Bundestagswahl und Angela Merkel: Ab in die Mitte
Wer die Bundestagswahl gewinnen will, muss jene WählerInnen überzeugen, die beim letzten Mal Angela Merkel wählten. Eine Reise quer durch die Republik.
Inhaltsverzeichnis
D iese Geschichte sollten Olaf Scholz, Armin Laschet und Annalena Baerbock sehr genau lesen. Wer dem Geheimnis auf die Spur kommen will, wie man Kanzler oder Kanzlerin in Deutschland wird, muss vor allem eines tun: mit Menschen sprechen, die Angela Merkel gewählt haben.
Was machte Merkel richtig? Warum war sie so beliebt?
Maria Anna Deters, die früher als Chefärztin in einer Klinik für psychosomatische Medizin arbeitete, sagt, ihr habe imponiert, wie sich Merkel als Frau in einer Männerwelt geschlagen habe. „Wie sie präsent war, ohne sich in den Vordergrund spielen zu müssen.“
Der Gärtner Johannes Haag, der Innenhöfe von Berliner Gründerzeithäusern begrünt, sagt: „Angela Merkel ist uneitel, integer und klar.“ Er habe nicht jeden Punkt ihrer Politik richtig gefunden. „Aber ich habe ihr voll vertraut.“
Franz Sommerfeld, der ehemalige Chefredakteur des Kölner Stadtanzeigers, hat Merkel persönlich kennengelernt und sie nach der rot-grünen Regierung 2005 gewählt – und danach wieder. “Ich erwartete, dass sie nach dem Hauruck-Stil Gerhard Schröders einen anderen Ton in die Politik bringt.“
Für den Jurastudenten Lorenz Waizenegger, der in einer Dreier-WG in Augsburg lebt, war Merkels Satz „Wir schaffen das“ entscheidend: „Es ist die logische und zugleich menschlichste Antwort, die Angela Merkel hätte geben können.“
Und die promovierte Volkswirtschaftlerin Ute Volz, die sich als FAZ-Leserin beschreibt und im Kirchenchor singt, sagt: „Bei ihr habe ich das Gefühl, dass die Sache wichtiger ist als ihre Person. Das finde ich gut.“
Was kommt nach: „Sie kennen mich“?
Angela Merkel, das ist Deutschland in seiner ganzen Ambivalenz. Die Frau, die in der DDR aufwuchs und die westdeutsche Männerpartei CDU umkrempelte, war der kleinste Nenner, auf den sich viele verständigen konnten.
Merkel war beliebt bei jungen Frauen und älteren Herren, bei GroßstädterInnen und Provinzfans. Der 25-jährige Jurastudent Waizenegger kann sich kaum an ihren Vorgänger erinnern. Vor der Wahl 2013 hängte die CDU ein 70 Meter breites Großplakat an den Berliner Hauptbahnhof. Es war eine Collage aus über 2.000 kleinen Bildern und zeigte nur Merkels Hände – zur legendären Raute geformt. „Sie kennen mich.“
Vorbei, the times, they are a-changing. Eine Ära endet, was folgt danach?
Wird wirklich Olaf Scholz Kanzler?
Oder schafft Armin Laschet einen Schlussspurt, den ihm selbst in der CDU viele nicht zutrauen?
Seit Monaten kursiert im politischen Berlin dazu eine These, die schlüssig klingt. Man hört sie von SozialdemokratInnen, von Grünen, aber inzwischen auch von vielen recht verzweifelten ChristdemokratInnen. Die These lautet: Wer die Merkel-WählerInnen gewinnt, gewinnt die Wahl. Es gibt, heißt das, eine aufgeklärte, bürgerliche Mitte, die zur CDU neigt oder auch nicht, die Merkel gut fand, jetzt aber absprungbereit ist. Und Wahlen werden in Deutschland nun mal in der Mitte gewonnen.
Wie ticken Merkel-WählerInnen?
Der Verlauf des Wahlkampfs stützt die These. Erst liebäugelte die Mitte mit den Grünen, jetzt tendiert sie zu Scholz und der SPD. Aber nichts ist sicher. 38 Prozent der WählerInnen haben sich einer aktuellen ZDF-Umfrage zufolge noch nicht entschieden, ob und wen sie wählen. Der Anteil ist so hoch wie in den vergangenen 20 Jahren nicht.
