Auch Hannover spricht nicht Hochdeutsch: Jedes Deutsch ist gepanscht
Die Hannoveraner sprechen gar kein so reines Hochdeutsch, wie sie bisher dachten. Das haben SprachwissenschaftlerInnen nachgewiesen.

In einer repräsentativen, bundesweiten Forsa-Umfrage des Projekts „Die Stadtsprache Hannovers“ des Deutschen Seminars der Leibniz Universität Hannover und der Gesellschaft für deutsche Sprache hatten 39 Prozent der Befragten, die dazu eine Meinung hatten, Hannover als den Ort genannt, an dem das beste Hochdeutsch zu hören sei.
Das Projekt „Die Stadtsprache Hannovers“, von Anfang 2020 bis Frühjahr 2024 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, ist der Sache auf den Grund gegangen. Sprachliche Realität ist: Auch in Hannover wird kein reines Hochdeutsch gesprochen.
Sprache ist individuell, ist hochkomplex, je nach der Sprechsituation, dem Alter und dem Geschlecht der Sprechenden, dem Bildungsgrad, der Sozialisation, dem Stadtviertel, der sozialen Stellung. Ehrenrettung für Hannover: Reines Hochdeutsch erklingt nirgendwo in Deutschland.
Im Mittelpunkt: die Aussprache
Pech also für die Stadt Hannover, die auf ihrer Homepage als einen der 66 Gründe, die für Hannover sprechen, anführt: „Wussten Sie, dass Hannover das reinste Hochdeutsch spricht?“ Auch eine Alternative haben Lokalpatrioten nicht: In Hannover wird kein Dialekt gesprochen.
Leiter des Projekts „Die Stadtsprache Hannovers“ war der Linguist François Conrad von der Leibniz Universität. Der Kern war ein Sprachexperiment: 100 Personen, im Stadtgebiet lebend, aufgewachsen und zur Schule gegangen, ausgewählt aus knapp 600 Freiwilligen, wurden mehrere Stunden lang befragt und getestet.
„Auffällig war, dass sich viele Lehrerinnen mittleren Alters bei uns gemeldet haben“, sagt Conrad. „Aber wir wollten natürlich einen möglichst breiten Horizont, vom Beruf bis zur Herkunft der Eltern.“ Das Ziel war, Standard-Konformes und Standard-Divergentes zu identifizieren, Kenntnisse und Meinungen über Sprache zu erfassen.
Die ProbandInnen mussten Texte vorlesen, Satzglieder zusammenfügen, Bilder beschreiben, Städten der Region zuordnen, Fehler finden und korrigieren. Sie mussten Lückentexte ergänzen wie: „Wenn man in Deutschland aus dem (Bild: Mensch in Sträflingskleidung hinter einem Gitter) ausbricht, ist das nicht strafbar.“ Im Mittelpunkt bei alldem: die Aussprache.
François Conrad, Linguist an der Leibniz-Uni
Das jahrhundertealte, heute sterbende „Hannöversche“ hat Conrads Team untersucht, eine städtische Umgangssprache zwischen Hoch- und Niederdeutsch. In anderen norddeutschen Städten wurden Vergleichsstudien angestellt, von Wunstorf bis Minden, von Celle bis Braunschweig. Das Ergebnis: Mythos erledigt. Reine Fiktion.
Aber der Mythos ist hartnäckig. Conrad erzählt von empörten Briefen, in denen ihm „Hannover-Bashing“ vorgeworfen wird: „Jetzt machen Sie uns auch noch unsere schöne Sprache kaputt!“ Andere Hannover-Verteidiger zeigten sich „schockiert“, dass „für ein solch nichtiges Thema“ Forschungsgelder zur Verfügung standen.
„Das berührt mich durchaus auch emotional“, sagt Conrad zu dieser Wissenschaftsfeindlichkeit. „Das verletzt auch ein bisschen. Aber für manche Menschen bricht dadurch offenbar ein Teil ihrer Identität weg.“
Manche der 100 Befragten antworteten auf die Frage, was Hochdeutsch sei, schlicht mit: „Was ich spreche!“ Die Begründung: „Ich komme ja aus Hannover!“ Einer ihrer Lerneffekte: In vielen Städten der Region Hannover wird fast genauso gesprochen wie in Hannover. „Das ähnelt einander sehr stark“, sagt Conrad.
„Keese“ statt „Käse“
Conrad ist kein Normierer; er analysiert. Da geht es dann um „Keese“ statt „Käse“, um „Füsch“ statt „Fisch“. In seinem Science-Slam „Bestes Hochdeutsch und wenn ja, wo?“ hat Conrad im Herbst 2022 in Köln SprachwissenschaftlerInnen die „Chirurginnen und Chirurgen der Geisteswissenschaft“ genannt.
Sein Slam hat den Widerspruch zwischen objektiver „Sprache im Mund“ und subjektiver „Sprache im Kopf“ skizziert: Zwischen dem, was Hannoveraner über ihr Sprechen denken und dem, was Hannoveraner sprechen, klafft eine Lücke. Sie klafft auch zwischen den Generationen: Während die Sprache Älterer noch stärker regionalbehaftet ist, sprechen Jüngere hochdeutscher. Hannover ist also auf dem Weg zu seinem Ideal – wobei Conrads 17-köpfiges Team weiß, dass dieses Ideal nie erreicht wird.
2025 werden alle Endergebnisse vorliegen. Aber den Kern kennen wir schon heute. Zu ihm gehört: Nur 35 Prozent der befragten Hannoveraner haben an Tonbeispielen Personen aus Hannover erkannt.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Wahlentscheidung
Mit dem Wahl-O-Mat auf Weltrettung