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Atomkraft-Ausstieg 2022Grüne in der Atomkraft-Krise

Jahrzehnte haben die Grünen für ein Ende der Atomkraft gekämpft. Nun stecken sie zwischen Kurzzeitverlängerung und dem Ausstieg vom Ausstieg fest.

Die Idylle täuscht: Das AKW Isar 2 könnte trotz des Widerstands bei den Grünen noch länger laufen Foto: Frank Hoermann/SVEN SIMON/imago

Die Stimmung bei den Münchner Grünen ist am Dienstagabend angespannt. Es ist eine Woche her, dass sich die Spitze des Stadtverbands auch öffentlich dafür ausgesprochen hat, den Weiterbetrieb des Atomkraftwerks Isar II zu prüfen. An der Grünen-Basis ist der Aufruhr seitdem groß – jetzt soll eine Krisensitzung per Zoom helfen, die Mitglieder wieder einzusammeln.

Gar nicht so einfach. Der Chat in der Videokonferenz füllt sich schon, als der Fraktionsvorsitzende aus dem Rathaus noch sein Eingangsstatement hält. Es hätten sich nun mal neue Informationen zur Versorgungslage ergeben, sagt Dominik Krause. Im Rathaus hätten die anderen Fraktionen Druck gemacht. Und anders als die SPD, mit der man in der Stadt regiert, hätten sich die Grünen zumindest noch nicht auf eine Laufzeitverlängerung festgelegt, sondern eben erst mal auf die Prüfung.

„Ich sehe unsere Partei auch schon mitmachen“, schreibt ein User, den das nicht überzeugt. „Ich habe kein Verständnis für das Vorgehen“, meint der nächste. „Jetzt sind die Grünen umgekippt. Ich bin zutiefst enttäuscht“, tippt ein dritter.

Grüne rote Linie

Ein Vorgeschmack auf das, was die Partei in den nächsten Wochen im ganzen Land erwartet? Jahrzehntelang haben die Grünen für das Ende der Atomkraft in Deutschland gekämpft. Sehnlichst haben sie auf das Aus der letzten drei noch am Netz befindlichen AKW gewartet. Auf dem Parteitag versprach der hessische Bundesvorsitzende Omid Nouripour noch vor einem halben Jahr „Äppelwoi“ (zu Deutsch: Apfelwein) für alle, wenn es zum Jahresende endlich so weit ist. Selbst als die russische Invasion in die Ukraine schon seit Monaten lief und sich ein Gasmangel lange abzeichnete, wiesen die Grünen noch alle Forderungen nach mehr Atomkraft zurück: Scheindebatte, bringt doch nichts. Bei allen schmerzlichen Entscheidungen, die die Partei in den vergangenen Monaten mitgetragen hat, schien es hier noch eine rote Linie zu geben.

Seit zehn Tagen ist die Türe jetzt einen Spalt weit geöffnet. Seitdem lässt das Wirtschaftsministerium von Vizekanzler Robert Habeck nämlich erneut prüfen, ob die Stromversorgung im Winter wirklich gewährleistet ist. Im Vergleich zu einem ersten Stresstest im Frühjahr sind die Szenarien für die Berechnungen diesmal noch düsterer: noch größerer Gasmangel, noch höhere Preise, noch mehr Ausfälle französischer Atomkraftwerke.

Kurz vor der Entscheidung zum neuen Test hatten sich die Münchner Grünen an die Bundesspitze gewandt, zu dem Zeitpunkt noch ohne öffentliche Statements. Sie hatten gerade von den Münchner Stadtwerken, Miteigentümerin von Isar II, eine neue Lageeinschätzung erhalten. Die Fachleute dort hatten ihre vorherige Prognose, dass ein längerer Betrieb in der aktuellen Situation auf keinen Fall helfe, revidiert; auch sie verwiesen unter anderem auf die vielen AKW-Ausfälle in Frankreich, die sich auch auf die Stromnetze in Deutschland auswirkten.

