Debatte zu Sanktionen und Gasversorgung: Der unfreiwillige Helfer
So paradox es klingen mag: Europa kann von den jüngsten Sanktionen der USA gegen Russlands Energiewirtschaft nur profitieren.
D iejenigen unter den Westeuropäern, allen voran die Deutschen, die jetzt die neuen, vom US-Kongress beschlossenen Sanktionen gegen Russland anprangern, liegen völlig falsch.
Sie betrachten es als Problem, dass die jüngsten Maßnahmen, die sich vor allem gegen Russlands Energiewirtschaft richten, wohl auch das Aus für das geplante Gaspipelineprojekt Nord Stream 2 bedeuten würden. Und das, so die dubiose Argumentation, würde die Energiesicherheit Europas gefährden, da Europa ein Drittel seines Gasbedarfs aus russischen Importen bezieht.
Doch der Zorn der Europäer ist fehlgerichtet – und vielleicht ist er sogar nur vorgetäuscht. Schließlich ist Nord Stream 2 für den mächtigen russischen Gazprom-Konzern und für die europäische Gasindustrie nicht mehr als reine Gelddruckmaschine – ganz abgesehen davon, dass das Projekt auch ein echter Klimakiller ist, der, würde er zustande kommen, das Pariser Klimaschutzabkommen unterliefe.
Tatsächlich ist Europa besser dran ohne die 9,5 Milliarden Euro teure Leitung, gegen die sich die Mitteleuropäer von Anfang an gewehrt haben. Nord Stream 2 folgt alten Strategien, Russland und Europas Gaswirtschaft auf Jahrzehnte hinaus ans Erdgas zu binden – obwohl es das erklärte Ziel der Europäischen Union ist, ihre Industrien zu dekarbonisieren. Es könnte also sein, dass US-Präsident Donald Trump, wenn er das vom Kongress beschlossene Sanktionspaket so absegnet und damit auch den Ausbau der Pipeline verhindert, in den nächsten Tagen (unfreiwillig) den größten Beitrag zum Klimaschutz in seiner Amtszeit leisten wird.
Was die Gasversorgung angeht, ist Nord Stream 2 ohnehin überflüssig. Die bestehenden Leitungen zwischen der EU und Russland liefern schon jetzt weitaus mehr, als die EU benötigt – 2015 wurden nur 70 Prozent der gelieferten Gasmenge aus der Nord-Stream-Pipeline genutzt. Wenn Nord-Stream 1 wie geplant 2019 ihre Kapazitäten verdoppelt, wird russisches Gas erst recht im Überfluss verfügbar sein.
Sogar wenn Russland die Gaslieferung an Europa drosseln würde, gäbe es ein Jahrzehnt, nachdem Moskau aus politischen Gründen Osteuropa den Hahn abdrehte, mittlerweile auch Alternativen: Flüssiges Erdgas und heimisches Biogas sind in weit größerer Menge vorhanden als noch vor wenigen Jahren. In erster Linie Algerien und Norwegen, aber auch die Niederlande, Dänemark, Großbritannien oder die USA könnten einen Ausfall russischer Energielieferungen wettmachen. Russisches Gas wird zurzeit deshalb bevorzugt, weil es geringfügig billiger ist – und nicht, weil es keine Alternativen gäbe.
Außerdem wird der europäische Erdgaskonsum in den nächsten Jahren weiter sinken. Seit dem Höchststand von 595 Milliarden Kubikmetern im Jahr 2010 sank der Konsum bis zum Jahr 2014 um ein Fünftel auf 481 Milliarden Kubikmeter – das war der niedrigste Wert seit den frühen 1990er Jahren. Kurzfristig ging der Gaskonsum der EU in den Jahren 2015 und 2016 zwar hoch, aber die aktuellen Lieferungen reichen dafür völlig aus; durch Maßnahmen zur Energieeffizienz wird langfristig der Bedarf auch wieder sinken.
Und tatsächlich wäre der Bau von Nord Stream 2 ein herber Rückschlag für die europäischen Klimaziele: Erdgas ist zwar weniger schmutzig als Kohle und Öl, aber es ist und bleibt ein fossiler Brennstoff. Aus der Ausbeutung fossiler Energiequellen will sich Europa in den kommenden Jahrzehnten stufenweise zurückziehen – erst Kohle, dann Atomstrom und Öl, und schließlich Erdgas. Wird die Pipeline, wie es die Projektpläne vorsehen, die nächsten 55 Jahre lang betrieben, dann wird es für die EU erheblich schwerer werden, ihr Klimaziel zu erreichen und bis 2050 80 bis 95 Prozent weniger Emissionen auszustoßen als in den 1990er Jahren. Welchen Platz wird also eine neue große Ölpipeline in unseren Volkswirtschaften im Jahr 2040 oder 2050 haben? Hoffentlich gar keinen.
Der größte Gewinner von North Stream 2 wäre der Kreml
Oder wie es Sabrina Schulz, Leiterin des Berliner Thinktanks E3G Third Generation Environmentalism formuliert: „North Stream 2 ist eine komplett sinnlose Wette auf einen europäischen Energiemix, der zu großen Teilen aus Gas bestehen soll und den die Gasindustrie zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung machen will.“
Der größte Gewinner bei diesem Projekt wäre ganz offensichtlich: der Kreml. Er würde sich für das nächste halbe Jahrhundert einen steten Geldfluss aus der Europäischen Union in Richtung Moskau sichern. Die beteiligten westlichen Firmen wie Uniper, Wintershall, Shell, OMV und Engie, würden ihre Investitionen absichern, obwohl erneuerbare Energien schon bald vorherrschen werden. In ihrem Interesse wäre es, so lange wie möglich erfolgreiche Modelle zur Energiespeicherung zu behindern und einen Übergang zu den Erneuerbaren hinauszuzögern.
Natürlich werden solche Versuche noch immer blockiert von Polen, der Ukraine, der Slowakei und den baltischen Staaten, die sich von einer unterseeisch durch die Ostsee gezogenen Direktleitung zwischen Russland und Deutschland übervorteilt sehen. Ihre Befürchtung ist, dass ein Projekt wie Nord Stream 2 ihnen durch das Übergehen ihrer Staatsgebiete erhöhte Gaspreise einbringen wird und ihre Verhandlungsposition gegenüber Russland schwächt.
„Gazprom würde eine Monopolstellung in südöstlichen Ländern mit einer beträchtlichen Nachfrage nach Erdgas bekommen“, ist die wenig optimistische Einschätzung des belgischen Thinktanks Bruegel.
Es ist schon bemerkenswert, wie schnell die Westeuropäer den Schock vergessen haben, den ihnen Russlands politische Manipulation der Gasversorgung und der Gaspreise vor nicht allzu langer Zeit versetzte: Im Jahr 2006 und 2009 drehte Moskau Osteuropa das Gas ab – und droht seither immer wieder ganz offen damit. Nord Stream 2 würde diesen Hebel noch verstärken und gleichzeitig den Klimaschutz torpedieren – im Namen einer Handvoll Energiekonzerne, und ganz besonders Putins Gazprom.
Aus dem Englischen von Nina Apin
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen