Bootsunglück im Mittelmeer: Ein Sohn, ein Bruder, einer von 750
Der Pakistaner Ali Raza wollte in Europa sein Glück versuchen. Nun ist er vermutlich im Mittelmeer ertrunken. Ein Besuch bei seiner Familie.
Empfohlener externer Inhalt
Ali Raza stammt aus der Kleinstadt Mandi Yazman Bahawalpur im Süden der Provinz Punjab, rund 100 Kilometer südlich von Multan. Die Gegend ist für ihren Obst- und Gemüseanbau bekannt.
Raza hatte ein Mathematikstudium erfolgreich abgeschlossen und war im Alter von 26 Jahren einer von mutmaßlich hunderten Migranten und Flüchtlingen, die in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni mit einem Fischkutter in griechischen Gewässern vor Pylos ertrunken sind. An Bord waren Menschen aus Ägypten, Syrien, Afghanistan, Pakistan und Palästina, als der Kutter rund 45 Seemeilen südwestlich der Halbinsel Peloponnes unterging. Das Schiff hatte den Hafen von Tobruk in Libyen am 9. Juni mit Ziel Italien verlassen.
Das Unglück Am 14. Juni ist vor der Küste Griechenlands ein Fischkutter gesunken, auf dem rund 750 Menschen waren. Gerettet wurden nur 104, alles Männer. 78 Leichen wurden geborgen. Die geschätzt rund 500 weiteren Passagiere sind mit dem Kutter gesunken. Es dürfte damit das schwerste Unglück mit Flüchtlingsbooten im Mittelmeer sein.
Die Route Der Fischkutter war in der Hafenstadt Tobruk gestartet. Sie liegt im Osten Libyens nahe der Grenze zu Ägypten und damit auf der Route vieler Migranten, die aus Asien oder afrikanischen Staaten über das Nildelta versuchen, nach Europa zu gelangen. Von Tobruk aus erreichte der Kutter die Zone des Mittelmeers, in dem Griechenland für die Seenotrettung zuständig ist.
Die Küstenwache Nach offizieller Darstellung der griechischen Behörden hatte die Küstenwache den Menschen an Bord Hilfe angeboten. Die hätten das jedoch abgelehnt, weil sie weiter nach Italien fahren wollten.
Die Geflüchteten Überlebende gaben an, die Küstenwache habe versucht, das Schiff abzuschleppen, mutmaßlich aus der griechischen Rettungszone heraus. Dadurch habe der Kutter die Balance verloren. Laut Süddeutscher Zeitung haben Gerettete angeben, dass der Motor des Kutters kaputt war, die Menschen hätten vergeblich um Hilfe gebeten und wollten nicht weiter nach Italien.
Laut einer gemeinsamen Erklärung der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) waren auf dem Schiff rund 750 Menschen, darunter Frauen und Kinder. Zwar gibt es keine genauen Angaben, doch lokale Medien in Pakistan behaupten, dass 300 bis 400 Pakistaner an Bord gewesen seien. Warum hat eine so große Zahl von Pakistanern überhaupt verzweifelt versucht, ihr Land zu verlassen? Warum waren sie sogar bereit, dafür ihr Leben zu riskieren?
„Trotz seines Universitätsabschlusses bekam Raza keinen guten Job. Er hat sich auf viele staatliche Stellen beworben, sich auf Auswahltests und Vorstellungsgespräche vorbereitet. Doch alles war vergeblich“, erzählt Ali Muhammad, Razas Bruder. „Dabei war er nicht ungeeignet. Aber das korrupte System verwehrte ihm den Erfolg. Als er einen Test und das Vorstellungsgespräch für eine staatliche Stelle bestanden hatte, sollte er plötzlich eine hohe Summe zahlen, um auch wirklich den Arbeitsvertrag zu bekommen“, erzählt er. Razas so grimmig wie hilflos dreinschauender Bruder betreibt einen kleinen Obststand auf dem lokalen Markt.
Keine Perspektive in Pakistan
Raza war der Jüngste von insgesamt drei Geschwistern, zwei Brüdern und einer Schwester. „Sein Vater starb, als Raza gerade zehn Jahre alt war“, sagt seine weinende Mutter. „Ich arbeitete als Haushaltshilfe in der Nachbarschaft, um meine Kinder großzuziehen. Raza war unsere einzige Hoffnung. Wir haben jetzt nichts mehr.“
Nachdem er einige Jobs bei Privatfirmen in den Nachbarstädten hatte, zog Raza letztes Jahr nach Karatschi. Von der südlichen Wirtschaftsmetropole erhoffte er sich größere Chancen. Doch dort musste er oft den Job wechseln und kam auch nur auf Gehälter von 25.000 bis 30.000 Rupien, etwa 80 bis 100 Euro.
Noch ein Unglück Unter den fünf Menschen an Bord des beim Wrack der „Titanic“ versunkenen und mutmaßlich implodierten Tauchboots „Titan“ waren auch zwei Pakistaner, die zu einer der reichsten Familien des Landes gehörten. Der abenteuer- und technikbegeisterte 48-jährige Shahzada Dawood und sein 19-jähriger Sohn Suleman zahlten für den exklusiven Tauchgang laut Medienberichten 250.000 Dollar pro Person. Shahzada Dawood war Vizedirektor des von seinem Vater und Konzernchef Haussain Dawood gegründeten Engro-Konglomerates aus Karatschi. Engro stellt unter anderem Düngemittel und Chemikalien her und ist auch im Energiesektor aktiv. Der jetzt verunglückte Shahzada Dawood hatte in Großbritannien und den USA studiert und lebte in London.