Bundestag muss AKW-Ausstieg zustimmen

Die neuen Informationen aus Bayern trafen in Berlin auf eine öffentliche Debatte, die sich rasch zuspitzte. Union und FDP forderten immer vernehmbarer längere Laufzeiten. Widerspruch labelten sie als „ideologische Verbohrtheit“. Das SPD-geführte Kanzleramt sprang den Grünen nicht zur Seite. Und so stieg bei ihnen die Sorge, als Schuldige hingestellt zu werden, falls im Herbst die Energie tatsächlich nicht ausreicht.

Begleitend zum Stresstest versucht die Partei jetzt, im Blame Game wieder in die Offensive zu kommen. Kaum ein Gespräch mit den verantwortlichen Grünen vergeht ohne den Hinweis, dass nur die besonders prekäre Lage in Bayern, wo die CSU den Ausbau von Erneuerbaren und Stromnetzen verschleppt habe, die neue Prüfung nötig gemacht habe. Außerdem sei der Test natürlich ergebnisoffen und wenn überhaupt, gehe es am Ende höchstens um einen Streckbetrieb.

Soll heißen: Die AKW-Laufzeiten würden nur um wenige Monate unter Nutzung vorhandener Brennstäbe verlängert. Neuer Atommüll würde dabei nicht entstehen. Diesem Szenario stehen Forderungen aus Union und FDP entgegen, auch neue Brennstäbe zu beschaffen und die Kraftwerke insgesamt noch länger zu betreiben.

Doch die Kurzzeitverlängerung wäre kein Kinderspiel. Es müsste geklärt werden, ob Sicherheitsstandards herabgesetzt werden und ob der Staat die Haftung für den Fall eines Atomunfalls übernimmt. Das gesetzlich festgeschriebene Datum zum Atomausstieg – der 31. Dezember 2022 – müsste verschoben werden. Der Bundestag müsste zustimmen und damit auch die Grünen-Fraktion.

Einstieg, Ausstieg

Die hat in den letzten Monaten zwar so einiges mitgemacht. Diesmal deuten sich aber noch mal größere Bauchschmerzen an: Weil das Thema für die Grünen so identitätsstiftend ist. Weil die Sorge kursiert, dass eine Kurzzeitverlängerung der Einstieg in einen erneuten Ausstieg aus dem Ausstieg sein könnte. Und weil Zweifel daran bestehen, dass tatsächlich eine Versorgungslücke droht, die so groß ist, dass sie nicht durch verkraftbare Einsparungen beim Verbrauch geschlossen werden könnte.

Von einem Sonderparteitag ist in der Partei vereinzelt schon die Rede, sollte es auf hart auf hart kommen. Spätestens aber der reguläre Parteitag Mitte Oktober würde eine heiße Veranstaltung. Auch mit Landesverbänden könnte es Ärger geben. In Niedersachsen, wo mit dem AKW Emsland ebenfalls ein Kraftwerk steht, stehen im Herbst Landtagswahlen an. Spitzenkandidatin Julia Hamburg nannte eine Kurzzeitverlängerung am Mittwoch im Deutschlandfunk ein „fatales Einfallstor“.

Es könnte auch noch alles anders ausgehen. Der Stresstest könnte zum Ergebnis kommen, dass die Atomkraftwerke tatsächlich nicht weiterhelfen. Die Grünen könnten die Laufzeitverlängerung wieder kategorisch ablehnen und den Ideologie-Vorwurf locker zurückweisen: Man habe jetzt doppelt geprüft. Die Fakten hätten nun mal entschieden.

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19 Kommentare

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  • Bayern hat unter den großen Bundesländern den höchsten Anteil an erneuerbaren Energien in der Stromproduktion.

    www.bmwi-energiewe...st_infografik.html

    Aus kurzsichtiger Parteipolitik (die böse CSU) ausgerechnet Bayern als Problemland hinzustellen wird den EE-Befürwortern auf die Füße fallen, denn am Ende heißt es: glückliches NRW Dank fossiler Energie.

  • Wenn ich das richtig sehe, strahlt radioaktiver Müll Millionen von Jahren. Da scheint mir eine Laufzeitverlängerung (wenn sie den was bringt und möglich ist) um ein paar Monate völlig belanglos...

    • @mlevi:

      mal sehen ob Sie das auch noch so sehen, wenn in unserem Land noch vor des Streckbetriebs oder einer Landzeitverlängerung ein atomarer Unfall geschieht und die Folgen "hautnah" miterlebt werden können.



