Corona-Hotspot Göttingen: „Es gab keine privaten Feiern“
Die Stadt Göttingen machte private Feste zum Fastenbrechen für die Neuinfektionen verantwortlich. Betroffene weisen diese Darstellung zurück.
In der Universitätsstadt haben sich in den vergangenen zwei Wochen mindestens 120 Menschen mit dem Corona-Virus infiziert. Der seit Tagen von der Stadtverwaltung und dem örtlichen Krisenstab verbreiteten und von vielen Medien nacherzählten Geschichte zufolge waren private Feste im Wohnkomplex Iduna-Zentrum am 23. und 24. Mai anlässlich des Fastenbrechens Ausgangspunkt der Ansteckungen. In den kleinen Appartements hätten sich zum Teil bis zu 30 Personen aufgehalten, hieß es.
In einer Göttinger Shisha-Bar, in die mehrere Jugendliche nach den Feiern weitergezogen seien, soll sich das Virus weiter verbreitet haben. Die jungen Leute hätten dort gemeinsam aus einer Wasserpfeife geraucht – ein solches Verhalten sei infektionshygienisch „eine Katastrophe“, hatte Göttingen Sozialdezernentin Petra Broistedt geurteilt.
Ein sogenannter „Patient Null“, in den meisten Medienberichten den „Großfamilien“ zugeordnet, könne das Virus weiter in die Stadt getragen habe, weil er ungeachtet einer Quarantäne-Verfügung mehrfach durch die Göttinger Fußgängerzone spaziert sei. Auf seinen zuletzt täglichen Pressekonferenzen hatte der Krisenstab zudem wissen lassen, dass viele der zunächst rund 170 in Göttingen und Umgebung ermittelten „Kontaktpersonen ersten Grades“ dem Aufruf sich Corona-Tests zu unterziehen, nicht gefolgt seien.
Hetze gegen Bewohner des Iduna-Zentrums
So hätten am Pfingstsamstag 90 Personen eine entsprechende Anordnung erhalten, es seien aber nur 15 erschienen. Seit Freitag werden alle Bewohner des Iduna-Zentrums in einer mobilen Station in der Garage auf das Virus getestet – gemeldet sind dort etwa 600 Personen, die Stadt geht aber davon aus, dass deutlich mehr Menschen dort leben. Bis Freitagabend wurden bei 217 Bewohnern Abstriche genommen.
Bei den unter Verdacht gestellten „Großfamilien“ handelt es sich um miteinander verwandte Roma aus dem Kosovo und anderen Regionen des ehemaligen Jugoslawien. Viele von ihnen flüchteten vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat oder den Schikanen der neuen Regierungen nach Deutschland. Ihr Aufenthaltsstatus ist zum Teil ungesichert, manche Familienmitglieder werden von den Behörden lediglich geduldet.
Infolge der Berichte über ihr vermeintliches Fehlverhalten in der Corona-Krise und den von der Stadt gezogenen Konsequenzen – unter anderem wurden die gerade erst wieder geöffneten Schulen für eine Woche geschlossen – sind die „arabisch-albanischen Clans“ (Bild-Zeitung) Opfer von teils wüster Hetze, die vor allem über die „sozialen Netzwerke“ verbreitet wird. „Asylbetrüger raus!“, ist dabei noch eine der eher zurückhaltenden Parolen. In einem Fernsehbericht bezeichnete eine Frau die Familien in dieser Woche als „kriminell und asozial“.
„Die Anfeindungen meiner Familie bewegen sich im strafrechtlichen Bereich“, schreibt dazu jetzt ein betroffener Vater bei Facebook. In einer mit „Gegendarstellung“ überschriebenen Erklärung betont der Mann, der seinen Namen nicht angibt, dass es anlässlich des Zuckerfestes im Iduna-Zentrum gar keine privaten Feiern gegeben habe. Zusammengekommen seien „mehrere Personen“ lediglich in der nahegelegenen Moschee. Bei dieser vom städtischen Ordnungsamt genehmigten Veranstaltung seien „sämtliche Abstands- und Hygieneregeln eingehalten“ worden.
Verdachtspersonen von Teststationen weggeschickt
Auch sei der „wahrscheinliche Patient Null“ nicht „Bestandteil unserer Familie“, es handele sich vielmehr um einen Bewohner des Iduna-Zentrums mit anderer Nationalität. Das Nicht-Einhalten von Hygiene- und Quarantäneregeln anderer Personen dürfe deshalb „nicht uns angelastet werden“. Zu den weiteren Ansteckungen im Haus, die nicht nur, aber auch Mitglieder der Roma-Familien betreffen, könne es leicht durch Schwebeteilchen in den Fluren und Treppenhäusern des Iduna-Zentrums gekommen sein.