Die Mitte, die Merkel zähmte, ist ein scheues Reh. Und sie entscheidet sich spät, wen sie wählt.
Wie ticken Merkel-WählerInnen? Wir haben in den vergangenen Wochen fünf Menschen getroffen, die aus unterschiedlichsten Gründen Merkel wählten, aber heute mit Laschets CDU fremdeln – und sich neu orientieren. Sie überlegen Scholz zu wählen oder Annalena Baerbock oder Christian Lindners FDP. Manche schwanken noch. Wir sind nach Regesbostel in Niedersachsen gefahren, nach Bad Vilbel in Hessen und nach Augsburg in Bayern, um lange Gespräche über Politik zu führen. Warum vertraut man einer Politikerin? Wie muss eine Kanzlerin sein, oder ein Kanzler? Welche Themen sind wichtig?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Herausgekommen ist eine kleine Milieustudie, die vielleicht erklärt, warum Armin Laschet die Wahl verlieren könnte, warum der CDU in der Post-Merkel-Ära ein historischer Absturz droht.
Regesbostel
„Ich habe zweimal Frau Merkel gewählt, 2013 und 2017“, sagt Maria Anna Deters. „Frau Merkel, nicht die CDU. Die habe ich bloß in Kauf genommen.“ Eigentlich gebe sie eher der SPD oder den Grünen ihre Stimme.
Deters, 67, sitzt an einem Holztisch in ihrem Garten in Regesbostel, einem Dorf in Niedersachsen, eine knappe Autostunde von Hamburg entfernt. Fast 40 Jahre lang hat sie in der Hansestadt gelebt, 2012 entschieden sie und ihr Mann sich für das Landleben. Noch wärmt die Spätsommersonne die Luft, zum selbst gebackenen Apfelcrumble gibt es Schlagsahne.
„Sie kommt mir zielstrebig vor, auf so eine leise Weise. Das finde ich sympathisch.“ Deters, 67, ist eine schmale Frau mit klarem Blick und freundlichem Lächeln, die ihre Worte sehr genau wägt. Das hat wohl mit ihrem Beruf zu tun. Sie ist Psychotherapeutin und Psychiaterin, bis 2017 hat sie als Chefärztin in einer Klinik gearbeitet. Jetzt ist sie im Ruhestand.
Auch die Art, wie die Kanzlerin mit Krisen umgegangen sei, habe ihr gefallen, erzählt Deters. Dass sie versucht habe auszugleichen, Spaltungen nicht voranzutreiben, Kontakte nicht abreißen zu lassen. „Das hat Ähnlichkeiten mit meinem Beruf.“
In der Tat lief Merkel erst in Krisen zur Hochform auf. Finanzkrise, Schuldenkrise in der EU, die Flüchtlinge, dann Corona: Merkels Management vermittelte vielen BürgerInnen ein Gefühl der Sicherheit. Manchmal wirkte Deutschland wie eine Insel der Glückseligen, um die herum das Chaos tobte.
Annalena Baerbock? „Zu verbissen“
Ohnehin gebe es einige Parallelen zwischen ihr und der Kanzlerin, aber das solle jetzt nicht größenwahnsinnig klingen, sagt Deters und lacht. Beide Frauen sind Jahrgang ’54, beide im Juli geboren, beide haben keine leiblichen Kinder. Als Frau Karriere zu machen, dabeizubleiben und durchzuhalten, das habe eben seinen Preis.
Dieses Mal würde Deters nicht mehr CDU wählen, selbst wenn Merkel noch einmal anträte. Der Grund ist ihre Politik zur Bekämpfung der Coronapandemie. Sozialpädagogen, Lehrer, Kinderärzte und Psychologen hätten „zu wenig Gehör bekommen“, findet Deters. Merkel habe nach ihrem Eindruck zu sehr auf die Virologen gehört. Die Sonne scheint Deters ins Gesicht, sie rückt mit dem Stuhl etwas zurück.
Ein weiterer Punkt, weshalb die ehemalige Chefärztin dieses Mal anders wählen will: „Die Klimapolitik, die liegen geblieben ist.“ Dass da endlich mehr geschehen müsse, da habe Annalena Baerbock ja recht. Also jetzt die Grünen? Deters zögert, von der grünen Spitzenkandidatin ist sie nicht überzeugt. „Sie ist mir zu jung, zu unerfahren und zu hartnäckig, verbissen hört sich ja so negativ an.“
Sie schaue sich, geprägt vom Beruf, stets Gesichter gut an. Baerbocks Lippen seien häufig schmal, die Kiefer angespannt, sagt Deters und streicht sich mit den Händen über die Wangen, „die seitliche Muskulatur hier“. Allerdings habe die Grüne zuletzt etwas entspannter gewirkt. Auch dass Baerbocks Kinder noch so klein seien, gefällt Deters nicht. Vor allem aber sei ihr die Grüne schlicht zu unerfahren. „Auf der internationalen Bühne, bei Putin, in den USA oder China, da kann ich mir sie noch nicht vorstellen. Da fehlt noch was.“
Scholz? „Mein Vater war genauso“
Und Baerbocks Kontrahenten? Laschet, sagt Deters, habe ein freundliches Gesicht, lache gern, aber wirke manchmal zu nervös. „Zappelig ist zu negativ, sagen wir: Da ist zu viel Körperbewegung.“ Das strahle Unsicherheit aus.
Olaf Scholz sei „sehr sparsam“ in der Ausstrahlung, sagt Deters. „Ich habe mich schon gefragt, was der wohl in seiner Kindheit erlebt hat, dass er so wenig Lebendigkeit zeigen darf.“ Aber der SPD-Kandidat habe mit Britta Ernst eine sympathische Frau, so falsch könne das also nicht sein. „Ich kann damit gut leben, mein Vater war genauso.“
Neben Deters Kuchenteller liegt ein Spiralblock mit seitenweise Notizen. Sie hat sich auf das Gespräch vorbereitet. Mindestlohn erhöhen, den Soli lassen, Steuererhöhungen für die richtig Reichen, das alles findet sie gut. „Soziale Gerechtigkeit und Klima, das ist mir wichtig.“ Zuerst aber würde sie ein Tempolimit auf Autobahnen einführen.
Die Ambivalenz, die Deters spürt, ist verbreitet. Merkel hinterlässt eine Lücke – und die bürgerliche Mitte ist auf der Suche, wer sie füllen könnte. Die Umfragen gehen hoch und runter. Als die Grünen Mitte April Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin nominierten, schossen sie in der WählerInnengunst nach oben – auf bis zu 28 Prozent. Wenige Wochen später, nach Debatten über Baerbocks Nebeneinkünfte, den Lebenslauf und das Buch, rutschten sie ab.
Johannes Haag, Gärtner aus Berlin
Ähnlich rasant ging es bei den anderen zu. Die Union mit Armin Laschet lag Mitte Juli bei 31,5 Prozent, aktuell sind es nur noch 21. Das ist ein Debakel. Olaf Scholz, den im Juli noch keiner auf dem Zettel hatte, profitiert von der Talfahrt der beiden anderen.
Berlin
„Als ich Merkel 2009 zum ersten Mal gewählt habe, war das ein Bruch mit meinem Umfeld“, sagt Johannes Haag, und lacht. „Meine Frau sagte: ‚Was? Das ist ein Scheidungsgrund!‘ “ Auch in seinem eher grünen Freundeskreis sei seine Entscheidung schlecht angekommen. „Aber mit der Zeit änderte sich das. Gerade die Frauen fingen bald an, anders zu denken.“
Johannes Haag, 65, grünes Poloshirt unter dunkelgrüner Filzjacke, stützt in dem Café in Berlin-Charlottenburg die Hand aufs Knie. Man sieht ihm an, dass er viel draußen ist. Sein Gesicht ist sonnengebräunt, er hat Lachfältchen in den Augenwinkeln. Als selbstständiger Gärtner kümmert er sich um Innenhöfe, Privatgärten und einen 100 Jahre alten Garten des Diakonievereins Zehlendorf.
