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Bildungsreform in der UkraineTolstoi in die Verbannung

Mit dem Krieg ändert die Ukraine radikal die Lehrpläne für die Schulen. Russisch wird faktisch nicht mehr gelehrt, dafür Erste-Hilfe-Training.

Ernste Kindheit: Schulanfang für Kadetten einer Militärschule in Kiew am 1. September Foto: Efrem Lukatsky/ap

Luzk taz | Für das neue Studienjahr hat die ukrainische Regierung den Inhalt der Lehrpläne in Geschichte, Literatur und anderen Fächern überarbeitet. In den Klassenstufen eins bis vier wird den Schü­le­r*in­nen mehr über Sicherheit, Fliegeralarm und Notfallschutz vermittelt.

Für die Klassen fünf bis elf wurde das Programm in den Bereichen Geschichte, Grundlagen der Gesundheit, Recht, Literatur und Verteidigung der Ukraine angepasst. Themen: das ukrainische Militär und die Prinzipien der Kriegsführung unter modernen Bedingungen. Auch im Schießsport und in medizinischen Belangen werden Schü­le­r*in­nen weitergebildet.

Den jungen Menschen wird beigebracht, welche Alarmsignale es gibt, wie sie sich im Falle eines Beschusses verhalten, wie sie einen sicheren Schutzraum einrichten, wie sie mit explosiven Gegenständen umgehen sowie Erste Hilfe leisten und wie sie mit Panik umgehen.

„Die Schule muss auf das reagieren, was im Land passiert, sie existiert nicht in einem Vakuum“, sagt Mykola Skyba, Bildungsexperte am ukrainischen Institut für Zukunftsfragen. Die schnelle Umstellung des Bildungssystems ist erklärlich. Denn das Erste, was die russischen Besatzer taten, als sie sich festsetzten, war, ukrainische Lehrbücher zu vernichten und durch ihre eigenen zu ersetzen.

Botschaft: Die Ukrai­ne­r*in­nen wehren sich

In sozialen Netzwerken wurde oft darüber geschrieben, wie das russische Militär in Dörfern von ihnen in Besitz genommene Häuser mit Büchern aus Schulbibliotheken beheizten. Die Politik der Vernichtung und Beschlagnahme ukrainischer Lehrbücher sei massiv geworden, berichtete die Hauptnachrichtendirektion des Verteidigungsministeriums der Ukraine.

„Die Russen haben alle Bücher vernichtet, die nicht mit den Grundsätzen der Kreml-Propaganda übereinstimmten. Lehrbücher über die Geschichte der Ukraine, aber auch wissenschaftliche und populärgeschichtliche Literatur wurden in die Liste ‚extremistischer‘ Literatur aufgenommen. Die Besatzer haben eine Liste mit Namen, deren Erwähnung verboten ist“, sagt der ukrainische Geheimdienst.

„Die Sowjetunion ist ein imperialistischer Staat“, wird jungen Ukrai­ne­r*in­nen in den Schulen ab jetzt erzählt – zum ersten Mal seit der Wiederherstellung der ukrainischen Unabhängigkeit im Jahr 1991. Eine weitere wichtige Änderung besteht darin, dass sich die Programme nicht nur auf die Untersuchung der Gewaltinstrumente konzentrieren, die im 20. Jahrhundert gegen Ukrai­ne­r*in­nen eingesetzt wurden, sondern auch auf den Widerstand dagegen.

„In der Vergangenheit wurde dem repressiven Vorgehen der Sowjetunion viel Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt lernen Kinder mehr darüber, wie sich die Ukrai­ne­r*in­nen dieser Repressionsmaschine widersetzt haben“, sagt Juri Kononenko, ein Beamter des Bildungsministeriums.

Bulgakow geht es an den Kragen

Das heißt, die Hungerkatastrophe Holomodor (1932/33) ist Unterrichtsgegenstand, aber auch der Widerstand dagegen. Im Westen der Ukraine fanden nach 1939 unter Stalin Repressionen statt, doch die Antwort darauf waren, wie jetzt gelehrt wird, Aktionen der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA).

