Das drohende Scheitern der EU: Gegen die Wand
Die Lage sei „so dramatisch wie nie zuvor“, sagt Parlamentspräsident Schulz. Voller Angst klammert man sich in Brüssel an die tägliche Routine.
Die Zahlen sind ernüchternd: Von den vereinbarten 160.000 Asylbewerbern wurden erst 497 auf die EU-Länder umverteilt. Von fünf geplanten Hotspots ist erst ein einziger arbeitsfähig. Avramopolous trägt diese Zahlen gleichmütig vor. Er klingt unbeteiligt wie ein Buchhalter.
Doch dann, ganz unvermittelt, fährt er aus der Haut. „Haben Sie nicht das Gefühl, gescheitert zu sein?“, hat ihn eine Journalistin gefragt. „Es ist nicht fair, uns zu kritisieren“, schimpft der Grieche nun sichtlich empört. „Kritik zu üben ist immer leicht. Wir tun genau das, was wir tun können! Wenn die Mitgliedstaaten auch getan hätten, was sie sollten, dann sähe die Situation jetzt ganz anders aus!“
Ein Raunen geht durch den Saal. Die Journalisten, die es gewohnt sind, von PR-Profis mit vorgefertigten guten Nachrichten versorgt zu werden, wundern sich über diesen Wutausbruch. Es ist einer der seltenen Momente der Wahrheit in Brüssel. Ein Moment, in dem die bürokratische Routine aufbricht und der ganze Frust der Berufseuropäer zum Ausdruck kommt. Seit Monaten versuchen sie, den Laden zusammenzuhalten und Lösungen zu finden. Doch wenn die EU-Staaten nicht mitspielen, sind sie machtlos.
Die letzte Chance
Dabei wussten alle, dass schwierige Zeiten auf sie zukommen würden. „Dies ist die Kommission der letzten Chance“, hatte Jean-Claude Juncker schon im November 2014 gewarnt, als sein 28-köpfiges Team startete. „Zu wenig Europa, zu wenig Union“, klagte er im September 2015, als die Flüchtlingstrecks über den Balkan nach Deutschland zogen. Nun ist alles noch viel schlimmer gekommen. Europa steckt nicht in einer, sondern gleich in mehreren Krisen, der „Polykrise“. Das sagt einer, der es wissen muss: Währungskommissar Pierre Moscovici.
Monatelang hat der Franzose im vergangenen Jahr gegen den Grexit gekämpft, den von Deutschland betriebenen Rauswurf Griechenlands aus dem Euro. Er hat gewonnen – und findet doch keine Ruhe. Denn die Flüchtlingskrise hält auch ihn in Atem. Sie treibt den Populisten und Nationalisten immer neue Wähler zu. Und sie reißt tiefe Löcher in die Staatshaushalte. Moscovici denkt deshalb über einen Flüchtlingssoli nach.
Jean Asselborn, Luxemburger Minister
Seine Referenz ist dabei Wolfgang Schäuble, ausgerechnet. „Wolfgang Schäuble hat gesagt, dass wir finanzielle Solidarität üben müssen, ich bin ganz seiner Meinung.“ Immer wieder erwähnt Moscovici seinen Freund Wolfgang, mittlerweile spricht er sogar den Vornamen korrekt aus: „Je suis d’accord avec Wolfgang.“
In der schlimmsten Krise der EU-Geschichte passt kein Blatt zwischen Brüssel und Berlin, das ist die Botschaft. Moscovici sagt es mit sanfter Stimme, er versucht ruhig und gelassen zu wirken. Dabei hetzt er von Termin zu Termin, von einer Krisensitzung zur nächsten. Das große Bücherregal in seinem Büro ist fast leer, der Kommissar hat keine Zeit zum Einräumen und Lesen. Nach einer Viertelstunde Interview muss er schon wieder weg: Es gibt Ärger um Portugal – noch so ein Krisenland. Es könnte zum neuen Griechenland werden, fürchten manche in der Kommission.
Spaltung im Ministerrat
Im Ministerrat auf der anderen Seite der Rue de la Loi hat man ganz andere Sorgen. Kurz vor dem nächsten EU-Krisengipfel versuchen die Außenminister, ein Auseinanderbrechen der 28 Mitgliedstaaten zu verhindern. Mit der Eurokrise kam die Spaltung in Nord und Süd, nun droht auch noch der Bruch zwischen Ost und West.
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn sitzt an einem riesigen Tisch im winzigen Pressesaal des Großherzogtums. Sein Gesicht ist braungebrannt, doch seine Mimik ist sorgenvoll. „Wir dürfen nicht mit dem spielen, was Europa zusammenhält“, warnt er. Ein „Verein der Abtrünnigen“ wäre das Letzte, was die EU jetzt noch braucht. Es ist ein Seitenhieb auf Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei. Die vier Staaten der Visegrád-Gruppe stellen sich vehement gegen die Flüchtlingspolitik der Kommission. Sie wollen die Balkanroute abriegeln. Sie nennen es „Plan B“; am Montag haben sie ihn in Prag bekräftigt.
