Aufarbeitung der Pandemie-Maßnahmen: Keine Schule der Solidarität
Sollen die Coronamaßnahmen „aufgearbeitet“ werden? Die erschreckende Befürchtung ist, dass vernünftige Diskurse gar nicht mehr möglich sind.
E ines der eigenartigsten Phänomene der Geschichte ist, wie wenig die Spanische Grippe (1918 bis 1920) Eingang in Erinnerungsliteratur, Geschichtsschreibung oder Popkultur gefunden hat. Immerhin forderte die Influenzapandemie mit veranschlagten bis zu 50 Millionen Opfern bis dato mehr Todesopfer als jede andere Krankheit. Aber schon in der zeitgenössischen Publizistik war sie nur eine Randnotiz, kam gar nicht vor zwischen den Leitartikeln zu Revolution, dem Sturz von Kaiserhäusern, Kriegsende, Bolschewismus oder dem Ringen um Demokratie.
Hinterher war das Massensterben schnell verdrängt. Dass dieses Desaster so frappierend wenig Eingang in das kollektive Gedächtnis fand, führen kluge Köpfe daher auch auf folgende Tatsache zurück: Es gibt so wenige Episoden, die erlauben, sich darüber Heldengeschichten zu erzählen. Im Gegenteil, die Menschen mochten nicht, was die Epidemie aus ihnen machte: Egoisten nämlich, die nur überleben wollen. Seuchen sind keine Schule der Solidarität. Man kann das heute etwas besser nachvollziehen.
Jens Spahn, während der Coronajahre Gesundheitsminister, ist ja nicht für besonders intellektuelle Heldentaten berühmt, aber er hat am Höhepunkt der Pandemie einen tiefsinnigen Satz gesagt: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“ Am liebsten würden wohl sehr viele die Jahre einfach abhaken. Die Coronapandemie hat zu sehr vielen Zerwürfnissen geführt, zu hysterischen Debatten, die bis in die engsten Freundes- und Familienkreise hineinreichte.
Maßnahmenbefürworter gegen Maßnahmenskeptikerinnen, die einen verdammten die Impfung, die anderen luden sich „Stay at home“ in ihre Social-Media-Porträts. All das war nicht bloß „kontrovers“, sondern voller Emotionalität und Wut. Ärztinnen wurden gemobbt, im Einzelfall sogar in den Tod getrieben. Andererseits fühlten sich Leute arg an den Rand gedrängt, nette Hippies, die auf Homöopathie oder Meditation stehen, sahen sich plötzlich als „Schwurbler“ und „Ungeimpfte“ in einer Weise gesellschaftlich geächtet, die sie als gemein und brutal empfanden.
Mal über-, mal unterschätzte Gefahr
Und nun gibt es da zwei Möglichkeiten. Möglichkeit eins: einfach vergessen. Möglichkeit zwei: „aufarbeiten“, was immer das sein könnte. „Wir werden darüber reden müssen, sonst fliegt uns das alles noch einmal um die Ohren“, sagte unlängst ein Mediziner und Public-Health-Experte zu mir, der seinerzeit öffentlich eine akzentuierte Stimme war. Grundsätzlich können sich auch im öffentlichen Bereich viele eine „Aufarbeitung“ vorstellen, man hört, die Idee einer Enquetekommission im Bundestag findet wachsende Akzeptanz.
In Österreich hat die Bundesregierung sogar die Akademie der Wissenschaften mit der Erstellung einer Studie beauftragt. Die Studie ist übrigens ziemlich gescheit. Man hat sie in einer Pressekonferenz am 21. Dezember präsentiert. Das war der Donnerstag vor dem Weihnachtswochenende. Man wollte, dass sie untergeht.
Ein verschwörungstheorienahes Internetportal hat die Protokolle des Robert-Koch-Instituts freigeklagt, und natürlich werden die Tausenden Seiten jetzt als Dokument des „Beweises“ verkauft, wie wir manipuliert, eingesperrt oder was auch immer wurden. Dabei findet man in den Diskussionsmitschriften das genaue Gegenteil: Wissenschaftler und Experten, die auf Basis unsicheren Wissens und angesichts von sich ständig ändernden Fakten und Beweisgrundlagen ihre Empfehlungen ableiten.
Man sieht, was man wann wusste oder zu wissen glaubte. Erst unterschätzte man die Gefahr, dann überschätzte man sie vielleicht. Bald ging man von einer Fallsterblichkeit von rund 3 Prozent aus, was in Deutschland viele Hunderttausend Tote bedeutet hätte. Man diskutierte kontrovers über Ausgangsbeschränkungen, Lockdowns, deren Länge, hatte früh Sorge vor den psychosozialen Auswirkungen, man war sich bald bewusst, dass man die kleinen Kinder und jungen Schulkinder eher in Ruhe lassen sollte.
Schwierige Bedingungen für die Politik
Politiker und Politikerinnen wiederum mussten auf Basis von Empfehlungen, unter den Bedingungen von Ungewissheit Entscheidungen treffen, die manchmal richtig, manchmal zu lasch, manchmal zu streng ausfielen. Die Normbetroffenen, wie die Bürger im Fachjargon heißen, reagierten gereizt. Die einen fühlten sich einem unnötig hohen Todesrisiko ausgesetzt, die anderen durch autoritäre Maßnahmen gegängelt, und ganz generell war man auf viel existenziellere, eklatantere Weise von Regierungshandeln betroffen, als das sonst der Fall ist.
Zur Aufarbeitung würde natürlich auch die Erörterung der Frage gehören, wie klar und eindeutig eine Risikobeurteilung sein muss, um massiv in individuelle Freiheitsrechte einzugreifen, weil generell die ewige Spannung im demokratischen Rechtsstaat die zwischen bindenden Regeln einer sozialen Ordnung und den individuellen Freiheitsrechten des Einzelnen ist. Auch die Frage von ungerechtfertigten Doppelstandards wäre ein Thema, da die Zustimmung zu Maßnahmen zusammenbricht, wenn die Leute das Gefühl haben, dass es nicht gerecht zugeht.
In Österreich durfte man etwa in Gondeln zum Skifahren, aber nicht ins Theater. Andererseits: Politiker waren auch gehetzt, hinkten logischerweise oft den Aufgaben hinterher und mussten Hunderte Parameter berücksichtigen, nicht nur gesundheitliche, sondern auch ökonomische. Österreichs Gesundheitsminister hat tagsüber 16 Stunden regiert und nachts die neuesten Studien gegoogelt und durchgeackert, was ganz persönlich schlecht für das Thema ist, was der Amtsträger im Titel trägt, die Gesundheit nämlich.
Was, wenn es möglich wäre, die Gereiztheit in ein ruhiges, maßvolles öffentliches Gespräch aufzulösen? Mein Verdacht ist, dass wir das Vertrauen in die Möglichkeit von Diskursen schon verloren haben. Und das ist eigentlich das wirklich Beängstigende.
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