Armin Nassehi über Konservative: „Dieses Eifernde gehört nicht dazu“
Die Union hat die Wahlen in Bayern und Hessen gewonnen. Warum sie trotzdem in der Krise steckt, erklärt der Soziologe Armin Nassehi.
wochentaz: Herr Nassehi, reden wir über die Krise der konservativen Parteien. Die CSU in Bayern hat massiv Stimmen an die AfD abgegeben, die CDU in Hessen setzte auf Abgrenzung zu dieser Partei und gewann stark hinzu. Wie erklären Sie sich diese unterschiedlichen Ergebnisse?
Armin Nassehi: Es ist auffällig, dass es in der Bundesrepublik noch eine Mitte-rechts-Partei gibt – in Italien erinnert sich fast niemand mehr an die Democrazia Christiana, in Frankreich vielleicht noch an die Konservativen Nicolas Sarkozys. Sie sind faktisch nicht mehr am Leben – in Italien regiert eine erstaunlich gemäßigt agierende Postfaschistin wie Giorgia Meloni, in Frankreich ist Marine Le Pen auf dem Weg, zur Präsidentin gewählt werden zu können. Deutschland mit der Union ist die Ausnahme – noch.
Die CSU eiferte rhetorisch den Rechtspopulisten nach, die CDU in Hessen nicht.
Man kann, darauf hat der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher hingewiesen, ein Muster erkennen. Wo die Mitte-rechts-Parteien denken, die eindeutig rechten Parteien rechts überholen zu sollen, verlieren sie. Offenbar stellt die Union in Deutschland das nicht in Rechnung. Sie wird getäuscht von den eigenen Wahlergebnissen und sieht nicht, dass die rechten die unzufriedenen Nichtwähler abgreifen.
Der Mensch
Der Soziologe ist in Tübingen, Gelsenkirchen, München, Landshut und Teheran aufgewachsen. Neben der Soziologie studierte er Erziehungswissenschaften und Philosophie.
Der Wissenschaftler
Seit 1998 hat er den Lehrstuhl für Soziologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Schwerpunkte: Kultursoziologie, Politische Soziologie.
Der Autor
Nassehi ist seit 2012 einer der Herausgeber der Zeitschrift „Kursbuch“ und Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien von ihm bei C.H. Beck „Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede“
Friedrich Merz hat dies offenbar nicht auf dem Zettel – etwa mit Bemerkungen zu „Kleinen Paschas“ nach der Silvesternacht in Berlin-Neukölln oder aktuell mit der Äußerung zu Zahnersatzleistungen für Flüchtlinge.
Es ließen sich viele Dinge über die Person Friedrich Merz' erklären, der scheint manchmal seine Impulskontrolle nicht im Griff zu haben. Dabei würde eine konservative Perspektive auf die Aufregerthemen diese mit einem Kontinuitätsversprechen versehen. Wo das fehlt, gibt es ein Problem.
Warum?
Weil eine Demokratie wie die unsere die Perspektive einer Mitte-rechts-Partei braucht. Sie hatte einmal die Fähigkeit, die Unzufriedenheit mit dem sozialen Wandel, die Furcht vor schneller Veränderung, aber auch die Herausforderung von Pluralität nicht nur abzumildern, sondern auch zu moderieren. Das darf man nicht unterschätzen. Vielleicht haben dabei die Konservativen die viel dramatischeren Lernprozesse gemacht.
Selbst klügere Linke wünschen sich die Union am Leben, eine, die stärker als die AfD bleibt.
Lob von der falschen Seite ist immer auch vergiftet. Linke schätzten auch Angela Merkel – mehr als diese manchmal von ihren Leuten geliebt oder anerkannt wurde. Mein Blick auf die CDU rührt aus einer Erfahrung, die ich ein Jahr lang als Fellow der Konrad-Adenauer-Stiftung gewinnen konnte. Es erstaunte mich nicht, vielleicht viele andere, die nicht der Union zuneigen, aber dort habe ich sehr viele interessante und kluge Leute kennengelernt, die ernsthaft üner die Funktion und Bedeutung eines modernen Konservatismus nachgedacht haben. Ich habe dort viel gelernt.
Was war es, beispielsweise?
Es hat mir geholfen, über das nachzudenken, was ich das konservative Bezugsproblem nenne. Das Konservative kann sich heute nicht mehr ungebrochen über Regionalität, Konfessionalität oder eine Sexualmoral definieren. Das Problem liegt woanders.
Wo?
Dass Lebensformen ohne permanente Thematisierung, Begründung und Reflexion funktionieren. Das praktische Problem besteht dann aber darin, dass man darüber dann flankierend räsonnieren muss.
Ein Beispiel?
Am Beispiel von Homosexualität kann man es deutlich zeigen. Kultureller Wandel ermöglicht pluralere Sexualitäten, Konservative können das integrieren, brauchen aber keine permanente Begründung dafür, sondern arrangieren sich damit und erkennen es dadurch an. Linke und Linksliberale wählen eher die explizite und begründende Anerkennung.
Es gibt sehr viele schwule oder lesbische Parteimitglieder, auch viele mit nichtweißer Hautfarbe.
