Ausbeutung auf Gemüsehöfen: Erntehelfer sollen selber zahlen
Saisonkräfte aus Osteuropa sollen auch dieses Jahr bis zu fünf Monate sozialversicherungsfrei arbeiten dürfen. Das fordern Agrarverbände.
Auf diesem Weg angestellte Osteuropäer*innen etwa müssen beispielsweise bei einer Corona-Erkrankung laut der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) die Behandlungskosten mitunter selbst zahlen. Zudem würden der deutschen Sozialversicherung hohe Summen an Beiträgen verloren gehen. 62 Prozent der Ende Juni 2019 registrierten rund 100.000 ausländischen Aushilfskräfte hatten nur eine Beschäftigung ohne reguläre Sozialversicherung, wie eine statistische Auswertung zeigt, die die Bundesagentur für Arbeit auf taz-Anfrage erstellt hat.
Die Agrarlobbyisten verlangen, eine Ausnahme für das Coronajahr 2020 zu verlängern. In normalen Jahren entfallen Beiträge zur Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung nur bei „kurzfristigen Beschäftigungen“ bis 3 Monaten oder 70 Arbeitstagen. Doch weil 2020 wegen der Coronapandemie weniger Erntehelfer*innen aus Osteuropa einreisen konnten als üblich, hat der Bundestag die Zeitgrenze in jenem Jahr angehoben.
„Für einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz der versicherungsfrei beschäftigten Saisonkräfte sorgen die Betriebe durch private Erntehelferversicherungen“, teilte Thomas Becker, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der gärtnerischen Arbeitgeberverbände, mit. „Das ist aber nur eine Empfehlung, der nicht alle folgen, und oft deckt die private Versicherung nicht alles ab“, sagte Harald Schaum, Vize-Chef der IG BAU. Auch wenn die Beschäftigten in einem anderen EU-Land versichert sind, müssten sie in der Praxis zuweilen selbst zahlen.
Die taz hatte im vergangenen Jahr über einen Landwirt berichtet, der Erntehelfer*innen gewarnt hatte, sie müssten die Kosten beispielsweise für einen Krankenwagen selbst übernehmen. Solche Saisonarbeitskräfte erhalten meist – wenn überhaupt – nur den gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 9,50 Euro pro Stunde, von dem sie dann auch noch Unterkunft und Verpflegung in Deutschland bestreiten müssen.
Arbeitgeber argumentieren mit Coronaschutz
Die Arbeitgeber begründen ihre Forderung, die Arbeiter*innen länger ohne reguläre Sozialversicherung beschäftigen zu dürfen, mit dem Schutz vor Corona: Dann würden die Arbeitskräfte länger bleiben, sodass weniger Menschen zwischen Deutschland sowie den Herkunftsstaaten reisten und dabei womöglich das Virus weitertragen, so das Argument.
Gewerkschafter Schaum aber sagt: „Wenn es eine kürzere Zeit wäre, wäre das Risiko noch mehr verringert.“ Tatsächlich haben sich im vergangenen Jahr viele Erntehelfer*innen auf deutschen Bauernhöfen mit Corona infiziert, auf denen sie meist in Mehrbettzimmern untergebracht waren und wo zuweilen die Mindestabstände nicht eingehalten wurden. Ein Gemüsehof im bayerischen Mamming mit 250 Fällen war laut Robert-Koch-Institut im Sommer zeitweilig der größte Infektionsherd bundesweit. Eine Ukrainerin musste auf der Intensivstation behandelt werden.
In Baden-Württemberg starb ein rumänischer Spargelstecher, nachdem er sich angesteckt hatte. Der Bauernverband jedoch verweist auf „weitreichende Infektions- und Arbeitsschutzmaßnahmen“. „Dass diese gewirkt haben, zeigt das nur geringe Infektionsgeschehen in landwirtschaftlichen Betrieben.“ Ohne die ausländischen Helfer*innen, so der Verband, können wichtige jetzt anstehende Arbeiten im Betrieb und auf dem Feld nicht erledigt werden. „Das gefährdet letztlich die Versorgung der Bevölkerung mit frischen Lebensmitteln.“ Laut Schaum würde es aber genügend zu essen geben, wenn die Bauern ihre Mitarbeiter, wie von der IG BAU gefordert, schon ab dem ersten Tag gesetzlich krankenversicherten.
„Selbst im letzten Jahr war die Versorgung gesichert“, als bedeutend weniger als die sonst üblichen 300.000 Saisonarbeitskräfte gekommen seien, sagte der Gewerkschafter. Viele Betriebe hätten zum Beispiel Studenten aus dem Inland eingestellt. Die Gewerkschaft sieht auch keine Gefahr, dass Deutschland mehr Gemüse importieren muss, falls die hiesigen Bauern etwas mehr für ihre Aushilfen zahlen müssten. Wenn ein Erntehelfer stündlich etwa 10 Kilogramm Spargel sticht und den Betrieb 3 Euro je Stunde mehr kostet, würde das den Preis nur um 30 Cent verteuern.
Dennoch hat Bundesagrarministerin Julia Klöckner (CDU) die Forderung nach der Verlängerung der 115-Tage-Regelung unterstützt. Dem müsste jedoch Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zustimmen. Sein Ministerium teilte mit, jede auch nur vorübergehende Erweiterung der Zeitgrenzen sei „mit dem notwendigen sozialen Schutz der Beschäftigten abzuwägen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Sensationsfund Säbelzahntiger-Baby
Tiefkühlkatze aufgetaut