In der Hauptsaison arbeitet er sechs Stunden am Tag, erzählt er. Solange der Rücken mitmache, ginge das. Für schwere Arbeiten, die er nicht mehr schafft, bezahlt er Aushilfen. Freunde seines Sohns, die für 12 Euro die Stunde die Hecke schneiden oder den Rasen mähen. „Lärm, Benzingeruch, das finden die jungen Leute ja toll“, sagt Haag. „Ich arbeite dann daneben im Beet.“ Jetzt, da die Tage kürzer und kühler werden, wird es ruhiger in seinem Job.
Auch er fand Merkels Entscheidung zur Flüchtlingspolitik klasse. „Sie zeigte 2015 emotionale Intelligenz, als sie die Grenzen offen ließ.“ Die erste Willkommenseuphorie sei naiv gewesen, die Integration so vieler Menschen harte Arbeit. Aber vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte sei Merkels Entscheidung gut gewesen. „Einfach zu sagen: Wir helfen jetzt, fertig. Das waren wir der Menschheit schuldig.“
Obwohl er Merkel mehrmals wählte, ist Haag kein CDU-Stammwähler. „Ich finde Eigenverantwortung wichtig, da habe ich Schnittmengen mit der FDP.“ Haag war für die Agenda 2010, er findet einen zu hohen Mindestlohn falsch, und er ist privat krankenversichert. „Ich finde es gut, selbst für meine Gesundheit verantwortlich zu sein.“ Er sei nicht für wilden Kapitalismus, aber für Eigenverantwortung, sagt er.
Harmonie zwischen Wirtschaft und Politik
Deshalb tendiere er zur FDP. Haag lacht wieder und pickt ein paar Krümel vom Teller. „Dieses Plakat, auf dem Christian Lindner nachts Akten wegarbeitet, das beeindruckt mich. Die Aktenwühlmaus.“ Man wüsste jetzt gern, was Christian Lindner von dieser Interpretation hält.
Bei seiner Arbeit bekommt der Gärtner den Klimawandel hautnah zu spüren. Die Wachstumsphasen der Pflanzen veränderten sich. „Ich pflege die Gärten inzwischen bis kurz vor Weihnachten“, sagt er. „Vor ein paar Jahren endete die Saison früher.“ Im Winter ist es ruhiger, bevor es im März wieder losgeht.
Die Knospen brechen auf, alles wird grün – dann will ihn jeder Kunde im Garten haben. Haag fährt dann die „Zwiebeltaktik“. Überall ein paar Arbeiten erledigen, „damit alle Kunden mich einmal sehen.“ Haag ist für Klimaschutz, aber ihm wäre lieb, wenn die Wirtschaft mitgenommen würde. „Es braucht sicher strenge Vorgaben“, sagt er. Und: „Am besten fände ich ein harmonisches Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft.“
Eine Koalition, in der FDP und Grüne zusammenarbeiten, würde dazu gut passen. „Den Linken und der SPD traue ich nicht“, sagt er. „Eine rot-rot-grüne Regierung fände ich problematisch.“ Dann muss Haag los, heute wird er nur noch Büroarbeit erledigen.
Südfrankreich
Auch Franz Sommerfeld, 72, überlegt hin und her. Bei einem ersten Telefonat im August tendiert er zu Baerbock und den Grünen. Weil die Partei die Menschheitsfrage, wie die Umwelt zu schützen sei, in die Politik getragen habe. Weil Baerbock und Habeck mit der Partei die Breite der Gesellschaft adressierten. Und wegen des Tempolimits: „Ich fahre gerne schnell, was in meinem Alter nicht ohne Risiko ist.“ Sommerfeld lacht heiser. „Ein Tempolimit wäre ein willkommener Zwang, mich im Auto etwas klüger zu verhalten.“
Sommerfeld, Brille, braun gebrannt, Glatze, hat weiße Stecker in den Ohren und sitzt in seiner Ferienwohnung im Languedoc in Südfrankreich. Das Gespräch mit der taz führt er per Videoschalte.
Sommerfeld hat beruflich viel erlebt – und Merkel persönlich kennengelernt: Als Student in den 70ern war er in der DKP und im Spartakus-Bund. Später arbeitete er als Reporter für die Berliner Zeitung, als Chefredakteur der Mitteldeutschen Zeitung und des Kölner Stadt-Anzeigers. 2014 ging er in den Ruhestand.