Für die höheren Klassen ist eine neue Lehreinheit über den Krieg vorgesehen, der 2014 begann und für den der Terminus „russisch-ukrainischer Krieg“ eingeführt wird. Schü­le­r*in­nen werden zudem Konzepte wie „Russische Welt“ und „Raschismus“ beigebracht, der Begriff des „Kollaborationismus“ wird erweitert – anhand neuer Beispiele aus dem Jahr 2022. Anstelle des Ausdrucks „Politik der Russifizierung“ wird der Ausdruck „Politik des Russentums“ verwendet.

In der Literatur wird ausgesiebt: Die Bastionen von Michail Bulgakow – in der Ukraine einer der berühmtesten russischen Schriftsteller – bröckeln. Der Schriftstellerverband der Ukraine will das Bulgakow-Museum in Kiew schließen, aber dessen berühmtes Werk „Hundeherz“ wird teilweise noch Schullektüre bleiben, und zwar dann, wenn Lehrkräfte und Schü­le­r*in­nen das wollen.

Der Zustimmung der Lehrkräfte bedarf es auch, um den Roman von Anatoli Kuznenzow „Babi Jar“ (zum NS-Massaker in der Ukraine) aus dem Jahr 2014 im Unterricht zu behandeln.

Dem Hass geschuldet

Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft hat mehrere Kriterien zur Bestimmung „harmloser“ Schriftsteller, die auf Russisch geschrieben haben, formuliert: Ihre Arbeit muss einen engen Bezug zur Ukraine haben, das heißt, sie sind entweder dort geboren oder haben lange in der Ukraine gelebt oder sie reflektieren in ihren Werken ukrainische Themen. Aus diesem Grund wurde beispielsweise der Dichter Nikolai Gogol, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte, im Programm belassen.

Aus dem Pflichtprogramm gestrichen wurden dagegen Werke von Anton Tschechow, Iwan Bunin, Fjodor Dostojewski, Lew Tolstoi, Alexander Blok, Wladimir Majakowski, Boris Pasternak und Anna Achmatowa. Stattdessen wurden mehr europäische, amerikanische und asiatische Schrift­stel­le­r*in­nen in das Programm aufgenommen, wie Pierre de Ronsard, Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Adam Mickiewicz.

Eine weitere grundlegende Entscheidung: Alle Lehreinheiten, die sich auf das Studium der russischen Sprache und Literatur beziehen, wurden ersatzlos gestrichen. Seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine und der Aufdeckung aller Gräueltaten der Invasoren wächst der Hass auf alles Russische.

Das Kiewer Bildungsministerium hat bekannt gegeben, dass die Schü­l*in­nen in den Schulen der Hauptstadt kein Russisch mehr lernen (auch nicht optional) und auch andere Fächer nicht mehr auf Russisch unterrichtet werden.

Russisch: Geschmäht, nicht verboten

Auch in einer der ältesten Universitäten Osteuropas – der Nationalen Universität Wassil Nazarowitsch Karazin in Charkiw, wurde der Lehrstuhl für russische Sprache und Literatur geschlossen. Stattdessen wird es eine Abteilung für Slawische Philologie geben. Dafür wurden Lehrkräfte für die polnische Sprache angeworben.

Wie die Regelung umgesetzt wird, entscheiden die jeweiligen Bildungseinrichtungen selbst. Ein offizielles Verbot des Erlernens der russischen Sprache in der Ukraine wurde zwar nicht eingeführt. Anna Lytschko, Leiterin der Bildungsabteilung des Stadtrats von Mikolajiw, sagt aber, dass „es einfach keine russische Sprache mehr geben wird“.

In der Schule für nationale Minderheiten Nr. 18 gab es früher drei erste Klassen mit Russischunterricht. Sie hat am 1. September auf Ukrainisch umgestellt. In dieser und anderen Schulen wurde bereits früher Ukrainisch gelehrt, daher glaubt die Leitung, dass der Wechsel kein großes Problem darstellen werde.

