Bewegung gegen Wokeness in Forschung: Im Namen der Wissenschaft
Freiheit ist immer Freiheit der Andersforschenden. Der Rückschlag der Elite gegenüber diverseren Ansätzen ist nur vermeintlich unideologisch.
Wir alle bekennen uns zur Freiheit. Aber nur weil wir dasselbe Wort verwenden, meinen wir noch lange nicht das Gleiche.“
Als Abraham Lincoln im Jahr 1864 diesen Satz aussprach, tobte in den Vereinigten Staaten ein Bürgerkrieg. Knapp eineinhalb Jahrhunderte später wird weitgehend verbal darüber gerungen, was Freiheit bedeutet. Das Erstaunliche – heute stehen Wissenschaftler*innen an vorderster Front.
In frappierendem Einklang warnen führende Stimmen an europäischen und nordamerikanischen Universitäten vor dem Ende der Wissenschaftsfreiheit, wie wir sie kennen. Susan Hanssen, Historikerin an der University of Dallas, wähnt sich in den Fängen einer gnadenlosen Cancel Culture, die keinen rhetorischen Fehltritt verzeiht. Die kürzlich gegründete Educational Liberty Alliance wirbt dafür, „progressive Orthodoxien“ an US-amerikanischen Schulen zurückzudrängen und diese wieder zu einem Hort des freien Lernens zu machen. Ganz ähnlich argumentiert in Deutschland das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit. Ihr selbstgewählter Auftrag: dem steigenden „Konformitätsdruck“ in Forschung und Lehre Einhalt zu gebieten.
Zusammengehalten wird die transatlantische Allianz für Wissenschaftsfreiheit durch ein ritualhaft beschworenes Feindbild: Identitätspolitische Heißsporne besudelten das Erbe der Aufklärung, indem sie die Errungenschaften des Liberalismus auf dem Altar trügerischer Gerechtigkeitsversprechen opfern. Mit jakobinischem Tugendfuror arbeiteten die Befürworter der Gender Studies, der Critical Race Theory und des Postkolonialismus an der Errichtung einer pseudoakademischen Gesinnungsdiktatur, die einer ergebnisoffenen Diskussionskultur den Garaus machen würde. Gegen die intellektuelle Freiheitsberaubung im Namen einer unangreifbaren Hypermoral vorzugehen, so die Kritiker, ist erste Forscher- und Bürgerpflicht.
Status Quo Vadis
Stimmt diese Krisendiagnose überhaupt? Zugegeben, die zumeist jungen Diversitätsaktivist*innen springen keineswegs glimpflich mit den Status-quo-Privilegierten um. Ein kontroverser Satz, eine missglückte Phrase reicht, und in den sozialen Medien verstummen alle Zwischenklänge, die es braucht, um konstruktive Meinungsbeiträge von kühl-distanzierten Herrschaftsgesten zu unterscheiden. Aus Unterdrückungserfahrungen resultierende Demütigungen, Solidaritätsbekundungen mit unterdrückten Minderheiten, ein jahrzehntelang aufgestauter Frust über das Wegsehen in einer eurozentrischen Mehrheitskultur – all dies entlädt sich nicht selten in einer Weise, in der die Zurechtweisung des Gegenübers diejenigen übertönt, die den Glauben an den gemeinsamen Erkenntnisgewinn hochhalten.
Doch wie viel Ideologie steckt in dem vermeintlich so unideologischen Freiheitsbegriff der Netzwerker? Hier kann die Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit, die wir dem Philosophen Isaiha Berlin verdanken, weiterhelfen. Mit der Selbstwahrnehmung der liberal-konservativen Bildungseliten als Gralshüter einer selbstbestimmten Wahrheitssuche ist es nicht getan. Hinter solchen Zuschreibungen verbirgt sich häufig ein negatives Freiheitsverständnis, das sich in dem Wunsch äußert, von den Herausforderungen neuer Forschungsansätze nicht belästigt zu werden. Auffallend ist, dass kaum eine Schelte gegen angebliche Zensurscheren ohne die Formulierung eines gravierenden Kollektivverdachts auskommt. Es sind stets die diversitätssensiblen Paradigmen, die ihre Dialogfähigkeit mit tradierten Wissensbeständen beweisen müssen, nicht umgekehrt. Schlägt der Dialog fehl, melden die Cancel-Culture-Alarmisten Zweifel an, ob beispielsweise die Genderforschung oder die postkolonialen Studien etablierten Standards guter wissenschaftlicher Praxis genügen. Fragwürdige Hierarchisierungen wie die des Historikers Andreas Rödder, der postkoloniale Reflexionsangebote zu „Tellerwäschern des Zeitgeistes“ degradierte, machen deutlich, wie selbstreferenziell das Ideal der Wissenschaftsfreiheit teilweise ausgelegt wird.
Unliebsame Perspektiven verächtlich zu machen ist keine Bagatelle in einer Zeit, in der Menschen, deren Arbeiten Diskriminierungsstrukturen freilegen, um ihre berufliche Existenz bangen müssen. Mit der Verbannung der Gender Studies aus ungarischen Universitäten verwirklichte Viktor Orbán 2018 einen rechtspopulistischen Traum. Die polnische Regierung setzt kritische Holocaust-Forscher*innen juristisch unter Druck. In den USA schwappt derweil eine freiheitsrhetorisch verbrämte Hasswelle gegen die Critical Race Studies über das Land. Wer in republikanisch regierten Bundesstaaten die Geschichte des Rassismus aufarbeiten möchte, kann schnell auf der Straße landen. Und in Frankreich hatte unlängst die Hochschulministerin Frédérique Vidal linke Studierende und Akademiker*innen als „nützliche Idioten der Dschihadisten“ bezeichnet. Wessen Wissenschaftsfreiheit ist wirklich bedroht?
Wir sollten uns eingestehen, dass Appelle zum Schutz von Freiheit dann besonders laut erklingen, wenn es um die Durchsetzung von Partikularinteressen geht. Bekenntnisse zur Wissenschaftsfreiheit müssen sich daran messen lassen, ob sie auch für diejenigen gelten, die sich gegen die Remarginalisierung benachteiligter Gruppen wehren. Alles andere wäre Schönwetterliberalismus. Ohne diese Selbstkontrolle bliebe vom Schreckbild der Freiheitsberaubung nicht viel mehr übrig als ein diskursives Feigenblatt, das legitime Deutungskonkurrenzen, ja, auch verbissen geführte Ressourcenkämpfe verdeckt. Dass in diesen Auseinandersetzungen Verletzungen entstanden sind, ist so bedauerlich wie unausweichlich. Dennoch: Eine demokratische Wissenschaftskultur braucht den Austausch, den kultivierten Dissens. Wer die Feinde der Freiheit innerhalb eines diverseren, streitlustigeren Wissenschaftssystems verortet, wird nur dafür sorgen, dass sowohl die Wissenschaft als auch die Freiheit Schaden nehmen.
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