Auch die Berichte über Familienmitglieder, die nicht zu Corona-Tests erschienen seien, sind aus Sicht des Schreibers „nicht nachvollziehbar“: „Tatsache ist, dass mehrere Familienmitglieder von Teststationen weggeschickt wurden, mit dem Hinweis, dass sie symptomfrei seien.“
Ein sich Jojo nennender Mann, der in diesen Tagen als eine Art Pressesprecher der Roma im Iduna-Zentrum fungiert, bestätigt die Angaben am Telefon. „Es gab keine private Feier“, sagt er. „Hundertprozentig nicht“. Die Stadt Göttingen bleibt jedoch bei ihrer Darstellung. Kontaktpersonen hätten Feierlichkeiten mit einer großen Anzahl Menschen bestätigt.
Und die Sache mit der Shisha-Bar? „Auch Fake“, sagt Jojo. „Da ist nichts dran, überhaupt nichts dran“. Der Sohn des Betreibers teilt mit, dass die Bar ihre Terrasse erst am 28. Mai wieder geöffnet hat – unter Einhaltung der Hygieneregeln und mit Genehmigung der Behörden. Die Kontaktformulare, auf denen Gäste ihre Daten hinterlassen müssen, lägen vor. Dezernentin Broistedt, die auch den örtlichen Corona-Krisenstab leitet, räumt inzwischen ein, dass die Vorgänge in dem Lokal noch geprüft würden.
Hinweise an das Gesundheitsamt ignoriert
Auch das Roma-Antidiskriminierungs-Netzwerk hat sich jetzt zu Wort gemeldet – ebenfalls mit der Aussage, dass im Iduna-Zentrum anlässlich des Zuckerfestes gar keine Feierlichkeiten stattgefunden hätten. Als erster Bewohner des Iduna-Zentrums sei ein Mann an Corona erkrankt, der nicht zu den in den Medien beschuldigten „Großfamilien“ gehöre. Dieser habe mehrfach gegen Quarantäne-Auflagen verstoßen.
Andere Bewohner, darunter die nun kriminalisierten Familien, hätten das Gesundheitsamt mehrfach darauf hingewiesen, dass der Infizierte sich nicht an die Quarantäne hielt, die Behörde habe darauf jedoch zunächst nicht reagiert. „Jojo“ zufolge stammt der Mann aus Afrika. „Der wurde dann erst aufgrund unserer Anrufe als ‚Patient Null‘ identifiziert“, sagt er. Dezernentin Broistedt ist nach eigenen Worten nicht bekannt, „dass uns ein Quarantäne-Verstoß gemeldet worden ist, den wir nicht verfolgt haben“.
Später, so das Roma-Netzwerk weiter, sei ein älterer Mann aus dem Familienverbund schwer erkrankt, im Krankenhaus sei bei ihm am 25. Mai eine Ansteckung mit dem Coronavirus festgestellt worden. Zu diesem Zeitpunkt seien symptomfreie Angehörige, die sich in der Klinik ebenfalls testen lassen wollten, weggeschickt oder vor die Alternative gestellt worden, die Tests selbst zu bezahlen.
„Die Stadt hat nicht auf die Beschwerden der Bewohner, dass ein Mann gegen die Quarantäne verstoßen habe, reagiert und schiebt nun ihr eigenes Versagen auf die Bewohnerinnen“, beklagt das Roma-Netzwerk. Zu keinem Zeitpunkt sei versucht worden, zusammen mit den Betroffenen nach Lösungen zu suchen. Dies wäre ein besserer Weg gewesen, statt „einseitig über die Menschen zu sprechen. Es ist schade, dass die Stadt Göttingen nicht einmal ein Familienmitglied zu den täglichen Pressekonferenzen eingeladen hat, um die Sicht der Bewohner darzustellen“.
Gesellschaft für bedrohte Völker warnt vor Antiziganismus
Dem Netzwerk zufolge haben die betroffenen Familien „die Angelegenheit nun in die eigenen Hände genommen“: Sie hätten ihre Wohnsituation so organisiert, dass positiv auf das Virus getestete Personen in einer Wohnung lebten und die Gesunden in einer anderen. Die Gesunden versorgten ihre unter Quarantäne stehenden Angehörigen mit den Dingen des täglichen Bedarfs.
„Die Corona-Krise betrifft uns alle, sie schränkt uns alle ein und wir können alle krank werden“, beschließt das Netzwerk die Erklärung. „Besonders hart treffen das Virus und die Maßnahmen aber jene, die auch schon vorher nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen. Statt sich verantwortungsvoll und solidarisch zu zeigen, wird Hetze geschürt.“
Unterdessen warnt die Gesellschaft für bedrohte Völker vor einem Generalverdacht, dass sich Roma nicht an Corona-Auflagen halten. Es komme darauf an, den Infizierten und den Verdachtsfällen den Ernst der Lage bewusst zu machen – gegebenenfalls in ihrer Muttersprache, sagte die Südosteuropa-Referentin der in Göttingen ansässigen Menschenrechtsorganisation, Jasna Causevic, der „Hessischen-Niedersächsischen Allgemeine“.
Die Betroffenen müssten die Gefahren eines unüberlegten Verhaltens erkennen. Wer in Deutschland lebe, habe Rechte, aber auch Pflichten: „Wir müssen uns alle schützen und offenbar auch manche Menschen vor sich selbst, aber ohne Stigmatisierung und Vorurteile.“
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