Nach der Pandemie: Was von Corona übrigbleibt

Die Infektionszahlen sinken, in Deutschland sind die letzten Schutzmaßnahmen ausgelaufen, offiziell sind sie nicht mehr nötig. Aber stimmt das?

Eine Frau liegt in einem Bett mit einem Kopfkissen, das die Aufschrift "Nicht genesen" trägt

Initiative „Nicht Genesen“ protestiert vor dem Bundesministerium für Bildung und Forschung Foto: Florian Boillot

BERLIN taz | „Wenn Corona vorbei ist“: So klang sehnsüchtiges Plänemachen ab 2020 lange. Oder so: „Wenn die Pandemie vorbei ist“. Die Begriffe bedeuteten dasselbe – die Bedrohung durch das Virus sollte verschwinden, damit man wieder in Ruhe leben konnte. Deshalb ist es kein Wunder, dass das ausgerufene Ende der Pandemie weiträumig als „Corona ist vorbei“ verstanden wird. Dabei ist mit Blick auf Betroffene und Forschung klar, dass die beiden nun getrennte Wege gehen: Die Pandemie, gemessen an weltweiter Zirkulation mit großen akuten Fallzahlen, hat sich zurückgezogen. Corona hat sie hiergelassen.

Mit dem 7. April lief der letzte Rest von Paragraph 28b des Infektionsschutzgesetzes aus. Darin waren seit Oktober bundesweite Maßnahmen geregelt. Maskenpflicht in Bahn und Gesundheitseinrichtungen waren ja längst ausgenommen, und ab jetzt muss niemand mehr eine Maske tragen, nicht mal verschniefte Personen in einer Arztpraxis (es sei denn, die Praxis bleibt per Hausrecht dabei – aber das ist eine individuelle Entscheidung). Seit dem Ende der Isolationspflicht für Infizierte und dem Verschwinden von Testroutinen lässt sich nun unmöglich wissen, ob man gerade neben einer infektiösen Person atmet.

Natürlich ist die Situation nicht dieselbe wie 2020. Das RKI stufte die Gefährdung für „die Gesundheit der Bevölkerung“ bekanntermaßen vor zwei Monaten von „hoch“ auf „moderat“ herunter und begründete das mit einem Rückgang bei Übertragung, Krankheitsschwere und Belastung des Gesundheitssystems. Dies wiederum sei Folge der durch Impfungen und Infektionen erreichten „breiten Bevölkerungsimmunität“. Mit Krankheitsschwere ist hier die akute Infektion gemeint, das, womit Corona sozusagen „berühmt“ wurde: Intensivstation, Beatmung, Bauchlage, Tod. Diese Gefahr ist für die Gesamtbevölkerung deutlich gesunken.

Aber wieso heißt es eigentlich Bevölkerungsimmunität, wenn sich so viele Menschen entgegen der Empfehlungen immer wieder neu mit Corona anstecken? „Das kann auf individueller Ebene stark variieren“, sagt eine RKI-Sprecherin der taz. Das ist logisch, aber vielleicht nicht jedem bewusst.

Hashtags wie #Covidisnotover kursieren

Abgesehen von individuellem Ansteckungs- und Verlaufsrisiko: Was nach der Infektion kommt, ist längst die große Frage – die aber nun nicht mehr die gesamte Gesellschaft umtreibt. Ein Teil blickt dennoch weiterhin besorgt auf immer neue Erkenntnisse der Forschung. Bei Twitter gibt es Posts, nicht nur aus Deutschland, mit Hashtags wie #Covidisnotover #dieMaskebleibtauf oder #TeamVorsicht. Sie beklagen, dass weiterhin vorhandene Gefahren politisch und gesellschaftlich verharmlost werden.

Long Covid dürfte auch unbesorgten Menschen ein Begriff sein, grob assoziiert mit „nicht wieder richtig fit werden“. Vom Post Covid Syndrom (PCS) spricht die WHO bei Symptomen, die drei Monate nach der Infektion noch bestehen oder wiederkehren. Wie gravierend das sein kann, wie viele Symptome und Krankheiten darunter fallen können: Der Gedanke daran lässt sich leicht wegschieben, solange man nicht betroffen ist – und warum auch nicht, das ist ja menschlich.

Dass das Virus an vielen Stellen im Körper Schaden anrichten kann, ist längst bekannt. Beispiel Gehirn: Ein Forschungsteam der University of Waterloo in Kanada untersuchte die Verbindung zwischen einer Corona-Infektion und kognitiven Problemen. In einem Laborversuch lösten 120 geimpfte Menschen spezifische Aufgaben, während ihre Gehirnfunktion mit einem Bildgebungsverfahren beobachtet wurde. Ergebnis der im März veröffentlichten Studie: Probanden, die in den Monaten zuvor Covid-19 gehabt hatten, zeigten geringere Aufmerksamkeitskontrolle und höhere Impulsivität als die bis dahin nicht Infizierten. Dies wiederum kann mit psychiatrischen Problemen wie Ängsten und Depression verknüpft sein.