Man tritt Sommerfeld nicht zu nahe, wenn man sagt, dass er nach wie vor ein Politik-Junkie ist – regelmäßig postet er lange Analysen auf Facebook. An Merkel habe ihm gefallen, dass sie keine Machoattitüden habe – wie Schröder oder Helmut Schmidt, sagt er. Ob beim Atomausstieg, dem Mindestlohn oder der Ehe für alle: Eine ihrer Fähigkeiten sei, gesellschaftliche Bewegungen zu erkennen und sie zu nutzen, um ihre Vorstellungen durch zu setzen.
Wenn man länger mit Sommerfeld spricht, merkt man, dass er ein Herz für den Liberalismus hat. Er fand Schröders Agenda 2010 gut, weil sie auf Eigenverantwortung setzte. Aber er leidet auch daran, dass Christian Lindner die FDP „zur Blockpartei macht, indem er sie an die CDU kettet.“ Sommerfeld sagt: „Merkel hat ein Grundmuster liberaler Vorstellungen. Das schätze ich sehr.“ Unter ihr sei die CDU zu einer moderneren, nach wie vor christlich orientierten Partei geworden, eine Ausrichtung, die am ehesten Substanz habe.
Die ökologische Frage treibt alle um
Ob es bei diesem Kurs bleibt, ist eine offene Frage. Laschet wirkt getrieben, Merz und Söder sitzen ihm im Nacken. Er versucht den rechten Flügel bei Laune zu halten, etwa indem er sich nicht klar von dem Rechtsausleger Hans-Georg Maaßen distanziert.
Sommerfeld sieht allerdings auch Merkels Schwächen. So habe sie zum Beispiel in der Sozialpolitik zu wenig nachjustiert, obwohl dies nach der Agenda 2010 nötig gewesen sei. Merkel, die sich 2007 im roten Anorak vor einem grönländischen Gletscher fotografieren ließ, habe auch in der Klimaschutzpolitik zu wenig getan. „Sie hat sich – zumindest zeitweise – als Klimakanzlerin inszeniert, ist diesem Anspruch aber nicht gerecht geworden.“
Überhaupt, die ökologische Frage, sie treibt Sommerfeld um – und er räumt ein, in einem Spannungsverhältnis zu argumentieren. Ihm gehen Grüne und von Grünen inspirierte AutorInnen auf den Wecker, die ihm vorschreiben und verordnen wollen, wie er zu leben habe. „Aber der liberale Ansatz, dass der Markt es über Innovationen regeln wird, greift auch zu kurz.“ Ein Mittelweg, sagt er, der wäre gut.
Aber versucht Annalena Baerbock nicht genau das, eine Balance aus Ordnungsrecht, auch Verboten, und Preispolitik? „Das stimmt“, antwortet er. Ein paar Sekunden Schweigen. „An Baerbock stört mich, dass sie Ihre Politik zu wenig aus eigenen Analysen ableitet. Ihre Statements wirken vorgegeben, oft gestanzt.“ Und wie sie ihr Buch zusammenkopiert habe, sei inakzeptabel. Aber er wollte sie trotzdem wählen.
Haag, Sommerfeld und Deters sind WählerInnen, die genau beobachten, sorgfältig abwägen und Schnittmengen mit mehreren Parteien haben. Zwar entscheidet der Gärtner nach anderen Kriterien als die Psychotherapeutin und der ehemalige Chefredakteur, aber keiner von ihnen macht es sich leicht. Wie lässt sich die Gruppe der ehemaligen Merkel-WählerInnen definieren, die ja aus sehr unterschiedlichen Individuen besteht?
Der Meinungsforscher
Anruf bei Matthias Jung, Chef der Forschungsgruppe Wahlen. Jung gilt in Berlin als Legende. Auch deshalb, weil er das Konzept der „asymmetrischen Demobilisierung“ erfand, mit dem Merkel mehrere Wahlen gewann. Positioniere dich in der politischen Mitte, so die Idee – und vermeide alles, was dem Gegner Angriffsfläche bietet. Dann bleiben dessen WählerInnen zu Hause auf dem Sofa sitzen. Das Prinzip schadet der Demokratie, weil es den Diskurs einschläfert. Aber Merkel war damit sehr erfolgreich.