Das ist die triste Realität einer uneinigen Union: Die Weichen werden nicht mehr in Brüssel gestellt, sondern in nationalen Hauptstädten. Die Entscheidungen fallen nicht mehr gemeinsam im Ministerrat, wie es der EU-Vertrag vorsieht, sondern in separaten Klubs und Klübchen.
Niemand Geringeres als Kanzlerin Angela Merkel hat mit diesen Kungelrunden angefangen. Auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise im Juni 2015 lud sie die Gläubiger kurzerhand ins Kanzleramt – und klopfte dort die deutsch-europäische Linie fest.
„Koalition der Willigen“
Zur Flüchtlingskrise hat sie nun eine „Koalition der Willigen“ gebildet, die sich vor dem EU-Gipfel trifft. Und zwar nicht im Ministerrat, sondern auf neutralem Boden, in der österreichischen EU-Vertretung. Für das Treffen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu wird die Botschaft weiträumig abgeriegelt. Ausnahmezustand im Europaviertel. Bei der letzten Runde der „Koalition der Willigen“ waren nicht einmal Journalisten zugelassen – Merkel wollte Davutoğlu keinen kritischen Fragen aussetzen.
Alarmstufe Rot herrscht auch im Europaparlament. Neben der Kommission und dem Rat ist es die dritte große EU-Institution in Brüssel – und zugleich die schwächste. In der Griechenlandkrise spielten die Europaabgeordneten gar keine Rolle. In der Flüchtlingskrise durften sie nur die Vorschläge der Kommission abnicken. Im Eilverfahren.
Doch wenigstens beim Streit um Großbritannien möchte Parlamentspräsident Martin Schulz mitmischen. Mit breitem Lächeln und betont herzlichem Händedruck empfängt er David Cameron. Der britische Premier ist kurz vor dem Gipfel nach Brüssel geeilt, um die Abgeordneten von seinem Vier-Punkte-Plan gegen den „Brexit“ – den drohenden EU-Austritt Großbritanniens – zu überzeugen.
Zunächst war geplant, dass sich Cameron mit den Präsidenten aller politischen Gruppen trifft. Aber dann wäre er womöglich auf Nigel Farage, den Chef der EU-feindlichen britischen Ukip, gestoßen. Deshalb hat Schulz das Programm kurzfristig geändert. Nur die staatstragenden Parteien – Konservative, Sozialdemokraten und Liberalen – dürfen sich mit dem Briten an einen Tisch setzen.
Gegen das Cherry-Picking
Spannend wird es trotzdem. Denn bei der kurzen Aussprache werden viele Vorbehalte gegen den „fairen Deal“ geäußert, den EU-Ratspräsident Donald Tusk mit Cameron ausgehandelt hatte. Vor allem die „Notbremse“ trifft auf Widerstand. Sie soll Cameron die Möglichkeit geben, den Zuzug von EU-Bürgern auf die Insel zu begrenzen und sein für Juni geplantes EU-Referendum zu gewinnen.
Die Abgeordneten wittern darin eine Diskriminierung, vor allem die Osteuropäer gehen auf die Barrikaden. Vielen passt auch das ganze Vorgehen nicht. „Wenn man einmal anfängt, einem Land das Cherry-Picking zu erlauben, gibt es kein Halten mehr“, hatte die liberale französische Europaabgeordnete Sylvie Goulard vor dem Treffen gewarnt. Ähnlich sehen es ihre deutschen Kollegen.
„Das Parlament tut sein Möglichstes, um den Vorstellungen entgegenzukommen, aber wir können nichts garantieren“, wird Schulz nach dem Treffen mit Cameron sagen. „Die Europäische Union war noch nie in einer so dramatischen Lage wie in dieser Woche“, fügt er bedeutungsschwer hinzu.
Da ist sie wieder – die „Polykrise“, nur noch komplizierter als bisher. Zum erbitterten Streit über die Flüchtlinge ist nun auch noch das dramatische Ringen um Großbritannien hinzugekommen. Und niemand der Verantwortlichen will für ein mögliches Scheitern verantwortlich sein. Dabei ist es alles andere als ausgeschlossen, dass Cameron sein Land und die gesamte EU gegen die Wand fährt. Seine Vorschläge seien möglicherweise „etwas schwach“, um die Briten beim für Juni geplanten EU-Referendum zu überzeugen, warnt Luxemburgs Außenminister Asselborn.
Doch was passiert, wenn Cameron scheitert? Was soll die EU tun, wenn der Brexit kommt? Dazu will sich der Luxemburger lieber nicht äußern. „Das ist dann seine Sache.“ Es klingt, als fürchte auch er den Moment der Wahrheit.
Mitarbeit: Camille Le Tallec
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