Coronademo mit Judenstern: Im Opfergewand
Impfgegner verkleiden sich als verfolgte Juden. Die Deutschen haben zu wenig Bewusstsein für die eigene Täterschaft im Nationalsozialismus.
I st es mit Verschwörungsmythen zu erklären, wenn sich im Land der Schoah Impfgegner gelbe Judensterne anheften? Solche Deutungen umschiffen etwas Wesentliches – weil es dem offiziellen Selbstbild des geläuterten Landes zu sehr widerspricht: Die Deutschen haben wenig Bewusstsein für die eigene Täterschaft im Nationalsozialismus.
Ein furchtbarer Satz, er schreibt sich nicht leicht. Aber es ist an der Zeit zu untersuchen, warum sich eine Minderheit so sicher fühlt, wenn sie Symbole auf die Straße trägt, die mit Bezugnahme auf deutsche Verbrechen eine Opferidentität halluzinieren und reklamieren.
Es war ein Erinnerungsort in Erfurt, der mich angeregt hat, neu über Täterschaft nachzudenken. Wo die Wilhelm-Busch-Straße den Nonnenrain kreuzt, wurden einst die Verbrennungsöfen für Auschwitz konstruiert. In großen Lettern steht heute an der Fassade des einstigen Verwaltungsgebäudes: „Stets gern für Sie beschäftigt …“ Mit dieser Grußformel unterzeichnete die Firma Topf & Söhne ihre Briefe an die Waffen-SS im Lager.
Ein Familienunternehmen; seine Inhaber waren weder fanatische Nazis noch handelten sie unter Zwang. Es war nicht zuletzt die technische Herausforderung, in Auschwitz immer größere Mengen von Leichen zu beseitigen, die den Ehrgeiz der Firmeningenieure anstachelte. Als Arbeitgeber waren die Gebrüder Topf anständig und liberal, beschäftigten sogar Kommunisten und andere Verfolgte. Aber nichts hinderte sie, zum Dienstleister der Endlösung zu werden.
Eine Täterschaft im Gewand bürgerlicher Normalität (übrigens nie geahndet), unideologisch, ohne besondere individuelle Bösartigkeit. Diese mausgraue Täterschaft, verbreiteter als die grelle, ist im Licht der Jahre verblasst, als hätte es sie nie gegeben. Verschwunden aus der eigenen Familie; kaum ein heutiger Deutscher vermag sich dort einen Täter, eine Täterin vorzustellen. Umfragen zeigen auch, wie verbreitet die Ansicht ist, die Masse der Deutschen sei frei von Schuld gewesen, nur eine kleine Riege von „Verbrechern“ habe den Judenmord auf dem Gewissen.
Fast wortgleich hatte es Konrad Adenauer 1951 in einer Bundestagsrede formuliert: Die „überwältigende Mehrheit der Deutschen“ habe die Verbrechen gegen Juden verabscheut und viele hätten keine Gefahr gescheut, ihren jüdischen Mitbürgern zu helfen. Heute glaubt ein Drittel der Deutschen, in der eigenen Familie hätte es solche Helfer gegeben (Historiker sehen deren Anteil bei 0,3 Prozent), und jeder Zweite findet unter seinen Vorfahren Opfer.
Charlotte Wiedemann
hat sich als Auslandsreporterin vor allem mit muslimischen Gesellschaften befasst und schreibt Bücher. Zuletzt erschien „Der lange Abschied von der weißen Dominanz“ bei dtv.
Wenn sich Demonstranten Judensterne und gestreifte Häftlingskleidung anlegen und Anne Frank für sich vereinnahmen, inszenieren sie Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr auf großer Bühne. Das Spektakel spiegelt im Extremen, was als Haltung gegenüber der eigenen Geschichte auf stillere Weise weit verbreitet ist. Die sogenannte rechtsoffene Minderheit nur als Negation der löblichen Gedächtniskultur einer Mehrheit zu sehen ist deshalb zu einfach.
Am Rande einer Kundgebung erklärte mir ein Beteiligter: Sein Großvater sei im KZ umgekommen; gerade deshalb kämpfe er nun gegen die neue Diktatur. Ich war zunächst sprachlos, aber es war der Opferstatus des Großvaters, der diesem Narrativ eine innere Logik verlieh. Das ist furchtbar wirr, aber ist es wirklich so viel wirrer als die Normalität eines weitgehend täterfreien Erinnerns im Land der Schoah?
Wo beginnt Schuld?
Die viel strapazierte Formulierung, bald gebe es keine Zeitzeugen mehr, verengt den Begriff Zeugenschaft gleichfalls auf Opfer, als verliehen nur sie dem Judenmord Authentizität. Wie aufregend wäre es, wenn jemand vor einer Schulklasse erzählte: Warum meine Familie die jüdischen Nachbarn denunzierte. Oder: Warum wir sie im Stich ließen. Oder wenigstens: Warum meine Vorfahren glaubten, nicht helfen zu können. Selbst Dilemmata sind lehrreich, auch für den wachsenden Teil Deutscher, die als Migranten mit der NS-Geschichte nicht biologisch verwandt sind. Wo beginnt Schuld? Was definiert Täterschaft? Nur wer die Würde des Menschen auch um den Preis der eigenen Sicherheit achte, könne sagen: Ich habe mich nicht schuldig gemacht. So klar und hart formulierte es kürzlich die Hamburger Richterin Anne Meier-Göring im Prozess gegen einen früheren Wachmann des KZ Stutthof.
Was koloniale Vergehen betrifft, wird Verantwortung gleichfalls gern ins Diffuse verlagert. Deshalb ist ein Denkmalsturz so provozierend: Er markiert persönliche Täterschaft. Das wird, wie Großbritannien zeigt, nicht nur in Deutschland abgewehrt. Aber spezifisch deutsch ist dies: Die Verleugnung kolonialer Täterschaft begann mit der Selbstprojektion als Opfer. Das war 1918/19, nach dem Verlust der Kolonialgebiete: die Deutschen als verratene Nation. In ihrem Selbstmitleid war kein Platz für etwa eine Million Tote, die das Kaiserreich auf afrikanischem Boden zu verantworten hatte. Die Weigerung, diese Opfer zu sehen und ihnen das Menschsein zuzugestehen, ebnete den Weg zu vielem, was folgte, bis hin zu Topf & Söhne.
Noch einmal Erfurt: Eine Uferstraße an der Gera ist nach dem preußischen Seefahrer Joachim Nettelbeck benannt; beteiligt am Sklavenhandel, später Galionsfigur der Kolonialbewegung, posthum ein nationalsozialistischer Volksheld. Eine Kampagne für Umbenennung will auf das Straßenschild den Namen Gert Schramm setzen: Geboren am Nettelbeckufer, wurde er mit 15 Jahren als schwarzer Deutscher ins nahegelegene KZ Buchenwald verschleppt. In seiner Autobiografie notierte Schramm später, auf welche Haltung er bei seinen Mitmenschen stieß, als er 1945 als ausgezehrter Überlebender wieder in ihre Welt trat: Jeder hatte etwas zu jammern, „und keiner wollte ein Nazi gewesen sein“.
Bei gutem Wetter lässt sich der Weg von Topf & Söhne zum Gert-Schramm-Ufer zu Fuß zurücklegen.
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