„Ich bin nicht dagegen, dass Menschen, die sich als ethnische Rus­s*in­nen betrachten, Russisch lernen, aber nur, wenn das die gesamte Elternschaft unterstützt. Ich denke, jede Russischstunde sollte mit den Worten beginnen: Russland ist ein Aggressor, Präsident Wladimir Putin ein Kriegsverbrecher und Russland verantwortlich für den Völkermord am ukrainischen Volk. Unter solchen Bedingungen kann man diese Sprache lernen“, sagt Bildungsombudsmann Sergei Gorbatschow.

Südkorea, der neue Freund

Jewgenija Zachartschenko, Anwältin der öffentlichen Organisation „Elternrat von Kropyvnytskyi“, hat bestätigt, dass das Fach „Russische Sprache“ nur ein Teil des variablen Bestandteils der Ausbildung sei. „Das Erlernen der russischen Sprache ist nicht verpflichtend und richtet sich nach den Wünschen der Eltern. Wenn die Schule versucht, dieses Fach verpflichtend zu machen, haben die Eltern das Recht, eine Verzichtserklärung zu verfassen, in der sie auf die Wahlfreiheit hinweisen.“

Was hingegen künftig Teil des Geografieunterichts sein wird: die Republik Korea und der dortige Reformprozess sowie die positive Haltung Seouls gegenüber dem Unabhängigkeitskampf der Ukraine. Dazu gehört dann auch der Erwerb von Grundkenntnissen im internationalen Völkerrecht.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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24 Kommentare

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  • Welch radikale Verarmung des Gebildeten Geistes:



    "..gestrichen wurden Werke von Anton Tschechow, Fjodor Dostojewski, Lew Tolstoi ..."



    Die literaturbegabten ukrainischen Kinder können einem nur leid tun.

  • Auf dem Foto diese Kleinen in Uniform gilt auch für die das erlassene Ausreiseverbot?-



    "dieses AusreiseVerbot steht nicht im Einklang mit den Menschenrechten oder humanitären Normen. Was geschieht also tatsächlich in der Ukraine..."



    de.connection-ev.org/article-3486

  • In Deutschland wurden auch schonmal russische Kulturgüter in ganz großem Stil auf der Müllhalde der Geschichte entsorgt. Ich besitze jetzt noch eine Sammlung russischer und sowjetischer Autoren die die abgewickelten DDR Bibliotheken Anfang der 90er containerweise entsorgt haben.

  • 》Der Zustimmung der Lehrkräfte bedarf es auch, um den Roman von Anatoli Kuznenzow „Babi Jar“ (zum NS-Massaker in der Ukraine) aus dem Jahr 2014 im Unterricht zu behandeln.《

    Zur Einordnung: dieser Roman ist autobiographisch und wurde keineswegs erst 2014 verfasst:

    》Anatolij Kusnezow war 12 Jahre alt, als die Armee Hitlers 1941 in Kiew einmarschierte. Diese Besatzungszeit seiner Heimatstadt und der ihr folgende Umschwung gingen in ihm ein. Die traumatisierende Erinnerung an diese Jahre verließ ihn nie. Sie findet ihren Inbegriff in der "Weiberschlucht", Babij Jar, die Schauplatz unvorstellbaren Grauens wurde. Für Kunezow wurde sie zum Zeichen des grenzenlosen Vernichtungswillen des Menschen und des Aberwitzes des Krieges. Als es ihm endlich gelungen war, seine Erlebnisse niederzuschreiben, erschien das Buch, von der Zensur völlig verstümmelt, 1966 in der Sowjetunion. Nicht zuletzt der Wille, sein Roman-Dokument unverfälscht zu veröffentlichen, führte zu seiner Flucht nach England. 1970 konnte "Babij Jar" im Westen auf Russisch in erweiteter Form erscheinen. Kusnezow hatte sowohl die zensierten Stellen als auch jene, die der inneren Zensur 1966 zum Opfer gefallen waren, wieder eingefügt und im Text kenntlich gemacht《 is.gd/7AczHd

    • @ke1ner:

      》Sie findet ihren Inbegriff in der "Weiberschlucht", Babij Jar, die Schauplatz unvorstellbaren Grauens wurde. Für Kunezow wurde sie zum Zeichen des grenzenlosen Vernichtungswillen des Menschen und des Aberwitzes des Krieges《

