Debatte Kritik der Wissenschaft: Von Lügenpresse zu Lügenforschung
Nach den Medien stehen Wissenschaftler in der Kritik. Einige Bürger fühlen sich von kritischen Forschungsergebnissen bevormundet.
Was fällt den sogenannten Experten eigentlich ein, uns die Freude an liebgewonnenen Traditionen zu nehmen? Und überhaupt. Was erlauben die sich, unsere (Vor-)Urteile in Zweifel zu ziehen? Ich pfeife auf die gekauften Studien!“ Aussagen wie diese hört man derzeit häufiger.
Sie schallen aus den zahlreichen Filterblasen des Internets und den Kommentarbereichen der Medien – und zwar immer dann, wenn mal wieder irgendeine Studie verbreitete Vorurteile widerlegt. Auf die Wissenschaft zu schimpfen ist derzeit en vogue. Beispiel gefällig?
Die EU verbietet ab April den Verkauf der beliebten Bleigießsets. Reflexhaft holten die Internetnutzer zum Rundumschlag gegen mehr oder weniger sinnvolle EU-Verordnungen aus. Angefangen vom Krümmungsgrad der Gurken und Bananen über einheitliche Kondomgrößen bis hin zum Verkaufsverbot von Glühbirnen. Droht jetzt der nächste Coup?
Blei ist bereits in geringen Mengen giftig. Gerade beim Erhitzen entstehen laut Umweltbundesamt gesundheitsschädigende Dämpfe. Dementsprechend hat die Europäische Union in ihrer Chemikalienverordnung neue Grenzwerte für das Metall in Produkten festgelegt. Und das ist sinnvoll.
Feinstaubdebatte vor Silvester
„Schaffen wir doch Silvester einfach ab und Weihnachten wie Ostern gleich mit dazu“, beschwert sich dennoch ein Focus-Online-Leser. „Bleigießen ist eine deutsche Tradition, diese ganzen Experten sollte man auf den Mond …“ In Wahrheit geht das Bleigießen auf die alten Römer zurück. Von den Gesundheitsgefahren durch Bleidämpfe dürften die nichts gewusst haben. Statt jetzt auf die Experten zu schimpfen, könnte man die Regelung ja auch begrüßen. Besser spät als nie!
Aber so einfach ist es nicht mit den Traditionen. Sie werden oft unhinterfragt praktiziert, sind identitätsstiftend und stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl. So weit so gut – zumindest solange damit keine gesundheitlichen Gefahren einhergehen. Zigaretten- und Alkoholkonsum sind aber Paradebeispiele für gesundheitsschädliche Angewohnheiten. Umso schwieriger ist es, sich davon zu lösen. Erkenntnisgewinn hin oder her – wie im Falle des Bleigießens.
Nachvollziehbar ist die Frage, ob die EU den Verkauf von Bleigießsets verbieten musste oder mehr Aufklärung ein probates Mittel gewesen wäre, um dem mündigen Bürger die Entscheidung zu überlassen. So geschehen im Falle der Feinstaubdebatte vor Silvester. Das Umweltbundesamt warnte in einer Broschüre zum Jahreswechsel „vor extremen Feinstaubmengen“ in der Nacht zum 1. Januar. Es bat die Bevölkerung, „einen Beitrag zur Verminderung der Feinstaubbelastung in der Silvesternacht zu leisten“. Ein indirekter Aufruf zum freiwilligen Verzicht auf Böller und Raketen. Die schädliche Wirkung von Feinstaub ist übrigens auch wissenschaftlich belegt.
Man sucht sich's aus
Diese Erkenntnisse mindern aber dennoch nicht des Deutschen Liebe für die Böllerei. Der Silvesterumsatz der pyrotechnischen Industrie ist innerhalb der vergangenen sechs Jahre um fast 20 Prozent gestiegen. Wissenschaftler würden sich unter dem Weihnachtsbaum wahrscheinlich unbeliebt machen, wenn sie kurz vor Neujahr für einen Verzicht plädierten.
Unliebsame Wahrheiten wollen viele gar nicht erst nicht hören. Selten hat im vergangenen Jahr ein Forschungsergebnis so eingeschlagen wie die Religionsmonitor-Studie. Sie stellt eine positive Arbeitsmarktintegration in Deutschland lebender Muslime fest. Unmittelbar nach Veröffentlichung der Studie wurden in den Kommentarspalten die Studienergebnisse angezweifelt. Frei nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Zu lesen waren Sätze wie „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“.
ist freier Journalist und Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Integration und Migration.
Bei negativen Integrationsergebnissen wäre die Studie von den Kritikern wohl bejubelt worden, ohne die Studie auch nur ansatzweise anzuzweifeln. Man sucht sich eben aus, welche Befunde man anerkennt und welche nicht.
Aufklärung ist out
Denn es gibt auch sogenannte Experten, denen die Menschen nur allzu gerne glauben möchten. Über die Hälfte der Bevölkerung stimmte 2010 Sarrazins These von den vermeintlich vererbten Bildungsdefiziten von Muslimen zu. Diese Argumentation ist rassistisch und widerspricht dem kleinen Einmaleins der Sozialwissenschaften.
Aber was soll’s? Hauptsache die „Expertise“ bestätigt die eigene Meinung. Viele dürsten nach leichten, doch offensichtlich falschen Antworten. Sie suchen nach einem Schuldigen für alles Mögliche. Aufklärung ist out. Determinismus ist in. Wir erleben die Wiedergeburt des dunklen Mittelalters im 21. Jahrhundert. Die komplexe Moderne war gestern. Ab heute heißt es, verflucht sei die Forschung.
Was kann die Wissenschaft dagegen tun? Gerade jetzt – im sogenannten postfaktischen Zeitalter – sollten sich Wissenschaftler nicht in Elfenbeintürme zurückziehen, sondern ihre Erkenntnisse mit einer möglichst breiten Öffentlichkeit teilen. Nicht nur in Fachzeitschriften, sondern auch in sozialen Netzwerken, wo Verschwörungstheorien Hochkonjunktur haben.
Im Zweifel für die Tradition
In der Antike verloren die Boten schlechter Nachrichten nicht selten ihren Kopf. Als Überbringer schlechter Nachrichten droht Wissenschaftlern heutzutage zumindest Rufmord. Sie laufen Gefahr, in Ungnade zu fallen, sobald Ergebnisse nicht die Meinungen der Leser bestätigen. Wer „Lügenpresse“ schreit, dem geht auch „Lügenwissenschaft“ leicht über die Lippen.
Forscher unterliegen jedoch weder den Zwängen der Politik noch der Medien. Sie müssen weder wiedergewählt werden, noch haben sie den Auflagendruck im Nacken, sondern sind idealtypisch ausschließlich der Wahrheit verpflichtet.
Aber auch Wissenschaftler geraten an ihre Grenzen. Manche Menschen können nicht mit Fakten überzeugt werden. Im Zweifel halten einige trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse lieber an Traditionen oder Vorurteilen fest.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Syrischer Ex-Diktator im Exil
Assads armseliger Abgang