Ja, und das dürfte auch mit dieser Praxis zu tun haben, all dies weniger explizit zu thematisieren, zumindest mit einer zurückhaltenden Rhetorik.
Weshalb schafft es die Union nicht, zu einer Sprechfähigkeit zu den großen Fragen zu kommen – etwa bei der sogenannten Identitätspolitik?
Der in Mainz lehrende Historiker Andreas Rödder ist wirklich konservativ, wogegen nichts zu sagen ist. Er hatte, zumal in der Kommission für ein Zukunftsprogramm der Union, ein paar gute Ideen – wie man seine Partei intellektuell öffnen könnte. Ich würde diesen Programmentwürfen nicht in allem zustimmen, aber es ist diskutabel.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Rödder aber verlegte sich darauf zu behaupten, dass postkoloniale Theorien, sogenannte Wokeness überhaupt Staatsdoktrin geworden seien.
Und das ist blanker Unsinn – ich sehe darin auch ein Zeichen dafür, wie schwer man sich auf konservativer Seite mit expliziten Programmen tut. Vieles an jener sogenannten woken Bewegung und ihrer akademischen Verbrämung ist mehr als gewöhnungsbedürftig, es aber gewissermaßen zum Zentrum aller Probleme aufzublasen, ist ein naives Ausweichmanöver.
Verblüffend, dass die Union überhaupt Zukunftsprogramme braucht, oder?
Hier sind wir im Zentrum dessen, was das Konservative von anderen Formen unterscheidet, von linken wie von rechten. Die Union brauchte früher nie eine explizite Programmatik, sie war als Regierungspartei, als die sie sich verstand, die pure Inklusion. Es ist ja gerade das Besondere des Konservativen, auf Begründungsprobleme verzichten zu wollen, um mit Kontinuitätsunterstellungen arbeiten zu können. Die Konservativen müssen nach ihrem Selbstverständnis nichts gegen irgend jemanden durchsetzen, weil sie quasi die Kontinuität der Welt verkörpern.
Bitte erläutern Sie!
Linke haben immer einen konkreten Gegner, nämlich die, die nichts begründen. Deshalb müssen sie alles zu begründen versuchen. Die Linke denkt ja immer von sich selbst, dass sie eigentlich opponieren muss, selbst in der Regierung, obwohl vieles längst Allgemeingut ist. Konservative, besser: Mitte-rechts-Parteien können deshalb leichter mit abweichenden Meinungen in den eigenen Reihen umgehen, schon weil die Linie nicht so eng begründet ist – anders als bei Linken, die immer alles begründen, weil sie etwas wollen, was noch nicht da ist, und deshalb Abweichungen schwer ertragen. Wohlgemerkt, wir reden hier verkürzend idealtypisch.
Und Söder und sein populistischer Wahlkampf?
Der geht in die Bierzelte und opponiert gegen Themen, die es gar nicht gibt. Er erfindet eine Oppositionshaltung, die keinen Anschluss an die Wirklichkeit hat. Er sagte, wir sind gegen Fleischverbote und gegen das Gendern. Kein Mensch hat Verbote gefordert und war für gendersprachliche Pflichten. Es ist auch eine Denkfaulheit, eigene Konzepte positiv zu bestimmen.
Seine Partei stagnierte, so sagt es das Wahlergebnis. Friedrich Merz kaprizierte sich sogar auf die Grünen als Hauptgegner.
Eine große Ehre für die Grünen, einerseits. Andererseits ist es ein Zeichen, wie bedrohlich der Veränderungsdruck gerade für eine konservative Partei sein muss. Wenn die Diagnose stimmt, dass das konservative Bezugsproblem vor expliziten Begründungen zurückweicht, dann ist Transformationsdruck natürlich das Schlimmste. Es muss dann schlicht alles auf den Prüfstand, die Fragilität der funktionierenden Praxis wird sichtbar. Und die Grünen sind dafür das sichtbare Symbol. Und das hat gar nichts mit grüner Politik zu tun oder ihrer Bewertung, aber „Grün“ markiert diese Herausforderung. Der Union reichte jahrzehntelang, dass eine gut funktionierende Gesellschaft eine ist, bei der die Leute einigermaßen gut versorgt sind, man miteinander auskommt und sich nicht dauernd nervt.
Ein, so sagen manche, gesellschaftliches „Wir“?
Da bin ich skeptisch. Dieses „Wir“ ist immer zu streng formuliert, das ging zu oft auf Kosten von Minderheiten. Wir brauchen eine Form von Indifferenz. Sich gegenseitig in Ruhe lassen zu können, das wäre eine zivilisatorische Errungenschaft, ob es ums Geschlecht, um Sexualität, um Ethnizität, um Hautfarbe geht. Konservative klassischer Prägung wissen das gut.
Was wissen die heutigen Konservative nicht mehr?
Dass von Wärmepumpen die Welt nicht untergeht – ich war gerade in Kanada und habe sie dort zuhauf gesehen. Und dass eine Mitte-rechts-Partei moderieren muss, zuspitzen bestimmt auch, aber sich nicht den Sprechformen etwa der AfD anschließt, niemals.