Zentral war für die Forschenden diese Beobachtung: Die zuständigen Areale im Gehirn der Betroffenen wurden während der Bearbeitung der Aufgaben nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Bis dahin eine vermutete Ursache für kognitive Probleme nach einer Infektion, jetzt konnten sie es zeigen. Fragen schließen sich an – warum ist das so, wie genau hängt dies mit berichteten psychiatrischen Symptomen zusammen, wie lange hält es an? Die Forschung geht weiter.

Das RKI bewertet die Postcovid-Studienlage aktuell so: Sie zeige eine statistische Häufung bestimmter gesundheitlicher Probleme bei Menschen nach einer Infektion – auch nach einer ohne den sogenannten schweren Verlauf. Dazu gehörten neben neurologischen Auffälligkeiten beispielsweise Verschlechterungen der Lungenfunktion, Einschränkungen der Nierenfunktion, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen wie Diabetes mellitus.

Allein in welchem Umfang Organkomplikationen und neue, chronische nichtübertragbare Krankheiten auftreten, lasse sich aktuell nicht sicher abschätzen. Es gebe noch keine systematische quantitative Erfassung gesundheitlicher Langzeitfolgen insgesamt. Und noch müsse man auch davon ausgehen, dass die Ergebnisse aus bestimmten Gründen verzerrt sein könnten – etwa wegen einer möglicherweise erhöhten Aufmerksamkeit für Beschwerden bei den Betroffenen oder behandelnden Ärzt*innen.

Zahlen der GKV zeigen Häufung verschiedener Diagnosen

Die Tendenz der Beobachtungsstudien finde sich aber in Zahlen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wieder: Anhand von umfassenden Analysen zeige sich, „dass verschiedene körperliche und psychische Diagnose- und Symptomkomplexe bei Personen mit einer vorangegangenen COVID-19-Erkrankung deutlich häufiger dokumentiert wurden als bei Personen ohne eine nachgewiesene SARS-CoV-2-Infektion“, fasst das RKI zusammen.

Im RKI-Bericht zum herabgestuften Gesundheitsrisiko vom Februar steht auch nicht: Corona ist vorbei. Sondern: Das Virus zirkuliert weiterhin in der Bevölkerung – was im Grunde jedem klar sein müsste, der mit anderen Menschen zu tun hat, sei es im Freundeskreis, in Schulen, beim Job, auf dem Amt. Auch jüngere, gesunde Menschen können weiterhin Landzeitfolgen entwickeln, auch wenn sie selten einen schweren Verlauf oder gar den Tod bei einer Ansteckung riskieren. Fazit der RKI-Risikobewertung: „Die Vermeidung einer Infektion ist damit grundsätzlich sinnvoll.“ Eine klare Aussage.

Bis zu 15 Prozent der Infizierten von Long Covid betroffen

Im letzten Wochenbericht wurde die aktuelle Zahl von Covid-Infizierten mit akuten Atemwegssymptomen auf 300.000 bis 600.000 geschätzt. Für die Beobachtung der Lage ist die Zahl schwer verlaufender Erkrankungen, gemessen an Krankenhauseinweisungen, jetzt aussagekräftiger als die Meldungen von Infektionen – getestet wird ja kaum noch. Tendenz jedenfalls laut RKI derzeit: sinkend.

Aber gehen wir also von 500.000 Infizierten in der letzten März-Woche aus. Etwa 15 Prozent von ihnen dürften verschiedenen Studien zufolge von einer Form von Long Covid betroffen sein. In absoluten Zahlen: 75.000 Menschen.

Das RKI betont, dass nicht bei allen Betroffenen die Symptome den Alltag einschränken und viele sich wieder ganz erholen. In einer neuen Bewertung der Studienlage geht ein Ex­per­t*in­nen­team im Ärzteblatt davon aus, das die Hälfte der erwachsenen Postcovid-Betroffenen mehr als ein Jahr lang Symptome hat. Im Rechenbeispiel wären das dann 37.500. Von diesen erlebten 20 Prozent schwere Einschränkungen im Alltag. Das wären dann 7.500 Menschen, deren Leben nicht mehr dasselbe ist, die zuvor Alltägliches nicht mehr bewältigen können. 1,5 Prozent der ursprünglich Infizierten – das klingt nicht viel. Aber bei millionenfacher Ansteckung über die letzten und mutmaßlich die kommenden Jahre sind die absoluten Zahlen die, auf die es ankommt.

Corona ist noch da. Wie sehr die Menschen das damit einhergehende Risiko interessiert, kann ebenfalls auf individueller Ebene stark variieren.

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