Bundeswehrmandat für Afghanistan: Manche haben Pech gehabt
Nach der Machtübernahme in Afghanistan wirft die Opposition der Bundesregierung Versagen vor. Es hätten früher mehr Menschen gerettet werden müssen.
Die Hektik ist groß, aber kommt sehr spät. Für viele Afghan:innen wohl zu spät. Am Mittwoch hat das Bundeskabinett den Mandatsantrag für den seit Montag laufenden Evakuierungseinsatz der Bundeswehr beschlossen. Demnach können bis maximal zum 30. September bis zu 600 Soldat:innen für die Mission eingesetzt werden.
Es handelt sich um ein sogenanntes robustes Mandat, das also auch den Einsatz militärischer Gewalt erlaubt, „insbesondere zum Schutz der zu evakuierenden Personen und eigener Kräfte, sowie im Rahmen der Nothilfe“. Wegen „Gefahr in Verzug“ soll die eigentlich im Vorfeld erforderliche Zustimmung des Bundestags dieses Mal nachträglich eingeholt werden, und zwar am kommenden Mittwoch.
Als Ziel des Einsatzes wird die „militärische Evakuierung deutscher Staatsangehöriger aus Afghanistan“ genannt. „Im Rahmen verfügbarer Kapazitäten soll sich die Evakuierung auch auf Personal der internationalen Gemeinschaft sowie weitere designierte Personen, inklusive besonders schutzbedürftige Repräsentantinnen und Repräsentanten der afghanischen Zivilgesellschaft, erstrecken“, heißt es in dem Beschluss weiter.
Zu diesen „weiteren designierten Personen“ zählt die Bundesregierung neben Ortskräften, die direkt bei deutschen Institutionen beschäftigt waren, und ihren Familien auch Mitarbeiter:innen von NGOs, der Entwicklungshilfe sowie Menschenrechtsaktivist:innen und Frauenrechtler:innen samt Angehörigen. Nicht einbezogen in den Kreis sind hingegen afghanische Helfer:innen, die über Subunternehmen für deutsche Stellen gearbeitet haben. Sie würden „nicht unter dieses Verfahren fallen“, sagte der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Marek Wede, am Mittwoch in der Bundespressekonferenz. Sie haben also Pech gehabt.
Das Nadelöhr sind die Taliban
Aber auch für den Kreis der Auserkorenen wird es mehr als eng. Das riesige Problem: Der Großteil der Menschen, die die Bundesregierung evakuieren will, befindet sich nicht auf dem Kabuler Flughafen, sondern im Stadtgebiet von Kabul – oder sogar außerhalb. „Es ist so, dass wir nur in Kabul die Möglichkeit haben, Menschen auszufliegen, und auch dort nur, wenn sie es zum Flughafen schaffen“, sagte Außenamtssprecher Burger.
Wer es also nicht alleine mehr nach Kabul geschafft hat, hat ohnehin keine Chance. Und für die anderen sieht es nur unwesentlich besser aus, wenn sie nicht bereits am Flughafen sind. Denn die Taliban haben einen Ring aus Sicherheitsposten um den Flughafen gelegt und lassen nur Leute mit internationalen Pässen durch. Es sei durchaus möglich, dass es vielen gar nicht erst gelinge, bis zur deutschen Sammelstelle am Flughafen „überhaupt zu gelangen“, musste Burger einräumen.
So wird es in der Realität nur ein Bruchteil schutzbedürftiger Afghan:innen in die Bundeswehrflieger schaffen. Wenn Bundesländer nun Aufnahmeprogramme verkünden, wie etwa Nordrhein-Westfalen unter Armin Laschet, mit der Ankündigung, dass 1.000 zusätzliche Plätze für engagierte Frauen aus Afghanistan bereitgestellt werden sollen – dann muss man immer im Blick haben: Das Nadelöhr sind die Taliban. Der deutsche Botschafter in Kabul, Markus Potzel, ist zwar nun in die katarische Hauptstadt Doha gereist, um mit ihnen über Ausreisemöglichkeiten zu verhandeln. Doch die Aussichten sind mehr als ungewiss.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU), sprach von einem „Drama“ und einer „Katastrophe“. Die derzeitigen Rettungsaktionen vom Kabuler Flughafen könnten nur stattfinden, „weil die Taliban es noch dulden – und nur sofern die Taliban es dulden“, sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete am Rande einer Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses am Mittwoch. Er erkenne auch nicht, was in Gesprächen mit den Taliban „das Druckinstrument des Westens“ sein könnte.
„Es ist eine Schande“
Ähnlich äußerte sich der außenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Omid Nouripour. „Jede Verhandlung mit den Taliban ist jetzt in einer Situation, in der die Taliban das Sagen haben“, sagte er. Ohne einen hohen Preis würden die Taliban niemanden mehr aus der afghanischen Bevölkerung in den Kabuler Flughafen hineinlassen. Nouripour warf der Bundesregierung ein „Komplettversagen“ vor. „Das wäre alles vermeidbar gewesen, wenn die Bundesregierung rechtzeitig gehandelt hätte“, empörte er sich.
„Merkel und Maas haben zwar angekündigt, den zu rettenden Personenkreis auszuweiten“, sagte der Europaabgeordnete Erik Marquardt der taz. „Aber es gibt einen riesigen Gap zwischen der Ankündigung und der Realität.“ Er bekomme viele Nachrichten von NGO-Mitarbeiter:innen und anderen, die in Kabul festsäßen und nicht weiterwüssten. „Das Auswärtige Amt antwortet nicht auf Mails, die Leute werden von einer Telefonnummer zur anderen verwiesen.“
Statt Pragmatismus herrsche deutsche Beamtenmentalität, kritisiert Marquardt. „Die Rettungsaktion muss unbürokratisch laufen.“ Die Bundeswehr müsse mehrere hundert Leute, die in Kabul durch die Taliban-Posten kämen, zum Flughafen ordern. Dort könnten jene versorgt und dann peu a peu ausgeflogen werden.
Es brauche einen Puffer, so Marquardt, damit die Flugzeuge immer voll seien. „Im Zweifel müssen schutzsuchende AfghanInnen mitgenommen werden, die schon am Flughafen ausharren. Kein Platz darf leer bleiben.“ Am Montagabend war eine A400M mit nur sieben Evakuierten an Bord aus Kabul abgeflogen.
„Es ist eine Schande, dass nach wochenlanger Untätigkeit und Blockade jetzt Tausende Helferinnen und Helfer in dem von den Taliban kontrollierten Afghanistan im Stich gelassen werden und um ihr Leben bangen müssen“, kritisierte Sevim Dağdelen, Obfrau der Linksfraktion im Auswärtigen Ausschuss.
Bis Mittwochmittag hatte die Bundeswehr 450 Menschen ausgeflogen: 189 Deutsche, 59 Angehörige von anderen EU-Staaten und 51 Angehörige anderer Staaten. Platz gefunden haben zudem 202 Afghan:innen, neben Familienangehörigen von Deutschen auch einige Ortskräfte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Twitter-Ersatz Bluesky
Toxic Positivity