Reisefreiheit Shahzada Dawood besaß neben der pakistanischen auch die britische Staatsbürgerschaft. 2016 erwarb er zusammen mit seinen Eltern in Maltas umstrittenem Programm auch die Staatsbürgerschaft des Inselstaates. Diese sogenannten „Goldenen Pässe“, die einen unbegrenzten Aufenthalt im europäischen Schengen-Raum ermöglichen, können superreiche „Migranten“ kaufen. Im September letzten Jahres hat die EU-Kommission deshalb Malta verklagt. (
„Das Geld reichte nicht einmal für seine eigenen Ausgaben für Unterkunft, Essen und Transport. Wie sollte er davon noch für seine Familie aufkommen?“, fragt Razas Bruder. „Freunde in Karatschi erzählten ihm dann vom illegalen Weg nach Europa und dass er dort viel mehr verdienen könne. Selbst wenn er gelegentlich nur 500 Euro schicke, würde das reichen, um seiner Familie in Pakistan ein gutes Leben zu ermöglichen.“
Junge Menschen aus dem Punjab, dem nordwestlichen Khyber Pakhtunkhwa oder dem von Pakistan kontrollierten Teil Kaschmirs wagen sich oft auf die berüchtigte Route durch den Iran, die Türkei, Griechenland und Italien, um illegal Europa zu erreichen. Korruption, politische Unruhen, Wirtschaftskrisen, fehlende Jobmöglichkeiten und wachsende Hoffnungslosigkeit zwingen die Menschen, ihr Leben für eine bessere Zukunft ihrer Kinder und Familien zu riskieren.
Berichte von Freunden und Verwandten in Pakistans sozialen Medien zeigen, dass Razas Schicksal kein Einzelfall ist. Es sind viele College- und Universitätsabsolventen, die jetzt mutmaßlich mit ihm im Mittelmeer ertrunken sind.
Goldschmuck verkauft für die Reise nach Europa
„Er war sehr klug, sehr höflich und mit Leidenschaft bei der Sache. Es bricht mir das Herz, dass ein so strahlender Stern ein so schlimmes Schicksal erlitten hat“, sagt Shahid Saleem. Er war Razas Professor an der Universität in Bahawalpur.
Shadid Saleem, Razas Professor
„In diesem Land herrscht kein Gesetz. Den Armen wird das Leid aufgezwungen. Auch Razas Arbeitgeber beuteten ihn aus, indem sie ihm nur ein geringes Gehalt zahlten“, berichtet seine Mutter, „manchmal bekam er es erst nach Monaten ausgezahlt.“ Er sei von diesem System enttäuscht gewesen und habe dann die Geschichten von Menschen geglaubt, die es angeblich erfolgreich nach Europa geschafft hätten. „Er wurde einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen und glaubte, dass dies der einfachste Weg nach Europa sei. Wir haben unseren kleinen Acker verkauft und die Mitgift der Frau seines Bruders und den Goldschmuck verkauft. Dazu haben wir noch einen Kredit aufgenommen, um die 2,5 Millionen Rupien [8.000 Euro] für diese Reise zu bezahlen.“
Pakistans Premierminister Shehbaz Sharif hat in Reaktion auf das Unglück inzwischen angeordnet, gegen Menschenhändler vorzugehen. 14 Personen wurden bereits festgenommen. Doch in den sozialen Medien nennen Menschenrechtsaktivisten das nur die Spitze des Eisbergs. Sie sagen, dass es ohne die aktive Beteiligung hoher Beamter unmöglich sei, Menschenhandel in so einem Ausmaß zu betreiben.
Razas Mutter macht auch die Grenzpolitik der EU-Länder mitverantwortlich. „Niemand verlässt gern sein Heimatland und verbringt sein Leben in der Fremde. Die Länder des Westens sollten verstehen, was wir in unserem Land durchmachen. Sie sollten uns in dieser Zeit helfen und nicht ihre Grenzen schließen und uns in dieser Armut zurück- und sterben lassen“, sagt sie.
Anders als Ali Reza ist dem Pakistaner Anwar Shah die illegale Migration nach Europa gelungen. Er berichtet von den Schrecken seiner Reise, wie er Monate in Iran, Libyen und Italien verbrachte, wo er raues Wetter ertrug, wenig bis gar nichts zu essen hatte und auf der Straße übernachten musste: „Selbst wenn es gelingt, Europa illegal zu erreichen, ist das Leben hier nicht einfacher.“ Es gebe große Herausforderungen wie etwa Sprachprobleme, fehlende Qualifikationen und die mühsame und langwierige Beschaffung legaler Papiere.
Seine Mutter hofft noch
Viele Migranten nehmen für ihre Reise Kredite auf, sodass ihre Familien erste Überweisungen erwarten, sobald sie dort angekommen sind. Doch wegen der genannten Schwierigkeiten in Europa könnten Migranten die Erwartungen nicht erfüllen, was sie oft in schwere Depressionen stürze, meint Anwar Shah: „Ich habe von vielen Migranten gehört, die Suizid begingen. Zuletzt erfuhr ich von einem in Deutschland, der sich selbst getötet haben soll. Andere Migranten werden kriminell, und viele Menschen verbringen Jahre in Asylzentren und warten auf ihre Anerkennung als Flüchtlinge.“
Griechenlands Behörden haben inzwischen ihre Such- und Rettungsaktion beendet und alle Vermissten für tot erklärt. Unter den 104 Überlebenden sollen sich 12 pakistanische Männer befinden. Razas Familie hat keine Nachricht erhalten, dass er unter den Überlebenden sei. Trotzdem wartet seine Mutter auf ein Wunder: „Vielleicht wurde er von jemand anderem gerettet, und nach einiger Zeit meldet er sich und sagt uns, dass es ihm gut geht.“ Sie versucht, ihre Tränen zurückzuhalten und hoffnungsvoll zu klingen.
Übersetzung aus dem Englischen Sven Hansen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe