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Artenvielfalt in KlimakriseBiodiversität mitdenken

Gastkommentar von Ulrike Fokken

Die Ökosystemkrise muss ins Bewusstsein der Bevölkerung gelangen. Das bedeutet für die Ampel-Koalition, den Fortschritt neu zu definieren.

Zwei Schachbrettfalter Foto: Panthermedia/imago

Z u gern wüsste man, ob sich die Koalitionäre was Schlaues ausdenken und Deutschland fit für den Klimawandel machen. Also nicht nur die erneuerbaren Energien ausbauen, wie es die Koalitionsverhandelnden haben durchblicken lassen, denn das reicht ja nicht aus. Herrgott noch mal, das wussten wir ja auch alle schon vor der Wahl, als der eine „Klimakanzler“ werden wollte und die andere eine „Klimaregierung“ versprach.

Doch in den Koalitionsverhandlungen beklagen sich die Grünen, dass Klima eben nicht „Chefsache“ sein wird, sondern sie SPD und FDP jedes bisschen Klimaschutz abverhandeln müssen, als sei der Klimawandel ein linksalternatives Projekt. Zwei Prozent des Landes soll mit Windenergieanlagen bebaut werden, von denen niemand sagen kann, wo diese rund 10.000 Quadratkilometer Landesfläche eigentlich herkommen sollen.

Die Ankündigung ist weder innovativ noch überraschend, denn nach beschlossenem Atom- und Kohleausstieg lag der Umbau des Energiesystems in der Luft. Wir wissen also noch nicht, ob die zukünftigen Koalitionäre das offenkundig nicht mehr gut funktionierende Gesundheitssystem reformieren und für Heißzeiten und Pandemien wappnen. Ob sie das Verkehrssystem so umbauen, dass Elektroautos selbst in der Gegend herumfahren und Menschen dort einsammeln, wo sie sind.

Ob sie also die Mobilität der Gesellschaft fördern und nicht den privaten Besitz PS-starker und teurer E-Autos. Ob sie Schulen und Hochschulen ausbauen, an denen junge Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten und allen finanziellen Hintergründen Wissen erwerben und mehren, mit dem sie sich an den Klimawandel anpassen können. Ach, die Liste all der systemrelevanten Felder ist lang, die die zukünftige Koalition klimawandeltauglich reformieren muss.

Bild: Karin Hirl
Ulrike Fokken

ist „Boomer for Nature“ und schreibt über Natur, Umweltpolitik, Wirt­schaft und Wildnis. Um die Ökosysteme zu verstehen, geht sie Spuren- und Fährtenlesen. Zusammen mit Stefanie Argow hat sie das Buch „Spuren lesen“ geschrieben, das 2020 im Quadriga Verlag erschien.

Verhandlungen ohne Natur

Und sie muss die Klimapolitik mit dem noch viel größeren, lebenswichtigen, allumfassenden Thema verbinden, über das niemand spricht: mit dem Erhalt der biologischen Vielfalt. Auf die Biodiversitätskrise hat die Ampel keine Antworten. Sie beschäftigt sich gar nicht erst mit Natur und Ökosystemen, und dass diese unfassbare Realitätsverleugnung durch die Poren der Verhandlungsräume nach außen sickerte, zeugt von dem Maß des Entsetzens einiger Verhandler, die sie nun öffentlich machten.

SPD und FDP begreifen kaum die Dimension des Klimawandels und der politischen Entscheidungen, die sie mit den Grünen fällen müssen. Die Krise der Ökosysteme sprengt die Vorstellungskraft aller drei Parteien. Beim Thema Natur geht es nicht mehr um den Schutz einer Orchideenwiese oder den Erhalt von 40 Quadratmeter Feuchtbiotop am Rande eines Gewerbegebiets, sondern es geht darum, eine politische Antwort auf den drohenden Zusammenbruch von Ökosystemen zu finden.

Ökosysteme wie ein Wald oder ein Fluss sorgen für Trinkwasser und kühlende Luft, sie filtern Feinstaub, verarbeiten bis zu einem bestimmten Maß Chemikalien und anderen Dreck der menschlichen Lebensweise, beherbergen bestäubende Insekten, Pilze, Kleinstlebewesen, die die Bäume, Tiere, kurzum die Natur am Laufen halten. Ökosysteme versorgen uns mit den Ökosystemdienstleistungen, ohne die uns auch Elektroautos und grüner Strom nicht durch den Klimawandel helfen.

Vielleicht bilden sich die Koalitionäre, die Beamten und die politischen Technokraten rund um die nächste Bundesregierung noch allesamt ein, dass Technik ausreicht, um die Klimakrise abzuwenden oder uns an die Erderwärmung anzupassen. Technik hilft nicht, um die Krise der biologischen Vielfalt zu mindern. Im Gegenteil.

Ökosysteme wie ein natürlicher Wald mit lebenden, alten und toten Bäumen, ein frei fließender Fluss mit umspülten Ufern und Auen, ein Moor oder eine Magerwiese arbeiten dann am besten, wenn der Mensch sich raushält. Raushalten bedeutet aber auch: keine industrielle Nutzung, kein Infrastrukturprojekt. Deutschland ist ein Industrieland. Daraus bezogen dieses Land und der Großteil seiner Bewohner jahrzehntelang Wohlstand und Selbstverständnis. Aber Deutschland hat es übertrieben mit der Naturzerstörung.

Kein Recht auf Einfamilien-Neubau

So sind viele Flüsse so stark umgebaut, dass mittlerweile die Flusssohlen ins Grundwasser durchbrechen können. Das seit 40 Jahren sinkende Grundwasser würde dann in manchen Regionen von ungefiltertem Wasser verschmutzt. In funktionierenden Fluss-Ökosystemen reinigt das Sediment der Flusssohle das Wasser, bevor es in das Grundwasser strömt. Dieser natürliche Prozess kann nicht technisch nachgebaut werden.

Weltklimarat und der Weltbiodiversitätsrat IPBES appellieren, Klimakrise und Biodiversitätskrise zusammenzudenken. Dazu gehört, keine Windenergieanlagen in Naturschutzgebieten oder in Wäldern aufzustellen. Es bedeutet, keine weiteren Autobahnen zu bauen und auch die Bestehenden nicht zu verbreitern.

Erderwärmung und Artensterben zusammenzudenken bedeutet, den Menschen zu sagen, dass niemand ein Anrecht auf ein neu gebautes Eigenheim auf einer ehemaligen Wiese hat, dass Parkplätze zu Parks werden, Äcker einen 20 Meter breiten Strauchstreifen bekommen, keine weiteren Logistikzentren, keine Einkaufzentren, keine Wassersporthäfen gebaut werden.

Nicht die Eigenheimzulage bringt Wohlstand, nicht die E-Auto-Prämie fördert die ökologische Verkehrswende, nicht der Bau von Batteriefabriken in Wasserschutzgebieten steigert unsere Fähigkeit, uns an den Klimawandel anzupassen. Schon dieser Text zeigt, wie schwierig es ist, eine positive, bejahende Vision für die Biodiversitätskrise zu formulieren. Alles muss anders werden, damit es gut wird.

Die Ökosystemkrise zwingt zu alternativlosem Handeln, sie zwingt zu einem „Systemwechsel“, wie die Wissenschaftler des Weltbiodiversitätsrats sagen. Die Ökosystemkrise ins Bewusstsein zu lassen, bedeutet für die über eine Koalition Verhandelnden, den Fortschritt neu zu definieren.

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2 Kommentare

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  • Dieser Beitrag spricht mir absolut aus der Seele: Mittlerweile hat sich die Naturschutz- und Umweltbewegung extrem gespalten in die Klimaschützer, die nur Windkraftanlagen aufstellen wollen, und die wenigen Naturfreaks, die gar nichts gegen Windkraft haben, aber eben ein mindestens gleichberechtigtes Interesse am Schutz der Natur einfordern. Der Biodiveritäts- und Artenschutz scheint für viele einfach nicht sexy zu sein; wie soll man denn eine Liebe zu Dingen entwickeln, die man nicht kennt. Die Voraussetzung wäre, dass gegen den allgemeinen Trend zu mehr Zeit mit digitalen Medien aller Art, mehr Eventkultur und weniger Aufmerksamkeit auf Dinge, die "einfach so da" sind endlich einmal eine Trendumkehr zu Qualität statt Quantität erfolgen würde. Für mich ist die höchste Lebensqualität damit verbunden, draußen in nicht entwickelter Landschaft (lieber Sandwege als asphaltierte E-Bike- Rennstrecken) Tiere und pflanzen zu beobachten. In meinem Bekanntenkreis gelte ich deshalb als liebenswerter Freak, den man kaum mal auf eine Party locken kann. Mir tut es sehr leid, dass es nicht viel mehr Menschen gibt, die es als Glück ansehen, vor der Haustür etwas zu haben, was man beobachten, einordnen, verstehen und sich darüber einfach nur freuen kann, wie ein kleines Kind über die Weihnachtsbescherung. Wenn das schon kaum jemand kann oder will, würde ich wenigsten hoffen, dass man endlich die Bedeutung der Biodiversität für unser eigenes Leben und Überleben auf diesem Planeten versteht. Ulrike Fokken leistet dazu einen sehr entscheidenden Beitrag - mit den tollen Artikeln, die sie gegen den Trend schreibt und mit dem tollen Buchprojekt (Spuren lesen).

  • "Die Ökosystemkrise muss ins Bewusstsein der Bevölkerung gelangen."

    Wie wäre es, wenn erst enmal die Ampel die Krise realisieren würde?