      Ist aschon beachtenswert, wie verantwortungslos Sie mit den zukünftigen Lebensbedingungen unserer Nachkommen umgehen - wohl auch eine(r) aus der Spassgesellschaft -wa?

  • jetzt wird deutlich, wie einschneidend die Verbotspropaganda von Lindner & Co auf die naiven (?) grünen Mandatsträger wirken konnte. Sie verhinderte, eine einschneidende und ehrliche Debatte darüber, wie der westlich geprägte Lebensstil sämtliche Grundlagen des Zusammenlebens systematisch zerstört. Dabei haben diejenigen, die gewählt worden sind, einen viel eingeschränkteren Scheuklappenblick als ihre Wähler*innen. Die zurückgehende Wahlbeteiligung ist auch mit darauf zurückzuführen, dass viele Menschen den Politikersprüchen einfach nicht mehr abnehmen, die Klimakrise in den Griff zu bekommen. Wie ost konnte ich erleben, dass selbst sich grün nennende Kandidat*innen nicht vom Einsparen von Energie und einer Begrenzung des Rohstoffraubes sprechen wollten und damit ablenkten, 'die Wirtschaft' in ihrer fast unbegrenzten Schaffenskraft werde es schon richten, setzte 'man' auf die richtigen Maßnahmen. Viele Mitmenschen erkennen durchaus, dass sich in ihrem Lebenswandel viel ändern muss. Selbst jetzt auf dem Frankfurter Flughafen vor den geschlossenen Schaltern Interviewte sagten ins Mikro: 'Es sollte doch meine letzte Flugreise sein' , bevor nichts mehr geht. Es ist eine Tragödie, dass wir in dieser Lage erleben müssen, wie gerade als 'grün' auftretende Typen wie Habeck und Baerbock eigentlich nur mit Luftschlössern herumexperimentieren und damit alles nur noch schlimmer machen, weil sie die Bedenken ihrer Wähler*innen konterkarieren und abwiegelen gegenüber einem -allerletzten- Notausstieg. Sie deuten die Mahnungen auf den nur noch wenigen nutzbaren CO²-Ausstoff um, indem sie sagen: Ein wenig dürfen wir noch, bevor dann alles umgestellt sein wird auf Erneuerbare. Sie tun so, als die Zauberworte Wind und Solar in Verbindung mit neuen Antriebstechniken sofort jeden Verbrauch von CO² bei Mensch und Natur quasi revolutionär umstellen und das auf Ansage von oben. Es sind insbesondere die 'Grünen' , die uns so ins Verderben schicken.

  • Die Regierung sollte sich nicht im Rückzugsgefecht der Atomkraftverfechter verfangen.

  • Besser spät als nie,... Jetzt sollte eine gründliche Aufarbeitung des Schadens erfolgen, welcher durch die Anti-Atomkraft Bewegung entstanden ist. Dieser dürfte immens sein.

    • @Julius Anderson:

      "Jetzt sollte eine gründliche Aufarbeitung des Schadens erfolgen", welcher tausende Generationen für die Endlagerung noch bevorsteht und Billionen Euros verschlingen wird?



      Dies dürfte noch immenser sein.

      • @Rudi Hamm:

        Diese Diskussion ist eine absolute Nebelkerze. Ein Blick in andere Länder hilft hier bei der Einordnung. Deutschland ist in dieser Sache seit Dekaden als Geisterfahrer unterwegs und unsere Medienwelt trägt eine erhebliche Mitschuld an der vollständigen Entsachlichung der Debatte.

        • @Julius Anderson:

          "Deutschland ist in dieser Sache seit Dekaden als Geisterfahrer unterwegs"



          Ganz und gar nicht, es gibt etliche andere Länder die bereits vor DE aus der Atomenergie ausgestiegen sind oder ebenfalls gerade dabei sind es zu tun.

        • @Julius Anderson:

          Und, kennen sie EIN Land bei dem die Entsorgungsfrage schon gelöst ist? Ich nicht!



          Also immer schon auf unsere nachkommen abwälzen.

