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Anklage nach Tod eines ObdachlosenDer einsame Tod von Martin H.

Ein 17-Jähriger attackiert einen Obdachlosen. Wenig später stirbt der Mann. Die Rechtsmedizin sieht einen Zusammenhang zwischen Tat und Tod.

Hier wird an Martin H. erinnert. Er ist einer von vielen Wohnungslosen, die Gewaltverbrechen zum Opfer fallen Foto: Patrick Guyton

Spätabends am 6. Mai 2024, es war ein Montag, wurde der Obdachlose Martin H. am Bahnhof von Immenstadt im Allgäu von einem 17-Jährigen attackiert. Auf einer Bank an einem kleinen Platz hatte H. seinen Stammplatz, er übernachtete auch meist in Bahnhofsnähe. Der 53-Jährige ging zur Polizei, erzählte von der Gewalttat und beschrieb den 17-Jährigen sehr genau.

Martin H. lehnte die Untersuchung und Behandlung durch einen Notarzt ab, die Polizei bestand nicht darauf. Er ging in den Eingangsbereich einer Bank, um dort zu schlafen. Am nächsten Tag wurde er dort tot gefunden, laut einer Obduktion war er an Hirnblutungen gestorben. Die Bestürzung war nicht nur in Immenstadt mit seinen knapp 15.000 Einwohnern groß, der Fall gelangte bundesweit in die Medien. Doch war der Angriff des 17-Jährigen, der H. zu Boden stürzen ließ, die Ursache für seinen Tod ein paar Stunden später?

Das war lange nicht klar. Nun, nach fünf Monaten, liegt die rechtsmedizinische Stellungnahme der Ludwig-Maximi­lians-­Universität (LMU) München vor. Sie belegt, dass die Gewalttat zum Tod des Obdachlosen geführt hat. Demnach erlitt H., so berichtet die Staatsanwaltschaft Kempten, ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und ein „raumforderndes Sub­dural­häma­tom“, also eine Hirnblutung, weil er niedergeschlagen worden und sein Kopf auf den Boden geprallt war. Die Staatsanwaltschaft wird daher Anklage erheben. Sie sieht laut einem Sprecher einen „Kausalzusammenhang“ zwischen den Schlägen, dem Sturz und dem Tod. Bei der Tat waren drei Begleiter des mutmaßlichen Schlägers mit dabei, sie sind Zeugen.

„In der Wohnung kann ich nicht denken.“

Den 17-jährigen Tatverdächtigen – er ist weiterhin nicht volljährig – fasste die Polizei schnell. Er ist ihr nicht unbekannt, wird er doch als Intensivtäter geführt. Laut der Staatsanwaltschaft war schon wegen Körperverletzung, Einbrüchen und Bedrohung gegen ihn ermittelt worden.

Der Obdachlose Martin H. war erst im Februar in seinen Heimatort Immenstadt zurückgekehrt. Zuvor hatte er in Berlin gelebt, in einer selbst gezimmerten Behausung auf einer Verkehrsinsel in Kreuzberg, Mehringdamm Ecke Yorckstraße, umgeben vom brandenden Autolärm. Sehen konnte man ihn auch in der RTL-Doku „Ein Leben auf der Straße“ aus dem Jahr 2021, wo er als „Deutschlands beliebtester Obdachloser“ ausgerufen wurde.

Gezeigt wird darin ein Mann mit Strubbelbart, der gut gelaunt jeden grüßt und mit jedem quatscht, meist mit Bierflasche und Kippe in den Händen. Er nennt sein Domizil einen „Freistaat“ und meint: „Ich brauche Platz, in der Wohnung kann ich nicht denken.“

Keine heile Welt

Die Gewalt gegen Obdachlose nimmt in Deutschland zu. Menschen, die auf der Straße leben, werden bedroht, geschlagen, manchmal angezündet – in München etwa war im vergangenen November ein 78-Jähriger im Englischen Garten verbrannt. Laut Bundesinnenministerium ist die Gewaltkriminalität gegen Wohnungs- und Obdachlose von 2018 bis 2023 um 37 Prozent gestiegen. Die Gründe für die Attentate – etwa Hasskriminalität oder Nazi­ge­sin­nung – werden in der Statistik nicht erfasst. Von 2022 bis 2024 ist die Zahl der in Einrichtungen untergebrachten Wohnungslosen zudem in die Höhe geschnellt: von 178.000 auf 439.500 Menschen. Schätzungsweise 50.000 Personen leben komplett auf der Straße.

In Immenstadt kannten noch einige Martin H. aus der Vergangenheit. Er war Fliesenlegermeister und beruflich erfolgreich. Er hat weiterhin viel Familie, die sich aber nicht zu seinem Fall äußert. Zurückgekehrt war er, um Kontakt zu seinem Sohn aufzunehmen. Herbert Gruber, Vorstand des Fußballvereins Immenstadt 07, kannte Martin H. noch aus der Jugend. „Er war ein extrem guter Fußballspieler“, sagte er im Gespräch mit der taz. Handwerklich sei er sehr begabt gewesen – „und fleißig, immer mit dabei“. Über die Tat meinte er: „Man denkt, man lebt in einer heilen Welt.“

In aller Stille

Das könnte man in der Tat denken, wenn man durch das schmucke Städtchen geht. Es kommen viele Touristen hierher, und drumherum steigen die Berge des Allgäus auf. Doch allein in Immenstadt hat das Polizeipräsidium Kempten zwölf Intensivtäter im System regis­triert. Laut Polizeisprecher Holger Stabik sind sie alle – ob freiwillig oder nicht – in einem Programm, in dem der Kontakt zur Jugendhilfe hergestellt und ihnen „ins Gewissen geredet“ wird. Man zeige: „Wir haben dich auf dem Schirm.“ Kriminelle Karrieren sollen so unterbrochen werden.

Der 17-Jährige Tatverdächtige sitzt weiterhin in U-Haft. Er wird von einem Anwalt vertreten und macht keine Angaben zur Tat. Martin H. ist am 22. Mai in Sonthofen beerdigt worden, neun Kilometer von Immenstadt entfernt, wo auch andere Familienmitglieder bestattet sind. Die Trauerfeier fand in aller Stille statt.

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11 Kommentare

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  • Danke das sie keine rechten Narrative bedienen und die Herkunft des Täters nicht erwähnen. Einfach ein Mann, ein junger Mann.



    Auch die steigende Zahl der Wohnungslosen steht in keinem Zusammenhang mit der gestiegenen Nachfrage nach Sozialwohnungen wie immer behauptet wird.

    • @Shan Yun:

      Können Sie das belegen mit einer Studie oder ähnlichen?



      Die Lebensumstände dürften bei Menschen die nicht lange in Deutschland wohnen prekärer sein wie bei den in Deutschland länger wohnenden Durchschnitt.



      Das die Herkunft nicht erwähnt wird finde ich gut... Nur tue ich mir schwer mit ihrer Aussage. Menschen kann man nur helfen, beziehungsweise wissen das keine extra Hilfe notwendig ist, wenn es bekannt ist..

  • Das Probem sind doch nicht die Opfer, sondern die Täter. Wer war denn der 17-jährige Täter? Warum hat er diese Tat begangen, wer sind die anderen Täter, was haben sie gemeinsam, wo muss man ansetzen um derartige Verbrechen zu verhindern? Der Artikel beschreibt das Opfer und die Tat a, das ist aber eigentlich nicht die richtige Perspektive.

  • Einen Obdachlosen anzugreifen ist moralisch, sozial und menschlich unterste Schublade. Daß die Gewalt gegen Obdachlose sogar zunimmt ist ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft. Wer auf die tritt, die ohnehin schon ganz unten angekommen sind, gehört hart bestraft, denn Worte reichen hier wohl nicht mehr - traurig.

  • RIP, Martin.

    Was ich nicht verstanden habe



    "Die Gründe für die Attentate – etwa Hasskriminalität oder Nazi­ge­sin­nung – werden in der Statistik nicht erfasst."

