Streit um geplantes Atommülllager: Wer garantiert Sicherheit?
Frankreich setzt auf Atomkraft. Doch wie und wo der Atommüll entsorgt werden kann, bleibt unklar. Das Endlager in Bure ist umstritten.
Das ist für mich ein echtes Dilemma: Eines meiner drei Kinder will den Hof übernehmen. Aber ist das wirklich eine wünschenswerte Zukunft?“ Jean-Pierre Simon ist 62 Jahre alt, sehr fit und empfängt im Stall mit seinen zwanzig Kühen. Er hat gewitzte Augen, und obwohl er ziemlich klein ist, errät man unter seiner Windjacke einen von der Arbeit muskulösen Körper. „Auch wenn der Baubeginn weiter verschoben wird, gibt es hier schon rasch Veränderungen.“ Er steht breitbeinig vor seinem Scheunentor und weist in Richtung des gegenüberliegenden Hügels: „Dort soll der Schacht entstehen, mit dem die Container mit dem Atommüll in die Tiefe gesenkt werden, und dort unten in der Senke der Hecke entlang wird eine Bahnlinie gebaut. Die Andra hat eine Lizenz dafür bekommen und den Boden gekauft.“
Simons 140-Hektar-Hof im ostfranzösischen Cirfontaines-en-Ornois grenzt unmittelbar an das Gelände von Bure, wo Frankreich in Stollen, die rund 500 Meter tief liegen, die hochradioaktiven Rückstände aus seinen Atomkraftwerken versenken will. Simon wird alles in seiner Macht Stehende tun, damit es nie so weit kommt. „Das ist so oder so nicht für morgen oder übermorgen, und vielleicht werde ich das selber nicht erleben“, meint der Landwirt Simon mit einem sarkastischen Lachen.
Von Beginn an, seit mittlerweile 25 Jahren, bekämpft er das Vorhaben der Andra, der Nationalen Agentur zur Entsorgung radioaktiver Abfälle. Sie plant, ab 2040 – und bis 2150 – einen unteririschen Friedhof für den Atommüll zu schaffen. Mit seiner langen Erfahrung und seiner Sachkenntnis gilt Jean-Pierre Simon als historische Figur des Widerstands gegen die Endlagerung in Bure.
Hinter einem Wald, aber nicht zu erblicken von Simons Hof, befindet sich seit zwanzig Jahren das Andra-Labor, das Versuchsbohrungen, Messungen und andere Tests vornimmt, um zu belegen, dass die Schichten aus Tonerde in dieser Gegend ideal wären für die Endlagerung. Diese Forschungsresultate sind wie alle Dokumente zum Andra-Projekt in Bure öffentlich zugänglich.
Informationen zum Bau sind für alle einsehbar
Für diese Transparenz, die ein Gesetz vorschreibt, ist eine eigens dazu geschaffene Informationsstelle zuständig. Sie unterhält mitten in Bure ein Büro, in der alle Unterlagen eingesehen werden können. Ihr Leiter Jean-Louis Canova empfängt gerade ein Fernsehteam des öffentlichen Senders France-5, dem er seine Rolle als Garant der Transparenz erklärt. Andere Menschen, die in diesem sehr entlegenen Dorf mit gerade mal 80 Einwohner*innen Informationen verlangen, sind nicht in Sicht. Doch niemand soll behaupten können, die Andra-Ingenieur*innen hätten etwas zu verheimlichen.
Das Forschungslabor steht außerhalb des Dorfs mitten in den Feldern. Nicht direkt sichtbar ist, wie in unterirdischen Tunneln, die durch Aufzüge in zwei Schächten erreichbar sind, schon seit Jahren an den Vorbereitungen gearbeitet wird. Um sich ein Bild zu machen, kann man in einem großzügig ausgestatteten Gebäude neben dem Andra-Labor eine Multimedia-Ausstellung besuchen, welche die Technologie der unterirdischen Lagerung in allen Aspekten und mit allen Sicherheitsvorkehrungen schildert.
