Coronastatistiken und Rassismus: Hegemoniale Daten
Erhebungen zur Gesundheit, die systemische Diskriminierung aufzeigen könnten, gibt es in Deutschland kaum. Dabei wäre das wichtig.
Während der zwei Jahre Pandemie wurde immer wieder über sie gesprochen: Menschen mit „Migrationshintergrund“. Besonders in Erinnerung ist die Aussage von RKI-Chef Lothar Wieler, auf den Intensivstationen lägen 90 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Debatte wurde just zum „Tabu“ erklärt und zum Anlass genommen, gegen eingewanderte Menschen Stimmung zu machen. Auch ein Statement von Berlins Regierender Bürgermeisterin Franziska Giffey wurde breit diskutiert: Anfang Januar wies sie auf die Impfskepsis in manchen „Communitys“ hin, weil es dort besonders viele „Vorbehalte“ und Falschinformationen gebe.
Das Problem an solchen Aussagen und Debatten: Aufgrund der fehlenden Daten führen sie zu keiner Lösung, sondern füttern nur Vorurteile und rassistische Stereotype. Es ist so, als schaue man sich den Gender Pay Gap an und ziehe daraus den Schluss, dass Frauen einfach nicht qualifiziert genug, sprich: dümmer seien als Männer. Dass das nicht passiert, liegt nur daran, dass es viele andere Daten gibt, die die Ursachen für die Lohnlücke darstellen. Eine einzige Schicht Daten reicht nun einmal nicht aus für Interpretationen.
Zur vermeintlichen Impfskepsis unter Menschen mit Migrationshintergrund hat das Robert Koch-Institut denn auch Anfang Februar diese zweite Schicht an Daten nachgeliefert. Demzufolge liegen die Impfquoten bei Menschen mit Migrationshintergrund tatsächlich niedriger. Aber: Die Impfbereitschaft bei den Ungeimpften ist unter Eingewanderten höher als unter Nichteingewanderten. Und: Die Diskrepanz der Impfquoten scheint nicht mit irgendeiner ominösen „Impfskepsis“ zusammenzuhängen, sondern mit dem sozioökonomischen Status und der Sprache. Je besser die Deutschkenntnisse, desto höher die Impfquote.
Die Debatte, wie sie auch um Lothar Wielers Aussage geführt wurde – es sei ein „Tabu“, über höhere Erkrankungsraten unter Migrant*innen zu sprechen – finde sie „unsäglich“, sagt Anne-Kathrin Will. Die Wissenschaftlerin der HU Berlin hat jüngst für den Mediendienst Integration ein Paper zu Rassismus in der Pandemie veröffentlicht. Sie und zwei Kolleg*innen wollten herausfinden, ob rassifizierte Menschen stärker von Covid betroffen sind.
Ein Kollektiv in Berlin macht es anders
Will behauptet nicht, dass Migrant*innen nicht häufiger oder schwerer an Covid erkranken, im Gegenteil: Sie versucht, mit den wenigen vorliegenden Daten zu zeigen, dass genau das der Fall ist. Dazu ziehen die Forscher*innen die Sterberaten von Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit heran. Was sie in den Daten sehen: dass in den ersten drei Covid-19-Wellen ausländische Staatsbürger*innen tatsächlich häufiger gestorben sind als deutsche Staatsangehörige.
„Diese Daten sind holzschnittartig“, beschreibt Will ihre eigene Analyse. Denn natürlich ist eine ausländische Staatsangehörigkeit nur eine Annäherung an von Rassismus Betroffene. Außerdem sagen sie nichts über die Ursachen der höheren Sterberaten aus. Die Ursachen leiten Will und ihre Kolleg*innen zum einen aus anderen Studien ab, die sich mit den sozialen Komponenten von Gesundheit befassen.
Ihre eigene Analyse bestätigt außerdem das, was Studien aus anderen Ländern zeigen: dass sozial benachteiligte und rassifizierte Menschen schwerer von Infektionskrankheiten und damit auch von Covid-19 betroffen sind. Die Ursache, folgert Will in dem veröffentlichten Paper, liegen in den „vergleichsweise schlechten Wohn- und Arbeitsverhältnissen, dem eingeschränkten Zugang zu gesunder Ernährung, Bewegung und Erholung“.
Kirsten Schubert kennt solche Verhältnisse gut. Die Hausärztin arbeitet in einem jüngst eröffneten Gesundheitszentrum in Berlin-Neukölln, das eine andere Art der Versorgung bietet: intersektional und interdisziplinär. Gegründet wurde das Gesundheitszentrum vom Gesundheitskollektiv Berlin, das neben körperlichen vor allem soziale und psychische Faktoren als entscheidend für die Gesundheit von Menschen erachtet.
„Die sozialen Verhältnisse sind entscheidend für die Gesundheit von Menschen“, sagt Schubert. Deswegen wird in den umfangreichen Anamnesebögen des Gesundheitszentrums nicht nur nach der medizinischen Vorgeschichte gefragt. Es werden auch ganz gezielt Auskünfte über Diskriminierungserfahrungen erhoben, zum Beispiel Mobbing, Rassismus oder Sexismus. Die 40-jährige Ärztin gehört zu den Gründer*innen des Gesundheitskollektivs.
Die Sterblichkeit in sozial benachteiligten Regionen ist höher
„Menschen mit Rassismuserfahrungen sind oft psychisch belasteter und leiden häufiger unter chronischen Erkrankungen“, beschreibt sie ihre Beobachtungen. Deswegen sei sie froh, dass im Gesundheitszentrum Neukölln gezielt und systematisch nach Sprachbarrieren oder auch Wohnverhältnissen gefragt werde. „Menschen mit ausländischen Wurzeln sind finanziell oft schlechter gestellt, und das spiegelt sich eben in den Lebensverhältnissen wider.“
Diese soziale und strukturelle Ungleichheit zeigt sich auch in den höheren Sterberaten, die Anne-Kathrin Will in ihrer Analyse gefunden hat. Diese wiederum decken sich mit Untersuchungen des RKI, das die Sterbedaten der zweiten Covid-19-Welle im Dezember 2020 und Januar 2021 untersucht hat: Die Sterblichkeit von Covid-19, zeigen die Daten, lag in sozial benachteiligten Regionen Deutschlands um 70 bis 90 Prozent höher als in nicht sozial benachteiligten Regionen.
Studien aus den USA, Großbritannien oder Australien zeigen das schon lange. Dort werden gezielt Gesundheitsdaten verschiedener Communitys erhoben. Eine australische Meta-Analyse aus dem Jahr 2021 zeigt, dass Prävalenz, Hospitalisierung und Mortalität durch Covid-19 bei Schwarzen und Hispanics signifikant höher ist als in anderen Communitys. Diese Ergebnisse, schließen die Forscher*innen, weisen auf die systematische Benachteiligung von Minderheiten hin. Sie mahnen in ihrer Studie, dass die Daten die Notwendigkeit eines Programmes zeigen, das diese Unterschiede gezielt behebt.
Davon sind wir in Deutschland weit entfernt. „Es ist schon verwunderlich, dass nicht einmal die wenigen Daten, die es gibt, bisher ausgewertet wurden“, sagt die Wissenschaftlerin Anne-Kathrin Will. „Es ist ein Wegsehen, eine vollkommene Ignoranz gegenüber dem Thema.“ Die Daten, die erhoben werden, seien hegemoniale Daten, erklärt sie. Sprich: Daten, die systematische Diskriminierung aufzeigen könnten, werden gar nicht erst erhoben.
Ohne Daten führen wir Debatten, die Vorurteile schüren
Um die Gesundheit in verschiedenen Communitys, sozialen Schichten und Minderheiten besser verstehen zu können, muss es einen transparenten und inklusiven Prozess darüber geben, welche Daten erhoben werden – und wie. In Großbritannien, sagt Will, werde der Zensus immer wieder neu evaluiert, und zwar mit Befragungen der betreffenden Communitys. Es werde nach Selbstbezeichnungen gefragt und danach, wie sichergestellt werden könne, dass die Daten zum Wohl der jeweiligen Community erhoben werden. Also ein inklusiver Prozess.
„Ich war schon vorher sensibilisiert, was für eine Rolle rassistische Erfahrungen in der Gesundheit von Menschen spielen“, sagt die Ärztin Kirsten Schubert. „Aber seit ich in unserem Gesundheitszentrum arbeite und wir diese Dinge ganz gezielt abfragen, merke ich, dass da noch viel mehr dazu gehört.“ Man müsse strukturell geschult und aktiv sensibilisiert werden, erklärt sie. Und man brauche dazu eben Daten, wie sie in ihren Anamnesebögen abgefragt werden.
Anstatt Datenerhebungen in einem inklusiven Prozess zu diskutieren, führen wir Debatten, die Vorurteile schüren – wie die wissenschaftlich unbelegte Behauptung von Franziska Giffey, bestimmte Communitys würden häufiger an Desinformation über das Impfen glauben als andere.
Erst die Daten des RKI zeigen: Das Problem sind die Sprachbarriere und der sozioökonomische Hintergrund. Daran sieht man einmal mehr: Eine einzige Schicht an Daten ist völlig wertlos. Dafür werden Stereotype und Vorurteile geschürt. Das kann man so machen. Gelöst werden die Probleme so allerdings nicht.
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