Wenn also einer ihre WählerInnen kennt, dann Matthias Jung. „Die Gruppe lässt sich schwer greifen. Sie stammen aus unterschiedlichen Milieus, die Übergänge sind fließend, nichts ist statisch.“ Dazu gehörten zum Beispiel ältere Frauen, die bei ihren Töchtern und Enkelinnen mitbekämen, wie schwer es sei, Beruf und Familie zu vereinbaren. Oder mittelalte, aufgeschlossene Berufstätige mit kleinem Eigentum. Oder modern denkende Männer.
Jungs Fazit: „Entscheidend war Merkels Bereitschaft, die festgefahrene CDU-Programmatik so zu modifizieren, dass es für ein modernes Publikum in den Bereich des Denkbaren rückte, die CDU zu wählen.“
Der Faktor Zeit ist ein wichtiger Punkt: Merkel war über eineinhalb Jahrzehnte ganz oben, das Vertrauen in sie wuchs mit den Jahren. Weiß noch jemand, wie über „Kohls Mädchen“ gespottet wurde, über die mit der seltsamen Frisur? Wenn Laschet so lange Kanzler wäre, würden die Menschen wohl auch anders auf ihn blicken.
Bad Vilbel
Ute Volz schleppt den kleinen, runden Glastisch und zwei Stühle in den Halbschatten in der Nähe eines Quittenbaums, der voller Früchte hängt. Sie habe den Baum als Kind selbst gepflanzt, erzählt sie. Heute ist Volz, eine große Frau mit rotblondem Pferdeschwanz und Sommersprossen, 42 Jahre alt und promovierte Volkswirtschaftlerin. Nach dem Tod ihres Vaters ist sie zurück in ihr Elternhaus gezogen, in Bad Vilbel, einer Kleinstadt, zehn Kilometer nördlich von Frankfurt am Main.
Volz’ Familie war konservativ und christlich geprägt, der Vater saß für die CDU im Stadtparlament, sie ist mit der Kirche aufgewachsen, heute singt sie dort im Chor und sitzt im Kirchenvorstand. Sei sei eher FAZ- als taz-Leserin, sagt sie. Das alles aber sei noch kein Grund gewesen, ihre Stimme der CDU zu geben. Sie habe in der Vergangenheit „das ganze Spektrum gewählt“, nur die Ränder nicht, damit meint sie AfD und Linkspartei.
Und der Spitzenkandidat müsse stimmen, der habe ja schließlich das Heft in der Hand. „Merkel mag ich einfach“, sagt sie. „Sie ist so sympathisch langweilig.“ Merkel sei anders als die, die „auf dicke Hose machen“, sei unaufgeblasen und intelligent.
Kompetenz und Aufrichtigkeit, das merkt man schnell, hält die Hessin für wichtig, Humor für hilfreich, Willensstärke für notwendig, aber die darf nicht zu Beratungsresistenz führen. Markus Söder, den breitbeinig auftretenden CSU-Chef, würde sie „sicher nicht“ wählen. „Ich möchte jemanden, der für die Sache steht und nicht für sich, der dreht doch sein Fähnchen im Wind.“
Was ihr an Merkel politisch gefällt? „Ich weiß, dass ich ihre Flüchtlingspolitik gut fand“, sagt Volz. „Wenn Leute in Not sind, soll man ihnen helfen.“ Aber das sei eben auch zweischneidig. Als Ökonomin wisse sie auch, dass ein Signal wie 2015 die Wirkung habe, „dass viele Leute zu uns kommen wollen und sich noch mehr auf den Weg machen“.
Laschet? „Wirkt unbeholfen“
Dass mit Merkel eine Frau ins Kanzleramt eingezogen ist, gefällt ihr, aber ein entscheidender Faktor sei es nicht gewesen. „Mit dem ganzen Es-soll-eineFrau-sein, es soll gegendert werden, damit hab ich eher Probleme.“ Und dass die CDU unter Merkel moderner geworden ist, sich geöffnet hat, hat das eine Rolle gespielt? „Ich glaube ja.“ Konkreter wird sie nicht.
