Orientierung im Flachland: Die Tricks der Nordfriesen

Der Kieler Frisist Christoph Winter weist nach, dass die Nordfriesen ein Koordinatennetz nutzten, das auf der Flachheit der Landschaft beruht.

Windräder und Büsche auf Stoppelfeldern

Orientierungsmarken, wie es sie früher nicht gab: Windräder in der nordfriesischen Landschaft Foto: Frank Molter/dpa

OSNABRÜCK taz | Nordfriesland. Wer den rauen Küstenstreifen im Nordwesten von Schleswig Holstein beschreiben will, mit seinen Inseln und Halligen, sagt meist eins: flach. Und das zu Recht. Ebenen, so weit das Auge reicht.

Aber mit Ebenen ist das so eine Sache: Es ist schwer, sich auf ihnen zurechtzufinden, genau zu benennen, wo man sich befindet, wohin man sich bewegt. Die höchste Erhebung Nordfrieslands, der Sandesberg bei Husum, fällt mit ihren knapp über 50 Metern kaum auf. Bleiben nur ein paar Bauwerke.

Wer wissen will, wie die Bewohner dieses Landstriches sich orientiert haben, bevor es das GPS gab, wie Menschen und Dinge verortet und diese Verortung versprachlicht haben: Der fragt am besten den Frisisten Christoph Winter. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Skandinavistik, Frisistik und Allgemeine Sprachwissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU).

Winters Dissertation „Der Kompass der Nordfriesen. Sprachliche Kodierung absoluter Orientierung am Beispiel der Himmelsrichtungen und Richtungspartikel im Nordfriesischen“ ist jüngst als Buch erschienen. Dass ihm die Hamburger Akademie der Wissenschaften 2023 den Elise-Reimarus-Preis verliehen hat, war dabei eine große Hilfe. Der Preis fördert geistes- und sozialwissenschaftliche Monografien, verbunden mit bis zu 4.000 Euro Publikationskostenzuschuss. Winter erhielt die volle Summe.

Absolutes Orientierungsvermögen

Moment: Frisistik? Ja, das wird ohne „ie“ geschrieben und ausgesprochen, obwohl es dabei ja um Friesland geht und man zuweilen auch „Friesistik“ liest und hört. Wissenschaft ist eben zuweilen ein bisschen rätselhaft. Auch, womit sich ein Frisist befasst, muss Winter oft erst mal erklären: mit Sprache, Literatur und Geschichte, plus Landeskunde. „Da sind manche schon ein bisschen verwirrt“, sagt er.

Um zu zeigen, dass den Nordfriesen einst ein „absolutes Orientierungsvermögen“ eigen war, hat Christoph Winter Orts- und Richtungsbeschreibungen untersucht. Schriftquellen der Dialekte Nordfrieslands hat er ausgewertet, SprecherInnen des Nordfriesischen befragt.

Zwei „Strategien der Objektlokalisation“ traten dabei zutage, beide bis ins 20. Jahrhundert im Sprachgebrauch des Alltags: Die geographische Verwendung von Richtungspartikeln (wie rauf, runter, raus, rüber und rum) und die Verwendung von Himmelsrichtungen, auch wenn es um Dinge geht, die klein sind, ist nicht ortsfest.

Das klingt dann schon mal etwas seltsam: Da verfängt sich „das östlichere Bein“ in einem Sack, oder jemand hat einen Fleck auf seiner „westlichen Backe“. „Rauf“ war mit dem bloßen Auge oft gar nicht zu erkennen, aber das Wissen um Höhenunterschiede, so gering sie auch sind, kann zwischen Land und Meer lebensentscheidend sein.

Das Wissen um Höhenunterschiede, so gering sie auch sind, kann zwischen Land und Meer lebensentscheidend sein

Hilfreich war insbesondere die Ausrichtung der Häuser, traditionell mit den Kurzseiten nach Westen und Osten, denn aus Westen kommt der Wind. Diese Landmarken, im Flachen weithin sichtbar, seien ein „Raster für mentale Karten“ gewesen, sagt Sprachwissenschaftler Winter.

Wer Winters Argumentation folgt, bewegt sich zwischen Amrum und Helgoland, zwischen Keitum und Dagebüll. Es ist eine weite Gedankenreise mit zahlreichen Abzweigungen.

Es geht um Bauliches wie „Sörrermürr“ (Südmauer) und „Noordweerstkamer“ (Nordwestkammer). Es geht um die Lokalisation von Einwohnern, etwa wenn jemand „Paul Hinerisen, di wääster“ heiratet (Paul Hinerisen, den westlich(er)en). Und wenn es heißt, „her Oogen din’n fleäg Siid’n en Noorn“ (ihre Augen, die flogen nach Süden und Norden) ist damit gemeint: in alle Richtungen.

Absolute Orientierung, abzulesen an der Sprache, gibt es also auch in Europa. Nicht nur in der Mayasprache Tzeltal, in Mexiko. Oder bei der Merina-Ethnie in Madagaskar. Oder bei den Guugu Yimidhirr-Aborigines in Queensland, Australien.

Akademische Erfahrung hilfreich

Wer sich Winters „Kompass der Nordfriesen“ bis ins Detail erschließen will, sollte solide akademische Erfahrung mitbringen, zumal als SprachwissenschaftlerIn. Leicht ist die Lektüre selbst dann nicht.

„Das Orientierungsvermögen beruhte auf topographischen und meteorologischen Merkmalen des nordfriesischen Milieus sowie auf davon abhängigen siedlungsstrategischen Traditionen“, resümiert Winter in seinem „Kompass“, „und setzte jeweils kulturspezifisches Wissen voraus, wodurch es ein klares Beispiel für den Zusammenhang von Kognition, Kultur und Sprache darstellt.“ Sätze wie dieser erfordern Durchhaltevermögen. Aber wer sie liest, sieht Nordfriesland beim der nächsten Fahrt Richtung Sylt mit anderen Augen.

Das Nordfriesische ist für Christoph Winter übrigens nicht nur ein Forschungsgegenstand, es ist Teil seiner ganz persönlichen Geschichte. Winter ist in Niebüll geboren, einer nordfriesischen Kleinstadt, keine 20 Minuten Fahrt von der dänischen Grenze entfernt. In seinem Umfeld wurde Friesisch gesprochen; in der Grundschule hatte er es als Unterrichtsfach. Zeitweilig hat er ein altes Friesenhaus bewohnt.

Wenn alles gut läuft, könnte Winter seinem Doktortitel bald eine Juniorprofessur anfügen. Aber das steht noch in den Sternen – nach denen sich bekanntlich ebenfalls navigieren lässt. Fest steht für ihn allerdings: „Das Thema wird mich nicht loslassen.“

Was wohl passiert wäre, hätte ein Nordfriese im 18. Jahrhundert Georg Christoph Lichtenbergs Aphorismus gelesen: „Er mäanderte wohl dreimal um die Stelle herum“? Vermutlich hätte er sehr den Kopf geschüttelt.

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