Da ist zu sehen, wie eines Tages die aus dem Zwischenlager in La Hague herbeigeschafften Fässer in Röhren tief unten auf ewig beerdigt werden sollen. Das Informationsbüro organisiert seinerseits regelmäßig Info-Veranstaltungen für die Bewohner*innen der Umgebung. Und bevor im Frühjahr dieses Jahres die Regierung voraussichtlich dem Projekt Cigéo (Centre industriel de stockage géologique) das Label des „öffentlichen Nutzens“ erteilt, fand im letzten Jahr eine Anhörung statt, bei sich alle äußern konnten, auch die Skeptiker*innen und die Opposition.
Über diese unter Aufsicht der Behörden veranstaltete „Alibi-Übung“ kann man im Haus gleich gegenüber dem Informationsbüro nur bitter lachen. Hier haben junge Atomgegner*innen ihr ständiges Hauptquartier eingerichtet. „Maison de résistance à la pubelle nucléaire“, zu deutsch: Haus des Widerstands gegen den atomaren Mülleimer, steht auf einem Transparent, das die Kommune Bure zur „freien Zone“ erklärt. Drinnen herrscht ein Kommen und Gehen. Rund ein Dutzend junge Aktivist*innen sind beschäftigt, um auf der Website bureburebure.info die neuesten Informationen über den Kampf gegen Atomkraft und andere soziale Bewegungen zu publizieren. An der Wand hängen Plakate von Kundgebungen gegen Atomkraft und Polizeigewalt.
Der etwa 30-jährige Mann, der auch unangemeldeten Besuchern gern Auskunft gibt, nennt sich „Butterfly“. Seinen richtigen Namen gibt er lieber nicht an, weil die Atomgegner*innen permanent überwacht werden.
Zwei Mal schon sei das Widerstandsnest der Cigéo-Gegner*innen durchsucht worden. Anders als während der Zeit der „heißen“ Auseinandersetzungen von 2015 bis 2018, als der besetzte Wald Bois Lejuc geräumt wurde, lasse sich die direkt im Andra-Labor stationierte Einheit der Gendarmerie derzeit nicht oft blicken, sagt „Butterfly“. Die Gendarmen sollen die Einrichtungen vor militanten Gegner*innen oder anderen erdenklichen Gefahren schützen.
Aufwändige Bespitzelung
Doch von der „Repression“ ist nichts vergessen. Für einen Prozess wegen Zusammenstößen und Sachschäden bei einer gewaltsam aufgelösten Kundgebung im August 2017 wurden die Aktivist*innen und ihre Kontakte mit einem technologischen Aufwand bespitzelt und überwacht, wie dies sonst nur für die Terrorismusbekämpfung zugelassen wäre: Rund 85.000 Gespräche wurden abgehört.
Trotzdem gelang es der Staatsanwaltschaft während des Prozesses nicht, den Beweis für die „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ zu erbringen. Die Angeklagten wurden von diesem Tatbestand freigesprochen, jedoch wegen Teilnahme an einer nichtbewilligten Demonstration verurteilt. Auch der Landwirt Simon wurde zu zwei Monaten auf Bewährung verurteilt, weil er die illegal Demonstrierenden mit einem Heuwagen unterstützt hatte.
Seither haben sich die Gemüter etwas beruhigt. Der Gendarmerie-Kommandant des Departements Meuse, Oberst Mark Evans, begründet die Zurückhaltung mit der Sorge um das Image bei der Bevölkerung und sagt: „Wir sind keine Besatzungsmacht.“ Dass die Anti-Andra-Aktivist*innen außer dem Haus in Bure auch den ausrangierten Bahnhof von Luméville-en-Ornois erworben und nun als „Operationsbasis“ verwenden können, stellt für ihn eine potenzielle Bedrohung dar. „Der Konflikt dauert schon lange, und wir müssen uns auf eine lange Dauer einrichten“, sagt Oberst Mark Evans.
Der ursprünglich auf 2018 angesetzte Baubeginn von 200 Kilometern Tunnel für das unterirdische Atommülllager musste mehrfach verschoben werden. Noch ist die Erlaubnis nicht endgültig erteilt. Vor 2035 wird in Bure gar nichts gelagert werden, die Bauarbeiten könnten mehr als zwanzig Jahre in Anspruch nehmen, der Streit wird zweifellos andauern.