Jetzt jedenfalls hat sie Bedenken, die CDU noch mal noch zu wählen, diese sei „einfach zu lange dran, zu satt“. In der Lokalpolitik hat sie beobachtet, dass dies zu Arroganz führe und zu Respektlosigkeit. „Und Laschet? Ich weiß es nicht.“ Volz seufzt. „Er wirkt auch langweilig, aber in eine andere Richtung als Merkel. Er wirkt unbeholfen.“
Christian Lindner kann Ute Volz nicht leiden. Robert Habeck schon. Enttäuscht war sie, dass die Grünen Annalena Baerbock als Kanzlerkandidation nominiert haben. „Ich würde ihm unterstellen, dass er etwas mehr nachdenkt als Baerbock, bevor er spricht.“
Augsburg
Auffällig ist, dass sich vor allem ältere Menschen dazu bereit erklären, mit der taz über Merkel und ihre Wahlpräferenz zu sprechen. Die unter 30-Jährigen wählen lieber Grün als CDU oder SPD, das könnte ein Grund sein. Der jüngste ist Lorenz Waizenegger, 25, Lockentolle und leicht verschlafener Blick, dazu ein ausgewaschenes blaues Hemd, Chinos und Badelatschen.
Der Jurastudent lebt in einer Dreier-WG in Augsburg, zwei schicke Rennräder, die er aufgemöbelt hat, stehen auf der Dachterasse. Er stammt aus einem Dorf in der Nähe von Ravensburg in Baden-Württemberg, dort hat er vor vier Jahren gewählt. Zum ersten Mal machte er sein Kreuz bei einer Bundestagswahl – bei Merkels CDU.
„Ausschlaggebend war ihr Satz von 2015: ‚Wir schaffen das‘ “, sagt Waizenegger. Seine Eltern hätten sich früh für Geflüchtete aus Syrien engagiert, immer wieder seien junge Syrer bei ihnen zu Hause gewesen. Er habe sich die Frage gestellt, wie es wohl sei, wenn man fliehen müsse – und wie er dann gern aufgenommen werden würde.
Waizenegger sitzt auf der Dachterrasse, zu der er das Flachdach vor seinem Zimmer ausgebaut hat. Auf dem Tisch hat er einen Teller mit Obst und Butterkekse gestellt. Er schüttet Kaffee ein und erzählt von seiner Familie, die „sehr verbunden“ mit der CDU in Baden-Württemberg sei. Das hätte ihm auch zu zwei Praktika verholfen: erst im Stuttgarter Wirtschaftsministerium, dann im Bereich Wirtschaft und Umwelt bei der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Berlin. Da sei ihm klar geworden, wie kompliziert es sei, Veränderungen umzusetzen.
Zu Hause habe er mitbekommen, dass die CDU und ihre wirtschaftsnahe Politik für den Wohlstand in Deutschland gesorgt hätten. Mit 16 hat er in Ravensburg die Schülerunion mitgegründet, dann trat er in die Junge Union ein. „Da gab es ein Projekt, dass auch um zwei Uhr nachts noch Busse in mein Dorf fahren sollen.“ Viele Freunde seien in der Jungen Union gewesen, Ravensburg sei vielerorts einfach „tiefschwarz“. „Das war eine gute Zeit, aber ich bin eigentlich viel linker, als es die CDU erlaubt.“
Hätte es Angela Merkel nicht geben, er hätte schon 2017 für die Grünen gestimmt, sagt Waizenegger. „Die Grünen sind einfach die Partei, die seit 40 Jahren auf Umweltschutz und Klimaschutz hinweist. „Deshalb werde er dieses Mal für Annalena Baerbock votieren. Wobei er dabei die grüne Spitzenkandidatin eher in Kauf nimmt. „Sie ist von den drei Kandidaten das beste Übel, deshalb wäre es gut, wenn sie Kanzlerin wird.“ Robert Habeck aber wäre der überzeugendere Kandidat gewesen.
Reibung in der Ampel
Die CDU stehe, wie Armin Laschet stets betone, für Stabilität und Sicherheit, für Waizenegger „genau der falsche Weg“. Auch Laschet als Politikertyp sei „überholt“. Söder aber sei nicht besser gewesen. Ihm habe Norbert Röttgen gefallen. Der war bei der Wahl um den Parteichef der CDU gegen Laschet und Friedrich Merz angetreten und hatte auf Modernisierung gesetzt.