          • @Rudi Hamm:

            Die Entsorgungsfrage eines Stoffmenge, die auf wenige LKW passen würde (auch wenn das technisch natürlich nicht möglich), ist ziemlich müßig. Ein Welt ohne radioaktive Stoffe gibt es nicht, gab es nie. Lassen Sie das Zeug doch einfach auf den Gelände der Kernkraftwerke stehen, da ist Platz für Jahrhunderte.

            • @Taztui:

              "Die Entsorgungsfrage eines Stoffmenge, die auf wenige LKW passen würde (auch wenn das technisch natürlich nicht möglich), ist ziemlich müßig."



              Ein Castor-Behälter wiegt beladen 107t, es gibt über 1000 Castorbehälter in Deutschland.

              "Lassen Sie das Zeug doch einfach auf den Gelände der Kernkraftwerke stehen, da ist Platz für Jahrhunderte."

              Wir reden von mehreren 100TAUSEND Jahren.

  • Wenn der zweiter Stresstest kein proatomares Ergebnis liefert, wird die FDP mit CDU/CSU und dem TÜV ein Gegengutachten aus der Schublade ziehen und dafür sorgen das nochmals sechs Kraftwerke bis 2025 laufen werden. Ist alles schon vorbereitet.

  • Eine Frage der Glaubwürdigkeit



    Die Kohlekraftwerke bleiben vorerst, Frackingas wird eingekauft, und nun wird vermutlich die AKW-Laufzeit verlängert. Waffen werden in Kriegsgebiete exportiert.



    Den Grünen darf man einfach nicht trauen, sie versprechen das blaue vom Himmel und machen dann doch das Gegenteil.

  • Es könnte auch noch anders laufen: Die Verlängerung der Laufzeiten scheitert an den Grünen, und im Winter fällt in Bayern der Strom aus. Wenn das länger dauert, gibt es Tote, denn es gibt viele Schwerkranke, deren medizinische Versorgung davon abhängt, dass 24/7 Strom fließt, und die Notstromaggregate der Krankenhäuser laufen nicht lange (wenn die Patienten es überhaupt ins Krankenhaus schaffen). Dann kommt das "Blame Game". Und das werden sich die anderen Parteien nicht entgehen lassen. 2023 ist Landtagswahl in Bayern.

    • @Budzylein:

      diese Landtagswahl wird sicher das ende der CSU sein, bei dem Blender an der Spitze kein Wunder.

    • @Budzylein:

      Schon einmal was davon gehört, was gerade in Sri Lanka los ist, wo es nur noch für wenige Stunden Strom gibt und wir heizen noch Pools, haben jede Menge Tiefkühlschränke im Keller und kaufen wie verrückt Klimaanlagen oder Heizradiatoren. Wer da auf Söder hereinfällt, macht sich mitschuldig an vielen Opfern, die heute schon im Süden anfallen bei Hunger und Durst. WElch ein Anspruch auf Kosten derjenigen, die heute schon an der Klimakatastrophe krepieren !!!

      • @Dietmar Rauter:

        TAZTUI hat ja schon gesagt, worin das gegenwärtige Elend in Sri Lanka seine wesentliche Ursache hat. Unabhängig davon würde in Sri Lanka niemand daran verhungern oder verdursten, dass in Bayern ein Atomkraftwerk länger läuft.

        Und: Ich habe weder einen Pool noch eine Tiefkühltruhe noch eine Klimaanlage noch einen Radiator, und ich will das auch alles nicht haben. Aber der Strom, der hierzulande für solche Geräte verbraucht wird, kommt nicht aus Sri Lanka und wird auch nicht den Menschen dort weggenommen.

      • @Dietmar Rauter:

        Sri Lanka ist politisch & wirtschaftlich destabilisiert, nachdem von oben die konventionelle Landwirtschaft verboten wurde. Da wurden die Folgen einer ausschließlich ökologisch betriebenen Landwirtschaft nicht richtig abgeschätzt.

        Ähnliches droht mit der deutschen Energiewende, da wurden die Folgen & Risiken zu sehr unter ideologischen Gesichtspunkten betrachtet. Die Grünen ahnen, dass ihnen das alles um die Ohren fliegt. Noch glauben die Leute alle Versprechungen zu den Erneuerbaren, aber irgendwann kommt der Tag der Wahrheit.