Bücherverbote in den USA: Amerikas schlechte Seiten
Immer häufiger werden in den USA missliebige Inhalte aus Bibliotheken und Schulen entfernt. Auch die „Moms for Liberty“ wollen einiges verbieten.
D as gefährlichste Buch Amerikas ist 239 Seiten lang und endet mit einer Widmung: „Obwohl ich damit zu kämpfen hatte, eure Tochter zu sein, bin ich so froh, dass ich euer Kind bin“, schreibt Maia Kobabe an die Eltern.
Anfang April veröffentlichte die American Library Association (ALA) eine Liste der zehn „Most Challenged Books“. Seit drei Jahren führt Kobabes autobiografischer Coming-of-Age-Comicroman „Gender Queer“ diese Liste an. 2023 wurde das Buch landesweit 106 Mal aus Schulbibliotheken verbannt. Das Buch, sagte Kobabe in einem Interview mit dem Autor:innenverband PEN Amerika, sei als Brief an Eltern und Familie gedacht, damit diese non-binäre Identität besser verstünden. „Hätte ich als Jugendliche ein Buch wie Gender Queer gefunden, es hätte mir die Welt bedeutet. Ich war verzweifelt, zu verstehen, wer ich bin.“
In den USA tobt ein Kulturkampf. Seit einigen Jahren ist die Zahl der Zensurversuche in US-Büchereien stark angestiegen. Laut PEN America wurden zwischen Juli und Dezember 2023 4.300 Bücher in 23 Bundesstaaten aus dem Lehrplan entfernt, die Mehrheit, weil sie queere Charaktere oder Rassismus thematisieren. Im Vergleich zum Vorjahr ist das eine Steigerung um 65 Prozent.
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Besorgte Eltern, konservative Politiker:innen und Medien verteufeln Kobabes „Gender Queer“ als „Pornografie“. Und tatsächlich enthält das Buch grafische Details, über deren Altersgerechtigkeit sich streiten ließe. Ist die Schulbibliothek der richtige Ort für ein Buch wie dieses? In welchem Alter macht so ein Buch Sinn, in welchem nicht?
„Ich war elf oder zwölf, als ich zum ersten Mal davon träumte, einen Penis zu besitzen.“
„Jahrelang bestand meine Masturbationsmethode darin, mir eine Socke zwischen meine Hosenbeine zu stopfen und an der Wölbung zu reiben.“
„Meine größte Vorliebe ist Auto-Androphilie.“
„Ich habe einen Umschnalldildo gekauft. Ich kann es kaum erwarten, deinen Schwanz in meinem Mund zu haben. Du kriegst den Blowjob deines Lebens!“
Wie es sich mit Verboten verhält, erreichen sie nicht selten das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigen: In US-Bibliotheken, in denen das Buch noch verfügbar ist, gibt es lange Wartelisten, weil „Gender Queer“ so populär ist. Zahlreiche Lesezirkel haben sich das Buch zur Lektüre vorgenommen.
Eltern wollen ihre Stimme zurück
Raleigh, eine mittelgroße Stadt in North Carolina. Vor dem „Wake County Shrine Club“ hängt der Frühling an diesem Mittwochabend schwer in der Luft. Breitbeinige, schwer bewaffnete Polizist:innen bewachen die Veranstaltungshalle, in der normalerweise Hochzeiten und Betriebsfeste gefeiert werden. „How’re you doin’?“, begrüßen sie die Gäste in ihrem für diese Gegend typischen Südstaatensingsang.
Drinnen: Ausweise vorzeigen, Namen abhaken, jede:r bekommt einen Sticker: „Moms for Liberty“ steht darauf, Mütter für Freiheit. Die beiden Damen am Empfang setzen ein phänomenal freundliches Lächeln auf, überhaupt lächelt man hier viel. „Give Parents a Voice“, Eltern eine Stimme geben, heißt die Podiumsdiskussion. Gekommen sind Lokalpolitiker:innen, empörte Eltern, traumatisierte Pädagog:innen. Sie alle treibt die gleiche Frage um: Können wir unsere Kinder noch retten?
Auf einem Ablagetisch rechts vom Eingang liegen ordentlich aneinandergereiht fünf Kinderbücher. „It’s perfectly normal“ heißt eines, ein anderes ist der New York Times-Bestseller: „The Absolutely True Diary of a Part-Time Indian“ über die Identitätssuche eines indigenen Jungen. Das Buch handelt von Alkoholsucht, Armut, Essstörungen, Gewalt und Sexualität. Die Bücher hier sollen ein Warnsignal sein, eine Mahnung: Schaut her, das könnten eure Kinder sein.