Auch „Butterfly“ spricht von langen Fristen. Er denkt dabei aber hauptsächlich an die Risiken einer Endlagerung von hochradioaktiven Substanzen, die nicht nur ins Grundwasser gelangen, in Brand geraten oder gar explodieren könnten, sondern die vor allem eine extrem lange Strahlenzeit haben. „Wer garantiert für die Sicherheit in 100, 1.000 oder 100.000 Jahren? Hat sich jemand ernsthaft mit der Frage beschäftigt, wie man der Nachwelt in ferner Zukunft mitteilen kann, was man ihr da als radioaktive Rückstände hinterlassen will?“ Weder die Andra noch sonst jemand ist in der Lage, solche Fragen abschließend zu beantworten.
Gesponserte Dissertation
Wie die Zeitung Le Monde berichtet, kam der Akademiker Leny Patinaux in seiner Doktorarbeit zu dem Schluss, die Andra habe „alles getan, um eine sichere Lagerung zu entwickeln und die Sicherheit zu kontrollieren“. Patinaux hat Unterlagen und Forschungsergebnisse für seine Dissertation durchgearbeitet, die übrigens von Andra finanziert wurde. Allerdings musste selbst Leny Patinaux einige rhetorische Verrenkungen machen. Er schreibt, dass letztlich „die Analyse der globalen Sicherheit mit dem Arrangement von Kenntnissen eine gewisse Bastelei darstellt, um kohärent zu erscheinen“.
Die Strahlenschutzbehörde ASN hat zusätzliche Informationen verlangt und besonders wegen gewisser radioaktiver Abfälle in brandgefährlichem Asphalt Bedenken angemeldet. Das dürfte aber die Regierung kaum davon abhalten, bereits in wenigen Wochen das Endlager zu einem Projekt von öffentlichem Nutzen zu erklären – ein wichtiger Schritt Richtung Baubeginn.
„Sobald sie diese Erklärung in der Tasche hat, kann sie die Bewilligung für die Schaffung des Bauplatzes einholen. Mit dieser Erklärung kann die Andra außerdem damit beginnen, die ihr noch fehlenden Grundstücke zu enteignen“, befürchtet Jacques Leray. Der ehemalige Sportlehrer einer Mittelschule unweit von Bure ist einer der Sprecher des Kollektivs CEDRA. Heute ist er Rentner und hat Zeit für sein Engagement gegen die Endlagerung.
„Die Andra verfügt über enorme Mittel, sie hat bereits rund 3.000 Hektar an Acker und Wald aufgekauft. Einen Teil davon verpachtet sie dann befristet an die Bauern, welche dann vom Goodwill der Andra abhängig gemacht werden“, schimpft der 70-Jährige. Auch die Bürgermeister*innen oder die lokalen Vereine, die von der Andra mit Zuschüssen „mit der finanziellen Gießkanne bedacht“ werden, wie Leray sich ausdrückt, geraten so in eine Abhängigkeit. „Viele halten darum das Maul, auch wenn sie nicht unbedingt einverstanden sind.“
Leray empfiehlt, sich die kommunale Infrastruktur anzuschauen, die auch eine Form von Beeinflussung ist. Denn die Straßen sind in einwandfreiem Zustand, Bure und die umliegenden Dörfer haben Anschluss an das Glasfasernetz, und die Straßenbeleuchtung, die sich diese Weiler sonst niemals leisten könnten, ist topmodern. Die zahlreichen Andra-Schilder und Wegweiser aber sind alle übersprayt mit Slogans wie „Weg mit der Andra!“
Auch die örtlichen Firmen, die in der Vereinigung Energic 52/55 (die Zahlen stehen für die Ziffern der beiden Départements Meuse und Haute-Marne) zusammengeschlossen sind, werden nicht vergessen. Sie haben 2020 Aufträge im Wert von fast 20 Millionen Euro und im letzten Jahr von fast 15 Millionen Euro erhalten. Der Vorsitzende von Energic 52/55, Antoine Leconte, möchte sich erkenntlich zeigen: „Wenn man sieht, was da alles in Gang gesetzt wurde, im Labor von Andra und auch seitens der Unternehmen, wäre es wirklich eine enorme Verschwendung, das Projekt nun zu stoppen. Was mich angeht, kann ich mir das jedenfalls persönlich nicht vorstellen.“
Der Leiter des Informationsbüros in Bure, Jean-Louis Canova, ist auch Mitglied des Generalrates des Départements Meuse und denkt darum auch an die wirtschaftlichen Vorteile, welche das geplante Endlager bringen kann. Für den Bau der unterirdischen Anlagen werden rund 2.000 Arbeiter*innen und Ingenieur*innen erwartet. Für Canova wirft dies Fragen auf, auf die ihm die Andra bisher keine Antworten geben konnte: Wo sollen diese hauptsächlich von außerhalb kommenden Leute wohnen? Und werden sie sich mit ihren Familien in der Umgebung niederlassen?
