenexporten und ein bekenntnis zur nato zur bedingung für eine rot "rot grüne" koalition zu erklären -gelingen wird eine weniger inhumane politik gegenüber flüchtlingen durchzusetzen.

      wahrscheinlich werden die "grünen" ihre wähler*innen auch in dieser frage enttäuschen

    • @tomás zerolo:

      Volle Zustimmung!



      Ein Hoffnungsschimmer: wenn er aufhört, verliert er seine Immunität. Die Gerichte werden noch viel "Spaß" mit ihm bekommen. Hoffentlich!

  • Flüchtlinge und/oder Asyl ist eine Debatte und für wieviele Menschen das gilt auch, deswegen wurde das GG auch schon angepasst. Man kann für alle Menschen der Welt sein, sollte das aber nicht von der Debatte auf das GG schieben. Das GG legt nicht fest wieviele oder wenige Menschen nach D kommen.

    Wichtiger scheint mir aber der Punkt nicht immer von Flüchtlingen zu reden. Klar sind das viele auch, aber viele sind auch Migranten, die ein besseres Leben oder Arbeit wollen, andere haben noch andere Gründe. Man sollte diese Menschen nicht einfach an den Rand drängen und nur von Flüchlingen reden.

    Noch wichtiger ist aber: es sind alles Menschen und wenn sie hier sind sind sie GLEICHBERECHTIGTE Mitbürger in diesem Land. Die allermeisten Migranten auf dem (sogenannten) Flüchtlingsweg denken sehr verschieden von durchschnittlichen Redakteuren oder Lesern der taz. Natürlich gibt es auch Überschneidungen, man lehnt einige andere Gruppen gemeinsam ab, man ist für offene Grenzen (zumindest in Europa). Aber man kann nicht einfach ignorieren, dass diese Menschen in vielen Punkten sehr bunt, nicht einheiutlich aber doch deutlich anders als die "taz" denken. Es sind gleichberechtigte Bürger, die ohnehin noch kaum zu Wort kommen: man sollte daher nicht einfach von außen als Flüchtlinge über sie reden, sondern sich mehr Gedanken machen, in welchen der vielen Punkte, wo man sehr verschieden denkt, man mehr auf die "Flüchtlinge" zugehen will.