      》Teile der Organisation der Ukrai­ni­schen Nationalisten (OUN) als Hilfs­po­li­zei waren an den Mas­sen­er­schie­ßun­gen in Babyn Jar – auf Deutsch “Wei­ber­schlucht” – beteiligt《 ukraineverstehen.de/bauer-babyn-jar/

      In der Wikipedia heißt es zur historischen Einordnung der OUN:

      》Der HistorikerStanley Payneklassifiziert die OUN als rechtsradikal undrassistisch,[32]Andreas Umlandklassifiziert die OUN-Ideologie als eine ukrainische Faschismusspielart.[33]Auch der HistorikerFrank Golczewskicharakterisiert die OUN als faschistische Bewegung.[5]

      Im April 2015 erklärte dieWerchowna Rada, das ukrainische Parlament, die Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten offiziell zu Unabhängigkeitskämpfern《

      Ich halte dies für wichtig, um diesen Vorbehalt - Zustimmung der Lehrkräfte zur Lektüre dieses in der Sowietunion zensierten Romans - einordnen zu können.

  • Babykadetten ... Militärschule ... oh je, und wann erfinden die die Demokratie ???

    • @lesnmachtdumm:

      Sowas gibt es alles auch in Demokratien.

    • @lesnmachtdumm:

      Militärschule für Minderjährige widersprechen nicht von vorneherein einer Demokratie.

      Hier in diesem Land wurden zwei Weltkriege begonnen, da sieht man Militär kritischer.

      Anderswo sind die historischen Erfahrungen andere.

      Zudem kann man Demokratie unterschiedlich definieren.

    • @lesnmachtdumm:

      Dann sind die USA und etliche andere westliche Staaten wohl keine Demokratien:



      Da gibt’s nämlich auch Militärschulen mit Kadetten in dem Alter.

      • @Saile:

        ... das werden bestimmt super Untertanen...

      • @Saile:

        schlimm genug ...

  • Sehr schlechte Nachrichten und denke nicht, dass irgendwer, der nicht zum totalen Nationalisten und Militaristen geworden ist, dies anders bezeichnen kann.

    • 3G
      39538 (Profil gelöscht)
      @PolitDiscussion:

      Der reinste Horror, ja! Ich hoffe nur, dass die vom befreundeten Ausland aufgenommenen ukrainischen Schüler nicht von den Lehrplanänderungen betroffen sind.

      www.theguardian.co...german-school-year

  • das Foto mit den Jungen in Kadettenuniform ..... für solche Staaten/ Gesellschaften würde ich niemals Partei ergreifen.

    • @Luxusverschmäher:

      Militärschulen für Kinder gibt es in der ganzen Welt! In der Ukraine ebenso wie in Russland oder den USA, in China wie in Taiwan. Auch in arabischen Ländern werden Kinder schon früh militärisch indoktriniert. Bleiben Ihnen wohl nicht viele Länder für die Sie Partei ergreifen können.

      • @Mediocre:

        Dann ist also alles gut?

        • @resto:

          Es handelt sich bei diesen Schulen ja nicht um reguläre Schulen in der Ukraine – die sehen weitestgehend so aus wie bei uns! Militärschulen sind die absolute Ausnahme und in der Regel auch den Kindern von Militärangehörigen vorbehalten.

  • Kinder in Uniformen. Das sind nicht meine Werte.

    • @resto:

      Gabs bis vor ein paar Jahren in Österreich, der Schweiz und vielen weiteren Ländern Europas auch.

      • 6G
        650228 (Profil gelöscht)
        @Machiavelli:

        Eben: Vor ein paar Jahren. Heute sollte man da weiter sein.

        • @650228 (Profil gelöscht):

          2018 wurde die aus Kostengründen dicht gemacht wenn ich es richtig weiß in anderen Ländern gibt es das weiterhin.

    • @resto:

      Gilt das auch für Schuluniformen in England, Südafrika oder Südkorea?

      • @Mediocre:

        Sie wissen, was ich meine. Das Militärische. Schuluniformen dienen einem anderen Zweck.