Listen mit „vulgären Büchern“
Organisiert wird die Veranstaltung von der rechtskonservativen Aktivist:innengruppe Moms for Liberty, die sich Elternrechte auf ihre Fahnen geschrieben hat. Die Bürgerrechtsorganisation Southern Poverty Law Center stufte Moms for Liberty als extremistische Gruppierung ein.
Sie setzen sich gegen Lehrpläne in Schulen ein, die LGTBQIA-Themen, Ethnizität und Diskriminierung behandeln. Ein Kernthema ihrer Lobbyarbeit sind Bücherverbote. Moms for Liberty teilen auf ihrer Webseite Listen mit „vulgären Büchern“ und „Toolkits“, mithilfe derer Eltern „ihr Schweigen brechen“ können. Aktivist:innen für Rechte von Transpersonen werden darin als „Fürsprecher von Genitalverstümmelung“ bezeichnet.
Gegründet wurde die Bewegung 2021 in Florida, um gegen die restriktive Schulpolitik während der Pandemie vorzugehen. Heute zählt sie rund 130.000 Mitglieder in 45 Bundesstaaten, die sich lokal in Ortsgruppen organisieren. Durch Einschüchterungen und über Gerichtsprozesse gelingt es ihnen, Druck auf Schulbeamte, Lehrer:innen und Bibliothekar:innen auszuüben, die nicht selten fürchten, ihre Jobs zu verlieren. Ausgetragen werden solche Kämpfe um Gesetzgebung oft im Verborgenen, weit entfernt von nationaler Berichterstattung.
Moms for Liberty ist hervorragend organisiert. Die Washington Post, die selbst Daten zu Book-Bans erhob und auswertete, berichtet aus einer Stichprobe, dass für Angriffe auf 1.000 Bücher nur elf Personen verantwortlich waren. Ortsgruppen und Einzelpersonen fordern oft das Verbot von Dutzenden bis Hunderten Büchern auf einmal. Auf eine Verbotsforderung folgt eine interne Prüfung eines bezirksweiten Komitees – nach der die meisten Verbotsforderungen allerdings scheitern. Mehr als die Hälfte der Bücher durften 2023 in den Regalen bleiben, 16 Prozent wurden entfernt.
„Das Beste, was Amerika jemals passiert ist!“
Im kalifornischen Davis erhielt eine Schulbibliothek vor einigen Monaten eine Reihe von Bombendrohungen. Die Täter:innen wurden nie gefasst. Aber das Personal vor Ort ist überzeugt davon, dass sie aus den Kreisen um Moms for Liberty stammen, gab eine Insiderin gegenüber der taz an.
2023 machte die Gruppe Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass ein Newsletter im Bundesstaat Indiana Hitler mit „Er allein, dem die Jugend gehört, erreicht die Zukunft“ zitiert hatte. Kurze Zeit später veröffentlichte man eine offizielle Entschuldigung.
Etwa zur Hälfte füllt sich die Halle heute Abend, viele Stühle bleiben leer. Tiffany Justice, Ehefrau, vierfache Mutter und Mitbegründerin von Moms for Liberty, tritt ans Podest und stellt sich neben eine große Amerika-Fahne. Sie trägt einen Blazer mit Schulterpolstern, zur Begrüßung zitiert sie eine alarmierende Statistik: Nur ein Drittel aller Viertklässler in Amerika würden ihrem Alter entsprechend lesen. Betroffener Applaus. Justice wirkt gelassen, schließlich hat sie Dutzende solcher Auftritte hinter sich.
Dann marschieren vier Soldaten in Uniform samt Maschinengewehr Richtung Bühne. Das Publikum erhebt sich zum Gebet, zwei Mädchen in hoffnungsfroh himmelblauen T-Shirts trällern die Nationalhymne. Unter dramatischer Musik wird jetzt auf einem großen Bildschirm ein Werbevideo eingespielt: „Moms for Liberty wurde von zwei Müttern gegründet, die ihre Mission für Transparenz in Schulen in eine Bewegung verwandelten, so mächtig, dass man sie als Terroristinnen bezeichnete!“ Donald Trump gratuliert den Kämpferinnen, wie er sie nennt. „Ihr seid keine Bedrohung für Amerika! Ihr seid das Beste, was Amerika jemals passiert ist!“
Es folgen zwei Stunden Podiumsdiskussion mit Expert:innen und Müttern. Die Themen: Gewalt an Schulen, Leseschwäche, Kliniken an öffentlichen Schulen, die Antibabypillen, Antidepressiva oder gar Abtreibungspillen verschreiben würden. Das Thema Bücher spricht niemand so richtig an. Nur einmal sagt jemand über Bücherspenden: „Sie werden immer einen Weg finden, unseren Kindern ihre Ideologien unterzujubeln.“
Der Traum von einem anderen Amerika
Einige der angesprochenen Punkte benötigen dringend eine gesellschaftliche Großauseinandersetzung. Tatsächlich behandeln manche amerikanischen Schulen Themen wie Rassismus und Transidentität schon im Grundschulalter – in den Augen vieler Eltern zu früh. Aber Moms for Liberty wollen keine Diskussion. Sie wollen ein anderes Amerika.
Die Behauptungen der Redner:innen sind abgenutzt, aber in der aufgeheizten Atmosphäre machen sie sich gut; Behörden und Schulen in den USA würden von Linken dominiert werden, die dem Land ihre Weltsicht und Politik aufdrücken, systematisch Steuergelder und städtische Strukturen nutzen würden, um weißen Kindern Schuldgefühle einzureden und schwarzen Kindern, dass sie unterdrückt seien. Mit dabei ist auch Kenny Xu, ein bekanntes Gesicht der Anti-Woke-Bewegung und Autor des Buches „School of Woke: How critical race theory infiltrated American schools and why we must reclaim them“.
Eigentlich kann niemand damit gerechnet haben, dass diese Veranstaltung störungsfrei verlaufen würde. Wenige Minuten vor Abschluss springt eine Frau in der letzten Reihe auf, sie trägt Maske, kurze Haare und ein T-Shirt mit dem Spruch „Ban bigots not books“, verbietet Fanatiker und nicht Bücher.
„Ihr alle seid verdammte Lügnerinnen. Ihr Panikmacherinnen sitzt da vorne und erzählt Lügen!“ Sie brüllt so laut, dass die ganze Halle fast vibriert. Justice fährt ihre Rede mit einer Seelenruhe fort, als würde sie in einer Kirche predigen. „Danke, dass Sie heute da waren“, sagt sie in die Menge.
„Halt die Fresse!“, lauten die letzten Worte der Frau. Dann wird sie von der Polizei abgeführt.
Konservative Bundesstaaten verbieten „pornografisches oder obszönes Material“
„Ich verspreche Ihnen allen, dass wir weitermachen werden. Das hier ist erst der Anfang!“ Tiffany Justice strahlt. Jubel aus der Menge. Aber wie man die Leseschwäche von zwei Dritteln aller Grundschüler:innen bekämpfen will, indem man Bücher aus Schulbibliotheken verbannt, soll an diesem Abend ungeklärt bleiben. Dafür posiert Justice nach dem Auftritt für Selfies mit ihren Fans.
Konservativ regierte Bundesstaaten wie Florida, Indiana, Oklahoma, Missouri und Tennessee und weitere haben indes Gesetze verabschiedet, die Lehrer:innen und Bibliothekar:innen mit Gefängnisstrafen und hohen Geldstrafen drohen, sollten diese Kinder und Jugendliche mit „pornografischem oder obszönem Material“ versorgen.
Ashville, North Carolina. Ein malerisches Hippiestädtchen in der Appalachenkette, der Himmel an diesem Sonntag strahlt blau. Hier wird Bier gebraut, Yoga geübt, barfuß sitzt man auf Kissen und trinkt losen Tee aus Keramiktässchen. Im anarchistischen Buch-Kollektiv „Firestorm“ haben sich etwa zwei Dutzend Menschen eingefunden. Eine schillernde Menge: Sie tragen Masken, sind queer und trans, dick und dünn, lila Haare, einer hat „Satan is my Sugar Daddy“ auf seinem Pullover aufgedruckt. Sie alle sind zur Pack-Party für verbannte Bücher hier.
Im November vergangenen Jahres erhielt „Firestorm“ einen Anruf aus Jacksonville in Florida: ob sie 22.000 Bücher aufnehmen könnten, die aus Schulbibliotheken entfernt werden sollen. Das von Ron de Santis republikanisch regierte Florida ist so etwas wie „Ground Zero“ der Bücherverbote.