Auch von Olaf Scholz hält der Student nicht viel, „windig“ komme ihm dessen Verhalten mit Blick auf Wirecard und seine Treffen mit Bankern vor, an die er sich nicht mehr erinnere. Was ihn am meisten störe, sei, dass Scholz sich als Merkel in männlich inszeniere. „Wir brauchen einen Umschwung“, sagt Waizenegger. „Und keinen Kanzler, der seine Vorgängerin imitiert, um deren Wähler abzugreifen.“
Gut fände er, wenn die FDP sich einer Ampelkoalition anschließen würde. Durch ihre Wirtschaftspolitik würden sie ein Gegenpol zu vielen Ansichten der Grünen bilden, was zu Reibung führen und Positives bewirken könne. Das liegt auch daran, dass Waizenegger jüngst selbst in die Wirtschaft gegangen ist.
Er ist Geschäftsführer einer kleinen Firma, die für die Band seines Bruders, die Indie-Pop-Band Provinz, Merchandising organisiert. T-Shirts und Hoodies sollen dabei möglichst fair produziert werden. Dabei hat Waizenegger eine Tasche entwickelt, die als Versandmaterial und im Alltag als Stofftasche funktionieren soll, damit will er den Versandmüll reduzieren. Diese Tasche will er auf den Markt bringen. Trotz des ersten Staatsexamens, an dem er gerade arbeitet.
Der junge Mann, der sich als Erstwähler vor vier Jahren für Merkel entschied, wird also dieses Mal den Grünen seine Stimme geben.
Und wen wählen die anderen?
„Olaf Scholz.“ Franz Sommerfeld lehnt sich in seiner französischen Ferienwohnung auf der Couch zurück. Er geht davon aus, dass Scholz beim Skandal um die Warburg-Bank den Bundestag belogen habe – aber es gelte die Unschuldsvermutung. „Ich wähle die SPD allein aus taktischen Gründen. Einer von Scholz geführten Ampel-Koalition traue ich eher die Einleitung ökologischer Reformen zu als einer von Laschet geführten und Friedrich Merz geprägten Jamaika-Regierung.“ Scholz reagiere „schnell, behält die Übersicht und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.“
Es sei gut, dass Scholz „Respekt“ zu einem Leitmotiv seiner Kampagne gemacht habe. „Für die Verlierer der Digitalisierung und der ökologischen Wende muss es Wertschätzung geben, politische Angebote und soziale Perspektiven“, sagt Sommerfeld.
Maria Anna Deters wickelt sich in ihrem Garten in Regesbostel in ihre blaue Strickjacke. Die Sonne steht inzwischen tief. Wenn Scholz am Wahltag in den Umfragen klar vorne liege und der Abstand zu Laschet sicher sei, dann werde sie den Grünen ihre Stimme geben, sagt sie. „Aber wenn der Unterschied zu knapp ist, und ich hab Schiss, dass die CDU gewinnen könnte, dann werde ich SPD wählen.“
Annalena Baerbock wirke frisch, sagt der Gärtner Johannes Haag – „aber ich hätte Angst, dass sie sich verschleißt“. Wobei die Grünen in einer Regierung vielleicht am konsequentesten klimaschützende Weichen stellen würden, etwa Genehmigungsverfahren verkürzen. Aktuell tendiere er zur FDP, sagt Haag – aber er könne sich auch die Grünen vorstellen. „Mein Problem ist eigentlich meine eigene Unentschlossenheit.“
Ute Volz aus Bad Vilbel hat noch nicht entschieden, ob sie die CDU auch ohne Merkel wählt. Scholz, dachte sie lange, brauche sie gar nicht auf dem Zettel zu haben, weil er keine Chance habe und die SPD sich eh wieder zerlege. Aber sie habe ihn jüngst bei einer Wahlveranstaltung in Frankfurt gesehen. „Und ich muss sagen: Ich fand ihn gut.“
Am Ende der kleinen Deutschlandreise steht eine Erkenntnis, die für Armin Laschet ernüchternd ist. Obwohl er in derselben Partei wie Merkel ist: Ihn will irgendwie keiner.
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