Auch wäre nicht auszuschließen, dass die Ankunft ausländischer Arbeiter*innen die bereits latente Fremdenfeindlichkeit fördert. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2017 hatte in Meuse die Kandidatin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, auf Anhieb 32 Prozent der Stimmen erhalten.
Wen wählen?
Von den kommenden Wahlen erwarten die meisten befragten Andra-Gegner*innen nicht viel. Wie andere Umweltschützer*innen zögert Jacques Leray noch. „Eigentlich gefällt mir Fabien Roussel von der Kommunistischen Partei ganz gut, aber da die Kommunisten seit jeher für die Atomkraft sind, kommt er für mich schlicht nicht infrage. Dann doch eher Jean-Luc Mélenchon, der sich als Einziger der Linken klar gegen die Endlagerung in Bure ausgesprochen hat.“ Im „Haus des Widerstands“ setzen „Butterfly“ und seine Mitbewohner*innen nicht auf Wahlen, sondern auf konkrete Aktionen.
Wie Irène Gunepin in Bure, die 75-Jährige ist Mitglied von Europe-Ecologie-Les Verts und kämpft seit 25 Jahren gegen das Andra-Projekt, würden manche spontan den Grünen Yannick Jadot wählen. Nur haben sie nicht vergessen und verziehen, dass es 1999 die Grüne Dominique Voynet war, die als Ministerin einer Linksregierung grünes Licht für das Andra-Labor in Bure gegeben hat. Und ein anderer Grüner, Nicolas Hulot, hatte, kaum war er in der Regierung von Emmanuel Macron, in Sachen Endlager ebenfalls im Namen der Realpolitik seine Weste gewendet.
Mit Macron und den Kandidaten der Rechten und Rechstextremisten besteht keinerlei Hoffnung auf ein Umdenken: Sie sind klar für die Atomkraft. Und wer wie Macron „Ja bitte!“ sagt zum Bau neuer Reaktoren, kommt nicht an der Zustimmung zum Endlager vorbei, denn Frankreich hat schlicht keine echte Alternative für die Entsorgung der ständig wachsenden Mengen an radioaktiven Abfällen.
Auf diesen Sachzwang setzt die Andra. Ihr Generaldirektor, Pierre-Marie Abadie, erklärt in der Hauszeitschrift zum 30-jährigen Bestehen der vom staatlichen Atomenergiekommissariat geschaffenen Agentur: „Wir stehen an einer Kreuzung zwischen Wissenschaft und Gesellschaftsdebatte. Die Debatte über Cigéo ist mit derjenigen über die Zukunft der Atomkraft verknüpft.
Aber ob wir nun weitermachen mit dieser Form der Stromproduktion oder nicht, die Mehrheit der radioaktiven Abfälle existiert bereits, und das erfordert, dass wir uns darum kümmern. Was immer wir sonst beschließen.“ Präsident Macron erwähnte in seiner Ansprache am 10. Februar, bei der er ohne jegliche Debatte sechs neue Reaktoren vom Typ EPR2 in Auftrag gegeben und weitere acht als voraussichtlich notwendig erachtet hat, die Endlagerung mit keinem Wort. Sie steht für ihn wahrscheinlich nicht mehr zur Debatte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt