Atomenergie in Frankreich: Aktenzeichen AKW… ungelöst
Die Hälfte von Frankreichs Atomreaktoren steht still, weil veraltet. Präsident Macron plant ein Neubauprogramm. Doch Energiekrise ist jetzt.
Laut Umfragen wächst in Frankreich die Zustimmung zur Atomenergie. 2021 bewerteten sie 50 Prozent der Befragten als Alternative zu fossilen Brennstoffen in der Klimapolitik als positiv, nur 15 Prozent waren klar entgegengesetzter Ansicht. Zwei Jahre zuvor betrug der Anteil der AKW-Gegner hingegen noch 34 Prozent.
Das Resultat der neueren Umfrage freut den Auftraggeber – es handelt sich um die staatliche Firma Orano, die für den gesamten Brennstoffzyklus zuständig ist – und könnte doch in der Tendenz richtig sein. Aus Pragmatismus oder einer gewissen Resignation heraus meinen offenbar viele Französinnen und Franzosen, dass sich die für die Energieversorgung so wichtige Atomenergie bis auf Weiteres nicht durch erneuerbare Energien ersetzen lässt – oder sogar die Lösung für die derzeitigen Probleme sein könnte.
Denn zur Erderhitzung und der Notwendigkeit, den CO2-Ausstoß rasch und stark zu vermindern, kommt nun die durch ausbleibende russische Lieferungen entstandene Energiekrise hinzu. Weniger denn je scheint es für Frankreich, das rund 70 Prozent seiner Elektrizität mit Atomreaktoren produziert (sofern sie gerade funktionieren!), in absehbarer Zeit denkbar, den Energiebedarf anderweitig zu decken.
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Mehr denn je will darum die heutige Staatsführung neue Atommeiler bauen lassen: Präsident Emmanuel Macron hat gleich sechs vom Typ EPR bestellt und weitere acht für später als Option vorgesehen. Und fast niemand sagt derzeit dazu: Nein danke! Wenigstens könnte man fragen, wie Frankreich die Zeit bis zur Inbetriebnahme dieser neuen Reaktoren zu überbrücken gedenkt. Denn die Energiekrise ist heute und morgen, da helfen keine hypothetischen Reaktionen, die erst in zehn oder gar zwanzig Jahren greifen.
Um seine pharaonischen Pläne zu verwirklichen, hat Emmanuel Macron die Verstaatlichung des Energiekonzerns EDF (Électricité de France) angekündigt. Der einstige Monopolbetrieb ist zwar auch heute noch zu 84 Prozent in öffentlichem Besitz, doch mit 100 Prozent des Kapitals müsste der Staat sich von niemandem mehr dreinreden lassen – damit zumindest rechtfertigt die Regierung diese Rückkaufofferte.
Sie will pro Aktie 12 Euro bezahlen; die Kleinsparer, die 2005 bei der Teilprivatisierung je 32 Euro bezahlt hatten, fühlen sich heute übervorteilt. Doch auch für den Staat bedeutet der Kauf nicht unbedingt einen tollen Schnitt, muss er doch mit den Aktien auch die Schulden des Energiekonzerns vollumfänglich übernehmen, die sich zum Ende des Jahres auf geschätzte 65 Milliarden Euro belaufen. Allein im ersten Halbjahr 2022 machte EDF 5,3 Milliarden Euro Verlust. Die Investitionen und die Kosten der Entsorgung, die auf das Staatsunternehmen zukommen, drohen noch einmal astronomisch hoch zu werden. Kein Privatunternehmen würde solche Risiken eingehen.
Emmanuel Macron will mit dem forcierten Atomprogramm Frankreichs Unabhängigkeit in der Energieversorgung sicherstellen. Tschernobyl und Fukushima sind vergessen, die von Medien wiederholt und ausführlich beschriebenen Pannen und Sicherheitsprobleme der derzeit 56 Reaktoren in Frankreich ebenfalls. Mehr als die Hälfte sind derzeit außer Betrieb, 12 wegen Korrosionsschäden und 18 wegen Wartungsarbeiten und Inspektionen.
Auf Importe aus dem Ausland angewiesen
Die Konsequenz: Statt wie in den letzten Jahren Atomstrom zu exportieren und auf dem eigenen Markt den Konsumenten die Kilowattstunden zu regulierten Festpreisen vergleichsweise günstig verkaufen zu können, muss Frankreich jetzt Elektrizität (aus Kohlekraftwerken!) aus dem benachbarten Ausland importieren. Und auch im kommenden Winter dürfte die Kapazität der Atomkraftwerke bei der Stromproduktion lediglich bei ungefähr 55 Prozent liegen. So stellt man sich die von Macron beschworene „Souveränität“ bei der Stromversorgung nicht vor.
Vorgesehen ist freilich, dass im kommenden Jahr in Flamanville in der Normandie endlich Frankreichs erster EPR, ein Druckwasserreaktor der dritten Generation, den Betrieb aufnimmt. Eigentlich hätte dieser 1.650-Megawatt-Reaktor schon vor zehn Jahren ans Netz gehen sollen. Doch wegen Problemen, zuerst mit mangelhaftem Stahl, dann mit dem Beton und danach mit beanstandeten Schweißarbeiten, musste der Start immer wieder hinausgeschoben werden. Jetzt gibt es laut der Zeitung Libération, die sich auf interne Informationen von Ingenieuren in Flamanville beruft, zudem noch neue Sorgen mit zwei Steuerungssystemen, die es erlauben sollten, mit Sonden den Ablauf der radioaktiven Prozesse zu überwachen.
Andere nicht abschließend geklärte Probleme mit übermäßigen Vibrationen von Leitungen im Primärkreislauf des EPR wurden angeblich provisorisch mit „Stoßdämpfern“ etwas vermindert. Der Energiekonzern EDF kann nicht garantieren, dass Flamanville-3 im zweiten Halbjahr 2023 die Produktion aufnimmt. Das Einzige, was den unbeirrbaren Befürwortern der Atomenergie in Frankreich als „Lösung“ einfällt, ist eine Laufzeitverlängerung für die zum Teil schon 40 Jahre alten Anlagen. Sie sollen nach regelmäßigen Inspektionen und Wartungen mindestens 10 Jahre länger funktionieren.
Auch bis dahin hat Frankreich jedoch keine finale Lösung für den Umgang mit hochradioaktiven Rückständen. Die Wiederaufbereitungsanlage (WAA) von Orano in La Hague kann nur einen kleinen Teil für eine Wiederverwendung in (plutoniumhaltiges) Mischoxid umwandeln. Nur 10 Prozent des nuklearen Brennstoffs der Reaktoren kommen aus der WAA.
Zudem sind die Kapazitäten der Zwischenlagerung bereits weitgehend ausgeschöpft und die Einrichtungen veraltet. In einem Bericht der Aufsichtsbehörde IRSN steht, dass der 2016 noch verfügbare Platz für die verbrauchten Brennstäbe auf 7,4 Prozent der Kapazitäten geschrumpft war. Der Bau eines neuen „Pools“ für die Zwischenlagerung ist geplant, er kann aber frühestens 2034 benutzt werden.
Ohnehin muss für den großen Rest des hochaktiven Atommülls eine Lösung gefunden werden. Die französische Atomindustrie hat bisher nur einen Vorschlag: die Endlagerung unter Tage in geologisch stabilen Schichten. Den Standort dafür glaubt die nationale Agentur für die Atommüllentsorgung (Andra) in Bure, einem kleinen Dorf am Rand der Vogesen, gefunden zu haben. Ein Versuchslabor bohrt, gräbt Tunnel und macht geologische Tests, um den Aufsichtsbehörden zu beweisen, dass dort eine Endlagerung von Tausende Jahre radioaktiven Rückständen verantwortbar sei. Bisher hat die Andra allerdings noch nicht einmal eine Baubewilligung, vor 2035 oder 2040 können keine Container mit hochradioaktiven Rückständen in Bure verbuddelt werden.
Seit Jahren versucht zudem der lokale Widerstand, das Vorhaben zu stoppen. Doch der Staat will in Bure bis ins Jahr 2150 trotz aller Einwände Frankreichs gefährlichsten Atommüll 500 Meter unter der Erde vergraben – mit besten Grüßen für die kommenden Generationen und zuvor schon mit einer Rechnung für die Schaffung der unterirdischen Atommülldeponie, die bisherige Schätzungen von 50 Milliarden Euro überschreiten könnte.
An guten Gründen, sich angesichts der vielfältigen ungelösten Probleme mit der Atomenergie von heute und morgen nach dauerhaften Alternativen umzusehen, mangelt es also nicht. Dennoch setzt Frankreich mit dem Argument, dass Reaktoren den CO2-Ausstoß vermindern und die Klimaziele einer geringeren Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen erreichbar machen, weiter auf seine Atomkraftwerke.
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