Also Ruhe und Ordnung bewahren?
Zur Bürgerlichkeit gehört jedenfalls nicht dieses Eifernde. Zu ihr gehört, wie gesagt, das Privileg, in Ruhe gelassen zu werden. Vielleicht ist ein Pluralismus, der nicht permanent kommunikativ eingeholt und begleitet werden muss, viel attraktiver.
Das Bewahrende, also das zu Konservierende, gibt es das überhaupt noch in Zeiten der Klimakrise?
Das ist das Dilemma: Zum einen ist der Veränderungsdruck hoch, zum anderen erzeugt gerade das permanente Begründungsprobleme und macht die Fragilität aller Verhältnisse sichtbar, und schließlich erzeugt gerade das ein Bedürfnis nach Bewahrung, nach Lösung des konservativen Bezugsproblems, das am besten auf Unsichtbarkeit und wenig Begründbarkeit setzt. Das macht es schwierig. Aber in manchen Milieus, womöglich in eher konservativen, gibt es in sich stabile Lebensformen, die damit vielleicht resilienter umgehen können, wenn ein bewahrender, ein routinierter, ein gewohnter Alltag bleibt.
Wobei es einen ökonomischen Rahmen braucht, um sich die Ruhe leisten zu können.
Die ökonomischen Folgen für Privathaushalte verdienen ohnehin viel mehr Beachtung. All das wären die Themen, an die Konservative ansetzen könnten, statt sich in einen Kulturkampf zu begeben. Der soziale Rahmen muss stimmen, gerade für Zukunftsperspektiven.
Und die Grünen?
Na ja, einerseits stehen die Grünen für die Drastik des Veränderungsdrucks, andererseits gilt auch für einen großen Teil der eigenen Klientel, dass sie konservativ funktioniert, man hat langfristige Kredite, Berufe, in denen man Karriere machen will, sie haben Kinder. Das verschärft die Differenz zwischen verbalen Bekenntnissen und alltagsrelevanter Umsetzbarkeit.
Auch ein, wie Sie es nennen, konservatives Bezugsproblem?
Das ist nur die soziologische Perspektive auf das, was die Union eigentlich seit ihrer Gründung Ende der vierziger Jahre weiß: Menschen haben Schwächen, sie sind nicht geradlinig, es folgt nicht alles dem Plan guter Gründe. Das wissen inzwischen auch die Grünen. Von jetzt auf gleich alles ändern wollen – das klappt nicht. Humorig und in eigener Sache gesagt: Ich bin für mein Gewicht zu klein, und ich habe jedes Wissen, wie man dieses Verhältnis ändert, was im Alltag wiederum nicht gelingt.
Reden wir über Gillamoos, über Kreuzberg: CDU-Parteichef Friedrich Merz glaubt, nur der bayerische Rummel in Bierzelten sei Deutschland. Das hätte Angela Merkel nie gesagt, auch Helmut Kohl nicht.
Ein souveräner Konservativer hätte gesagt: Gillamoos und Kreuzberg sind sehr unterschiedlich, aber es stellen sich sehr ähnliche Fragen: wie in eine volatile Welt Kontinuität eingebaut werden kann und wie man mit den Problemmilieus, die in beiden Orten vorkommen, angemessen umgeht. So könnte übrigens Unterschiedlichkeit auf eine gemeinsame Basis gestellt werden. Aber Merz ging es um das Gegenteil.
Und weshalb macht der CDU-Chef das?
Weil er ganz offensichtlich kein Konzept für einen modernen Konservatismus hat. Er wollte wohl die Furcht vor dem Unbekannten bedienen. Vielleicht muss man wirklich ernster nehmen, dass die Herausforderung unserer Zeit die Frage der Kontinuität ist, der Herstellung von kalkulierbaren Lebenswelten. Das wäre die Hauptaufgabe von Konservativen, nicht Kulturkampfsimulation. Der Soziologe Max Weber hat einmal von „dumpfer Gewohnheit“ gesprochen. Das Alltagsleben ist von Kontinuität, von Wiederholung, von Trägheit, von Routinen geprägt, und das erzeugt auch Zufriedenheit. Er lebt davon, dass wir nicht alles permanent befragen, dass wir uns an unsere Stereotype gewöhnen. In den räsonnierenden Klassen …
… wie der der Medien …
… wird sogar das Hinterfragen zu einer Routine, die oft genug folgenlos bleibt. Sicherheit ist eine Funktion von Erwartbarkeit.
Diese Sicherheiten scheint die hessische CDU zu verkörpern.
Ohne sich rhetorisch an die AfD anzulehnen oder deren Sprechweisen zu kopieren, so geht das Konservative. Der Zufluss zur AfD dort kam zu gleichen Teilen aus der CDU wie aus SPD und Grünen – anders als in Bayern. Konservativen würde ich immer gerne zurufen, dass das größte Wählerpotenzial der AfD die Nichtwähler sind, fast 80.000 in Hessen, 130.000 in Bayern. Die wechseln gewissermaßen von der Indifferenz zu den Rechtsradikalen, ein Zeichen für wachsende Unsicherheit.
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