Von hier stammen etwa 40 Prozent aller landesweiten Zensuren. Schüler:innen werden Bücher über Rassismus als „schädliches Unterrichtsmaterial“ vorenthalten. Der 2022 verabschiedete „Stop Woke Act“ hat Diskussionen zu Rassismus und Hautfarbe in Klassenzimmern erschwert, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität dürfen seit der Verabschiedung des „Don’t say gay“- Gesetzes 2022 bis zur zwölften Klassenstufe nicht mehr Teil des Unterrichts sein. Eine Schule erregte Aufsehen, als sie eine auf dem Tagebuch der Anne Frank beruhende Graphic Novel aus ihrer Bibliothek entfernte.
Bücher werden zurück nach Florida geschickt
Die meisten der verbannten Bücher bleiben verwaist in Warenhäusern liegen. „Firestorm“, deren Warenbestand normalerweise gerade einmal aus 8.000 Büchern besteht, sah sich vor eine große Aufgabe gestellt. Man beschloss, die Bücher nicht nur aufzunehmen, sondern sie nach Florida zurückzusenden – an Kinder und Jugendliche, die sie bestellt hatten. So begann die Initiative „Banned Books Back!“.
Tausend Pakete haben sie bereits versendet. Jeder Karton enthält fünf Bücher, einen Infoflyer und ein Malbuch mit einem Einhorn auf der Vorderseite, das einen Kampf gegen Faschismus führt.
Eine junge Frau, die sich als sephardische Jüdin vorstellt, hat für die Pack-Party Kekse nach dem Rezept ihres irakischen Großvaters gebacken: als Andenken an Unterdrückung und Kolonialismus. „Ich stehe in Solidarität mit Gaza“, verkündet sie in die Menge. Dann gratuliert sie allen zum Trans-Visibility-Day, die Organisatorinnen geben Anweisungen, nennen ihre Pronomen, dann macht man sich emsig ans Packen.
Eine Weile ist nur noch das Geräusch von Tesafilm zu hören, wie er sich über Dutzende Pappkartons zieht.
Raleigh und Asheville liegen nur drei Autostunden voneinander entfernt. Aber wie lassen sich die ideologischen Lichtjahre überwinden, die zwischen den Schulterpolstern von Moms for Liberty und den Aktivist:innen von „Firestorm“ liegen?
Auch Universitäten werden zensiert
Seit einiger Zeit sind von den Zensuren nicht nur Schulen, sondern auch öffentliche Universitäten betroffen. Im Januar ersetzte das Bildungsministerium in Florida an zwölf Universitäten den Grundkurs Soziologie mit einer „historisch akkuraten Darstellung zu Amerikas Gründungsgeschichte“.
Auch an der öffentlichen Universität von Virginia wurde im April ein geplanter Kurs zur „Racial literacy“, was am ehesten mit „ethnischer Bildung“ zu übersetzen ist, verschoben. Der republikanische Gouverneur Glenn Youngkin hatte im Vorfeld verlangt, den Lehrplan des Kurses zu sehen – zur Kontrolle, wie Studierende der Universität ihm vorwerfen.
Anesia Lawson, 20, die Politik und Soziologie im Bachelor studiert und im Lokalvorstand der Menschenrechtsorganisation NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) aktiv ist, kämpft gegen die Zensurversuche an ihrer Universität, sagt sie der taz im Video-Call: „Rassismus in diesem Land ist überall. In dem Essen, das wir essen, und in der Luft, die wir atmen, wenn Fabriken ihre Abgase in von Schwarzen bewohnten Viertel ablassen.“ Wenn Universitäten ihre Studierenden zum Denken bewegen, „die Dinge so zu sehen, wie sie sind“, würden sie eine Bedrohung für den Status quo schaffen, der Ungerechtigkeit reproduziert.
Lawson selbst begann die eigene Familiengeschichte, die Erzählungen ihrer Großmutter, erst dann wahrzunehmen, als sie im Studium den afroamerikanischen Soziologen und Bürgerrechtsaktivisten W. E. B. Du Bois las. Wenn Kinder, Jugendliche und Student:innen nicht mehr die eigene Familiengeschichte, Erzählungen von Verfolgung und Unterdrückung lernen dürfen, weil diese als Bedrohung gelten – was steht dann für das ganze Land auf dem Spiel?
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