    Hatte der hier beschriebene Intensivstraftäter denn eine solche Gesinnung? Sind in diesem Fall doch Details bekannt?

  • Es tut mir leid um Martin H.. Wir müssten so viel mehr Menschen schützen und beschützen, so viel mehr Menschen müssen behütet werden.

    Ich würde im folgenden Satz gerne einen Kraftausdruck verwenden, den zu verwenden ich unterlasse; es macht mich fassungslos und traurig, dass wir für nichts Sinnvolles und Wichtiges mehr Geld haben. Wie konnte es so weit kommen, in unserem angeblich/einst reichen Land, in dem wir gut und gerne leben.

    • @*Sabine*:

      Vielleicht ist eine Antwort, das bei aktuem Wohnungsmangel (warum genau Martin H. auf der Straße lebte, ist unklar) die Schuldenbremse für Wohnungsbau lockern müssen. Sozialwohnungen müssen her, viele!

      Auf der Straße zu übernachten ist immer mit Schutzlosigkeit verbunden!

      Auch der 17 jährige braucht Fürsorge, offenbar stimmt etwas nicht mit ihm. Wer derart brutal Menschen verprügelt, zusammentritt, in dem Alter, hat große Defizite.

      • @menschbin:

        "Auf der Straße zu übernachten ist immer mit Schutzlosigkeit verbunden!"



        Inwieweit ein Obdach grade für Frauen und Kinder eher weniger safe ist als der Stadtpark o.ä. sei mal dahingestellt; ein Anfang wäre z.B. auch gemacht, indem mensch wohnungs- und obdachlose Mitbürger*innen als Teil der Gesellschaft repek- und akzeptiert und z.B. in seinem Kiez neugescheite Sitzgelegenheiten aktiv bekämpft, die so gebaut sind, daß keine*r drauf liegen kann.

    • @*Sabine*:

      Ich schließe mich an.

      Möchte allerdings zu denken geben, dass dieser Jugendliche ein Leben auf dem Gewissen hat und sein eigenes allerdings auch zerstört hat.

      Schwach ist meine Hoffnung, dass ihm dies in der Haft klar wird oder klar gemacht wird.

      Die Zustände in den JVA werden das wohl kaum möglich machen.

      • @Jim Hawkins:

        Wenn der Täter vorher bereits als Intensivtäter geführt wurde, schleppt der Junge vermutlich eine ganze Menge auch psychischer Probleme mit sich herum.

        Sein Leben war daher vermutlich schon vorher kaputt und für Körperverletzung mit Todesfolge bekommt man als Jugendlicher laut Google 3 - 10 Jahre.



        Da kommt man im Wiederholungsfall ab 18 auch mit anderen Verbrechen schnell hin.

        Ich bin zugegebenermaßen nur sehr begrenzt bereit, das Schicksal des Täters über ein "Scheiße gelaufen" hinaus quasiromantisch zu dramatisieren.

        Wenn man ihm helfen würde, wäre das aber in jedem Fall hilfreich - auch für uns übrigens, denn dieser gewaltbereite Kleinkriminelle (sorry) könnte ja nach einigen Jahren wieder unter uns sein und dann womöglich unsere Terrassentür aufbrechen.

        Ich glaube da aber auch nicht dran.

    • @*Sabine*:

      Für mich, selbstverständlich bin ich dadurch nicht besser, ist es noch schlimmer. Wenn man sich nämlich die Gesellschaft, wie sie aufgebaut ist und wodurch sie funktioniert und was sie bestimmt, u.a. Art und Weise des Wirtschaftens, aufstrippt, dann merkt man m.E., wie wir zugunsten von Wenigen allein gelassen und schlecht organisiert werden. Es fehlt zB an Sozialpädagogen und Psychologen, sowie den Anreizen, sich im Idealfall früh für u.a. diese Berufe zu entscheiden und zu rüsten. .. Kinder und Jugendliche benötigen positive Erfahrungen und Betreuung, nicht nur aus der Familie.